Sich von Gott führen lassen (Mit Gott wandeln I)

Predigt am 12. Juni 2005 mit Johannes 10,2-5.11

Jesus sprach: 2 Der aber zur Tür hineingeht, der ist der Hirte der Schafe. 3 Dem macht der Türhüter auf, und die Schafe hören seine und er ruft seine Schafe mit Namen und führt sie hinaus. Und wenn er alle seine Schafe hinausgelassen hat, geht er vor her, und die Schafe folgen ihm nach; denn sie kennen seine 5 Einem Fremden aber folgen sie nicht nach, sondern fliehen ihm; denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht. … 11 Ich der gute Hirte.

Schafe überlässt man in dieser gefährlichen Welt nicht sich selbst. Schafe sind bekannt dafür, dass sie sich leicht verirren, von wilden Tieren angefallen werden und in Schwierigkeiten kommen. Deswegen müssen sie auf den Hirten hören. Kein Hirte kann sich gut nennen, wenn er seine Herde nicht persönlich durch die Gefahren hindurchbringt. Aber genau das verspricht Jesus. Er ist unser guter Hirte. Und das bedeutet, dass er einen Weg finden muss, wie er uns durch das unübersichtliche Gelände dieser Welt hindurchbringt, ohne dass wir zu Schaden kommen.

Ich habe mich immer gewundert über diesen Optimismus, mit dem Jesus hier spricht: meine Schafe, meine Leute hören meine Stimme. Stimmt das denn? Die Leute laufen heute dem nach und morgen dem, wieso ist sich Jesus so sicher, dass seine Leute ihn an der Stimme erkennen?

Inzwischen ist mir klar: ja, es kann nur so gehen: dass wir den Klang der Stimme Jesu von allen anderen unterscheiden. Kluge Dinge sagen viele Leute. Aber Jesus erkennen wir an seiner Art, mit uns zu reden. Natürlich brauchen wir dafür eine gewisse Übung. Wir müssen lernen, wie wir seine Gegenwart herausspüren unter all den anderen Stimmen und dem Lärm, die auf uns eindringen. Aber dann leitet er uns tatsächlich Schritt für Schritt und bringt uns auch durch schwieriges Gelände hindurch.

Religionen vermitteln normalerweise Regeln für ein besseres Leben. Der christliche Glaube wird hoffnungslos verkürzt, wenn man ihn auf Prinzipien und Regeln verkürzt, auch wenn man sie der Bibel entnimmt. Der christliche Glaube ist eher eine Anleitung, wie man mit Gott unterwegs sein kann und dabei auf seine Stimme hört.

Sie kennen vielleicht diesen Spruch: »Gib einem Mann einen Fisch, und er hat für einen Tag zu essen. Lehre ihn fischen, und er wird sein Leben lang genug haben.« Das kann man auf die Frage der Leitung übertragen: »Bring einem Menschen eine Regel bei, und er wird ein Problem lösen. Lehre ihn, auf Gott zu hören und an seiner Seite unterwegs zu sein, und er kann sein ganzes Leben bewältigen.« Wir könnten uns gar nicht alle Regeln merken, die man braucht, um einigermaßen heil durchs Leben zu kommen. Auf unserem Lebensweg warten viel zu viele unvorhergesehene Überraschungen, zu viele unübersichtliche Situationen, zu viele Sonderfälle und Ausnahmen von der Regel. Nur wenn wir mit Gott unterwegs sind und gelernt haben, die Stimme Jesu zu unterscheiden, werden wir den Pfad zum Leben finden, an allen Sackgassen und Irrwegen vorbei. Wir folgen der Stimme des Guten Hirten.

Nun werden Sie mich vielleicht fragen: wie soll das gehen? Wie sieht das praktisch aus? Hört man dann Stimmen oder sieht man dann plötzlich geschriebene Botschaften? Ja, solche Dinge habe ich schon von Christen gehört. Und ich habe meistens keinen Grund, ihre Berichte anzuzweifeln. Aber normalerweise geht es eher um Eindrücke oder Hinweise, die aus unserem Inneren aufsteigen. Eine Stimme, die uns oft einfach an etwas erinnert, was wir im Prinzip sowieso wussten, aber jetzt bekommt es eine neue Dringlichkeit. Im Johannesevangelium (16,15) sagt Jesus über den Heiligen Geist: »Er wird’s aus dem Meinen nehmen und euch verkündigen.« Der Heilige Geist, die lebendige Stimme Gottes, zeigt uns, welches von den vielen Worten Jesu gerade für diese Situation richtig ist. So wie Jesus damals in der Synagoge von Kapernaum einen jahrhundertealten Text von Jesaja vorlas, den sie schon oft gehört hatten, und dann sagte er einfach nur: heute ist der Tag, an dem dies geschieht.

Deswegen steht es nicht im Widerspruch miteinander, in der Bibel zu lesen und auf die lebendige Stimme Gottes zu hören. Im Gegenteil: je mehr wir unser Inneres mit biblischen Gedanken gefüllt haben, um so leichter kann Gottes Geist genau den richtigen auswählen und uns daran erinnern. Wir sollten die Bibel mit dem Ernst und dem Eifer studieren, mit dem Invasionstruppen sich den Verlauf einer Küstenlinie einprägen, bevor sie dort unter feindlichem Feuer an Land gehen.

Wohlgemerkt: Es geht dabei nicht darum, uns mit Prinzipien und Regeln vollzustopfen, obwohl in der Bibel natürlich viele gute Regeln stehen. Aber wir sollen durch diese aufgezeichneten Erinnerungen an Gottesbegegnungen in der Vergangenheit ein Gespür dafür bekommen, wie Gott überhaupt redet. Wir sollen seine Handschrift kennen, wir sollen seine Persönlichkeit kennenlernen und die Art, wie er normalerweise mit den Dingen umgeht. Wenn wir das ein Stück weit gelernt haben, dann werden wir urteilsfähig, Gottes Weisheit erfüllt unser Herz. Gottes Art, mit Problemen umzugehen, färbt dann auf uns ab, und wir werden eher intuitiv das Richtige tun.

Hierhin gehört eine Beobachtung, die Dietrich Bonhoeffer in der Nazizeit gemacht hat, als er darüber nachdachte, warum so viele Menschen, die eigentlich Mut und guten Willen hatten, trotzdem keine Kraft zum Widerstand gegen Hitler aufbrachten. Er denkt an Menschen, die sich an ihrer Vernunft oder ihrem Gewissen orientieren, oder deren Leitschnur die Pflicht oder ihre private Tugendhaftigkeit ist, und er beschreibt, wie sie alle scheitern, weil das Böse in so vielen Maskeraden und Verkleidungen auftaucht, dass sie es nicht mehr auseinander halten können. Und dann fragt er: wer hält überhaupt stand? Und er antwortet: derjenige, der in Bindung an Gott lebt, auf ihn hört und nur ihm gehorchen will und dafür auch bereit ist, seine Prinzipien zu opfern. Der hält stand, dessen Leben nichts anderes sein will als eine Antwort auf Gottes Frage und Ruf.

Bonhoeffer hat das damals mitten im Kampf und in der Bedrückung verstanden, dass Gott der lebendige Gott ist, der nicht ersetzt werden kann durch tote Regeln, und seien sie noch so gut. Gott gebraucht solche Regeln, aber sie sind Werkzeuge in seiner Hand, und er legt immer mal wieder ein Werkzeug weg und nimmt ein neues. Es geht nicht um die Werkzeuge, sondern um die Person dahinter. An der sollen wir uns orientieren, auf die sollen wir hören.

Man muss sich das vorstellen, als ob man mit einem Führer in schwierigem Gelände unterwegs ist. Allmählich bekommt man einen Eindruck davon, wie er sich orientiert und wie er sich bewegt, aber immer wieder geht er auch ungewöhnliche Wege, die wir übersehen hätten. Von uns aus wären wir nie darauf gekommen, aber wir haben ja unseren Scout gebeten, uns zu führen, und deswegen macht er uns darauf aufmerksam.

Das heißt: wir müssen Gott fragen. Wir müssen ihn bitten, uns zu führen. »Weise mir, Herr, deinen Weg, dass ich wandle in deiner Wahrheit«. Solche Bitten finden sich haufenweise in der Bibel und in Liedern und Gebeten. Aber das ist nicht nur eine schöne, poetische Formulierung, sondern das sollen wir tun. Wir sollen für eine Zeit die Dinge aus der Hand legen und Gott fragen: was sagst du dazu? Manchmal ist alles in Ordnung und Gott hat keinen Anlass etwas zu sagen. Er ist ja nicht geschwätzig. Manchmal haben wir Mühe, ihn zu verstehen. Manchmal haben wir Mühe, gerade weil wir ihn verstanden haben. Aber es ist alle Mühe wert. Wir sollen Jesus und unserem Hörvermögen eine Chance geben. Wenn wir dann nichts hören, dann müssen wir eben einfach unseren Verstand gebrauchen, und so eine Besinnungspause ist auch für den gut. Aber wir sollen die Chance offenhalten, dass Gott wirklich zu uns spricht.

Damit das keine Theorie bleibt, möchte ich euch heute einladen, das jetzt gleich zu tun. Vielleicht bist du heute mit einer Frage oder einem Anliegen gekommen, das dich schon seit Tagen begleitet. Vielleicht hast du heute keine besondere Frage, aber Gott möchte dich auf etwas aufmerksam machen oder dir etwas sagen. Vielleicht gibt es aber auch im Augenblick keinen besonderen Anlass. Und manchmal sind wir auch in einem Gottesdienst innerlich immer noch so unruhig, dass wir gar nicht richtig hören können. Das wird hier unter uns ganz verschieden sein. Aber versucht es einfach. Ich werde jetzt gleich ein Gebet zur Einleitung sprechen, und dann haben wir für etwa zwei Minuten Gelegenheit, auf Gott zu hören. Zwei Minuten können ziemlich lang sein, sie können aber auch viel zu kurz sein. Wem es heute zu kurz ist, der sollte das dann zu Hause fortsetzen, wie wir das ja überhaupt alle immer wieder machen sollen.

Lieber Herr Jesus Christus, du bist der gute Hirte, und wir wollen auf deine Stimme hören und uns von dir führen lassen. Wir brauchen deine Leitung ganz dringend, damit wir uns nicht verirren, sondern auf dem Weg mit dir bleiben. Wir bitten dich um dein Wort und deine Weisung. Sprich jetzt mit jedem so, wie er es braucht. Behüte unser Denken und unser Hören.

Pause

Gott, wir danken dir für alles, was in dieser Zeit gewesen ist. Lass alles, was wir von dir vernommen haben, in uns lebendig bleiben. Amen.

Ich weiß natürlich nicht, was jetzt unter uns gewesen ist. Aber wer etwas vernommen hat, den möchte ich auffordern, darauf zu achten, was daraus wird. Es geht ja nicht um rein innere Ereignisse, sondern es geht um die ganze Realität. Wenn du also etwas tust, weil Gott dich darauf hingewiesen hat, dann schau, was daraus wird. Und wenn du es nicht tun willst, dann schau auch darauf, was daraus wird. Und wenn dir sonst etwas aufgegangen ist, dann halte es fest, und zwar auch jenseits der Kirchentür! Wenn du nachher durch die Tür gehst, dann nimm es bewusst, über die Schwelle der Kirche mit hinaus in dein Leben.

Und eine letzte Bitte: wenn du heute etwas gehört hast und damit Erfahrungen machst, dann erzähl es mir doch mal! Ich versuche, möglichst viel darüber zu erfahren, welche Wege Gott mit Menschen geht. Ich lerne da oft von dem, was mir andere erzählen. Ich möchte diesen Weg immer besser kennenlernen. Und ich glaube, Gott arbeitet daran, uns da gemeinsam mehr beizubringen.