Bonifatius und die Organisation der deutschen Kirche
Predigt am 16. Januar 2005 (Wie die Deutschen Christen wurden II)
- Die dunklen Jahre und die Mission der Iren
- Bonifatius und die Organisation der deutschen Kirche
- Der Sachsenkrieg Karls des Großen und die Folgen
Im Jahre 723 versammelte sich eine große Menge von Menschen in Geismar in der Nähe der heutigen hessischen Stadt Fritzlar, südlich des heutigen Kassel, in der Nähe einer fränkischen Festung namens Buraburg. Dort befand sich ein heidnisches Heiligtum, das dem Gott Donar geweiht war. Im Zentrum dieses Heiligtum befand sich eine gewaltige Eiche, die Donar-Eiche. Es hatte sich herumgesprochen, dass der christliche Missionar Bonifatius diese Eiche fällen würde. Er war noch nicht lange im Land, er kam direkt aus Rom, hatte sich beim fränkischen König Karl Martell Rückendeckung geholt, und suchte nun im Lande der Hessen die Entscheidung: welcher Gott war mächtiger, Donar oder Christus? Motorsägen gab es damals noch nicht, und so hat es wahrscheinlich mehrere Stunden und viel Schweiß gekostet, bis unter den Axthieben der Mönche schließlich die Eiche fiel. In den Augen der Zuschauer war das die Entscheidung: der Gott hatte seine Eiche nicht schützen können, kein Blitzschlag traf die Baumfrevler, und so hatte der alte Götterglaube einen entscheidenden Schlag erlitten, von dem er sich nicht mehr erholte. Viele der Zuschauer wurden an diesem Tag getauft. Aus dem Holz der Eiche wurde eine kleine Kirche gebaut, und in Fritzlar wurde ein Kloster gegründet, von dem aus die Neubekehrten im christlichen Glauben unterwiesen wurden.
Bonifatius, der Leiter dieses ganzen Unternehmens, war damals etwa 50 Jahre alt. Er stammte aus England (also wieder einmal kommt ein entscheidender Einfluss für das Christentum in Mitteleuropa von den britischen Inseln), war seit seinem siebten Lebensjahr in einem Kloster erzogen worden und früh durch seine besondere Begabung aufgefallen. Er hatte eine glänzende Karriere als theologischer Lehrer vor sich, er hätte Abt seines Klosters werden können, aber er verzichtete darauf und wollte lieber als Missionar zu den heidnischen Friesen auf dem europäischen Kontinent gehen. 716 machte er mit einigen anderen Freunden einen ersten Versuch, aber der Moment war nicht günstig, sie scheiterten an der Feindseligkeit des friesischen Herzogs Radbod, der gerade Krieg mit den Franken führte. Bonifatius kehrte daraufhin noch einmal in seine Heimat zurück und reiste im folgenden Jahr nach Rom, um sich zunächst einmal die Unterstützung des Papstes zu sichern. Der beauftragte ihn offiziell mit der Mission unter den Heiden und mit der Reorganisation der Kirche. Bonifatius versuchte es noch einmal drei Jahre lang bei den Friesen und ging dann nach Hessen. In Friesland sowie in Hessen und Thüringen verlief damals die Grenze zwischen Christen und Heiden. 722 wurde er vom Papst zum Missionsbischof geweiht, damit konnte er Priester einsetzen. Der Frankenherrscher Karl Martell erkannte ihn an, und anschließend fiel die Donar-Eiche bei Geismar.
In Hessen verlief damals nicht nur die Grenze zum Heidentum, Hessen war auch der äußersten Rand des fränkischen Machtbereichs. Die Hessen hatten sich der fränkischen Oberherrschaft unterstellt, durften aber ihre inneren Angelegenheiten selbst regeln. Christliche Missionare hatten deshalb dort nicht um ihr Leben zu fürchten, aber die Menschen mussten eben erst gewonnen werden.
Eigentlich gab es dort schon Christen, aber sie übten oft gleichzeitig auch heidnische Kulte aus, Baum- und Quellenverehrung etwa. Es gab christliche Priester, die auch Wotan opferten. Fast niemand konnte lesen oder schreiben. Wenn Bonifatius ein Kloster gründete, dann wurden den Priestern und Mönchen dort zuerst einmal diese grundlegenden Kulturtechniken beigebracht. In den Klöstern wurden auch Bibelteile und liturgische Handbücher abgeschrieben, damit jede neugegründete Gemeinde wenigstens die wichtigsten Texte hatte.
Die Menschen lebten damals in einer von Furcht erfüllten Welt. Gegen Unglück, Krankheiten und Tod versuchen sie sich zu schützen durch Amulette und wundertätige Gegenstände. Sie ziehen Furchen um ihre Dörfer, um Unholde fernzuhalten, sie schnitzen Hände und Füße aus Holz als magische Mittel, sie lassen Hörner tönen, um das Böse fern zu halten. Wahrsager haben sie, die ihnen ihre Zukunft deuten aus toten Pferden und Vögeln, auch aus Stäben mit eingeritzten Runen, den Buch-Staben. Zaubertränke mischen sie. Mit Zaubersprüchen versuchen sie das Wetter zu ändern.
Immer wieder kämpfen Bonifatius und seine Mitarbeiter dagegen an. Immer wieder weisen sie darauf hin, dass man mit dem alten Aberglauben dem Teufel dient. Machterweise wie die Fällung der Eiche von Geismar sollen handgreiflich zeigen, dass Christus stärker ist als die Mächte des Bösen. Gegen die magischen Gegenstände, an denen die Menschen hängen, setzen die christlichen Missionare christliche Bedeutungsträger: Weihwasser zum Beispiel, oder das Chrisamöl (eine Mischung aus Olivenöl und dem Saft der Balsamstaude), das Bonifatius extra aus Rom geschickt wird. Dazu kommt der Duft des Weihrauchs, der die Germanen immer wieder beeindruckt. Vor allem spielen die Reliquien eine wichtige Rolle. Bonifatius hat aus Rom eine ganze Menge davon mitgebracht, und im Altar jeder neu erbauten Kirche wird ein kleines Stückchen eines Heiligen deponiert. Besonders der Apostel Petrus ist oft vertreten und verbindet die Menschen mit dem Papst, dem Nachfolger des Apostels Petrus.
Für uns heute, besonders als Protestanten, ist das ein merkwürdiges Denken: dass es besondere, heilige Dinge gibt, durch die man Gott besonders nahe ist, wenn man mit ihnen in enge Berührung kommt, wenn man z.B. mit Weihwasser besprengt wird. In der Bibel gibt es zwar die Geschichte, wie die Menschen Tücher, die Paulus auf dem Leib getragen hat, zu den Kranken bringen, so dass sie geheilt werden (Apg. 19,12). Und das geschieht ausgerechnet in Ephesus, einer Stadt, in der die Produktion magischer Gegenstände blüht. Aber das ist eine vereinzelte Geschichte. Sie steht ganz am Rande der biblischen Überlieferung. So hat Paulus normalerweise nicht gearbeitet. Im Erleben der germanischen Neubekehrten hatten solche heiligen Gegenstände aber eine große Bedeutung. Und eine ganze Menge Spuren davon findet man bis heute noch in der Volksfrömmigkeit.
Man kann sich den Unterschied vielleicht am Abendmahl deutlich machen: da gibt es ja im christlichen Glauben auch materielle Dinge, die eine besondere Bedeutung tragen, nämlich Brot und Wein. Aber es sind eben keine magischen Gegenstände, sondern sie sollen die Begegnung mit der Person Jesus Christus ermöglichen, und diese Beziehung ist das Entscheidende.
Vielleicht kann man es so sagen: Bonifatius hat sich sehr weit auf die germanische Weltsicht eingelassen. Das muss man auch in der Mission. Und in der Verehrung der Knochen von Heiligen spiegelt sich etwas davon wider, dass Gott sich mit Menschen verbindet, dass er kein abstraktes Prinzip ist, sondern eine Person, und zu jedem Menschen will er eine eigene Beziehung haben. Man könnte sagen: in der Reliquienverehrung zeigt sich der Wunsch, an dieser Großen Geschichte Gottes Anteil zu haben. Die Heiligen sind diejenigen, die zu dieser Geschichte dazugehören, und ich komme auch mit ihr in Berührung, wenn die Knochen der Heiligen in meiner Nähe sind.
Aber natürlich müsste man hier sagen: was suchst du den Lebendigen bei den Toten? Wir sollen selbst in die große Geschichte Gottes mit der Welt eintreten. Man kann nicht auf die Dauer nur auf dem Umweg über die Heiligen Anteil an Gottes Geschichte haben, als Trittbrettfahrer sozusagen. Nein, wir sollen selbst an dieser Geschichte teilnehmen.
Trotzdem war das bei Bonifatius eine andere Situation als 800 Jahre später bei Martin Luther, als sich um die Reliquien herum eine ganze Theologie entwickelt hatte und die Knochen von Heiligen auch materiell eine wichtige Einnahmequelle waren.
Bonifatius, der eigentlich mit Leib und Seele Missionar war, wurde je länger, je mehr zum fähigen Organisator der deutschen Kirche. Er sah genau, dass es nicht reicht zu bekehren und zu taufen. Die Menschen müssen weiter betreut werden, damit ihr Denken und ihr Lebenswandel nicht heidnisch bleibt. Deshalb arbeitete Bonifatius immer auch am Aufbau einer effektiven Organisation. Im Auftrag des Papstes ordnete er die kirchlichen Verhältnisse, zuerst in Hessen, dann in Thüringen. Schließlich machte der Papst ihn zum Erzbischof mit der Berechtigung, Bistümer einzurichten und Bischöfe zu weihen. Ab 739 organisierte er die bayerische Kirche, ab 741 die fränkische Reichskirche in den deutschen Gebieten. Und als er 753 ein letztes Mal zu den Friesen aufbrach, was tat er als erstes? Er ordnete die kirchlichen Verhältnisse.
Seine Prinzipien waren einfach: er sorgte für klare Zuständigkeiten, und er machte die Amtsträger dafür verantwortlich, dass sie ihre Aufgaben auch erfüllten. Aber in der Praxis bedeutete das immer wieder Kämpfe, Konflikte, Sorgen, Verhandlungen mit den weltlichen Machthabern und unzählige Briefe nach Rom an den Papst. Auf einem Treffen der Bischöfe, Concilium Germanicum genannt, setzte er zum Beispiel durch, dass Bischöfe und Priester keine Waffen tragen, keine Hunde und Falken halten und nicht zur Jagd gehen dürfen. Man merkt, da hat es offensichtlich Adlige gegeben, die mit einem kirchlichen Posten versorgt wurden und dann ihren alten Lebensstil einfach beibehielten. Solche Bischöfe übten dann auch schon mal Blutrache, oder sie hatten Kinder, denen sie die Bischofswürde vererbten wie andere einen Grafentitel. Kein Wunder, dass es Ärger gab, als Bonifatius diese Missstände abstellte. In einem Brief schreibt er, dass ihm die falschen Brüder viel mehr Probleme machen als die ärgsten Heiden.
Die fränkischen Herrscher waren kirchenfreundlich, aber sie kontrollierten auch die Kirche und machten sie zum Werkzeug ihrer Politik. Sie rissen sich kirchliche Besitztümer unter den Nagel und belohnten ihre Gefolgsleute mit kirchlichen Posten. Bonifatius stützte sich dagegen auf den Papst, um die Selbstständigkeit der Kirche zu sichern. Das bedeutete aber eben auch Abhängigkeit von römischen Entscheidungen. Und auch das ist bis heute geblieben.
Wenn Sie sich erinnern: der Streit darum, ob sich die katholische Kirche in Deutschland weiterhin in der Schwangerschaftskonfliktberatung engagieren soll, dieser Streit wurde vor einigen Jahren vom Papst entschieden, und zwar anscheinend gegen den Willen der Mehrheit der deutschen Bischöfe. Es geht mir nicht um den Inhalt dieser Entscheidung (der Papst ordnete ja den Ausstieg aus der Beratung an, damit die Kirche auf keinen Fall irgendwie Abtreibungen unterstützt), inhaltlich haben sicher beide Seiten ehrlich an ihre guten Argumente geglaubt. Aber dass in so einem Fall nicht die deutsche Kirche entscheidet, sondern ein Pole im fernen Rom, das will mir nicht in den Kopf.
Das ist eine Aufgabe, die bis heute nicht zu Ende gebracht ist: nicht staatliche Machthaber und nicht eine Kirchenorganisation sollen herrschen in der Kirche, sondern die mündige Gemeinde der Nachfolger Jesu. Und auf die warten wir immer noch.
Bonifatius war inzwischen alt geworden, über 70 war er jetzt. Er gründete das Kloster Fulda und machte seinen Lieblingsschüler Sturmius zum Abt. Noch einmal erreichte er beim Papst, dass dieses Kloster unabhängig von der Kirchenorganisation blieb und nur dem Papst direkt unterstellt wurde. Er bestimmte auch, dass er selbst in Fulda begraben werden wollte.
Dann machte er sich ein letztes Mal zu den Friesen auf, die knapp 40 Jahre vorher schon sein erstes Ziel auf dem Kontinent gewesen waren. In seinem Herzen war er eben doch Missionar geblieben. Der alte Friesenherzog Radbod war inzwischen tot, unbekehrt bis zuletzt, und jetzt erlebte Bonifatius noch, dass die Friesen sich dem Glauben zuwandten. Er konnte viele Menschen taufen. An dem Tag jedoch, an dem sie zur Firmung wiederkommen sollten, kamen stattdessen Räuber und überfielen das Lager der christlichen Missionare. Bonifatius forderte seine Gefährten auf, sich entsprechend dem Wort Jesu nicht zu wehren. So wurden sie alle getötet, am 5. Juni 754. Im vergangenen Jahr war das 1250 Jahre her.
Bonifatius wird »der Apostel der Deutschen« genannt. Er war sicher nicht der erste, der den späteren Deutschen das Evangelium brachte. Aber indem er die deutsche Kirche effektiv organisierte und sie zum Arbeiten brachte, hat er bei uns das Christentum unumkehrbar verankert, mindestens für 1250 Jahre.
Neben den Friesen waren jetzt nur noch die Sachsen unbekehrt, also unsere Gebiete hier. Es sollte noch fünfzig Jahre dauern, bis sich das änderte. Und das ist leider eine blutige und traurige Geschichte. Davon erzähle ich beim nächsten Mal.