Was eine Gemeinde wirklich reich macht
Predigt am 15. Oktober 2006 zu Jakobus 2,1-7
21 Liebe Brüder, haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person.
2 Denn wenn in eure Versammlung ein Mann käme mit einem goldenen Ring und in herrlicher Kleidung, es käme aber auch ein Armer in unsauberer Kleidung, 3 und ihr sähet auf den, der herrlich gekleidet ist, und sprächet zu ihm: Setze du dich hierher auf den guten Platz! und sprächet zu dem Armen: Stell du dich dorthin! oder: Setze dich unten zu meinen Füßen!, 4 ist’s recht, dass ihr solche Unterschiede bei euch macht und urteilt mit bösen Gedanken?
5 Hört zu, meine lieben Brüder! Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn liebhaben?
6 Ihr aber habt dem Armen Unehre angetan. Sind es nicht die Reichen, die Gewalt gegen euch üben und euch vor Gericht ziehen? 7 Verlästern sie nicht den guten Namen, der über euch genannt ist?
Komisch, dass es offenbar schon ganz früh in der Christenheit das Problem gegeben hat, dass die Gemeinden sich von Protz und Prunk beeindrucken ließen. Aber das macht die Sache nicht besser!
Wir sind im Sommer im Berliner Dom gewesen, ein großes Haus voll mit Marmor und Gold, und an der zentralen Stelle war die Kaiserempore, wo früher der Kaiser Wilhelm mit seinem Hofstaat im Gottesdienst gesessen hat. War schließlich seine Hofkirche. Da konnte er schon einen guten Platz verlangen, so als deutscher Kaiser!
Und Jakobus erzählt eine vergleichbare Szene, wie da so ein Typ mit Armani-Anzug und Rolex am Handgelenk in die Gemeindeversammlung kommt, und alle sind schwer beeindruckt und bugsieren ihn auf den besten Platz. Eigentlich waren die Christen damals meistens arme Leute, aber vielleicht waren sie dann ganz besonders beeindruckt, wenn sich mal einer mit Geld in der Tasche zu ihnen verirrte. Oder sie hofften, auf diese Weise mehr gesellschaftlichen Einfluss zu bekommen.
Aber kurz danach kommt einer mit schmutzigen Klamotten rein und wird schnell irgendwo in den Hintergrund geschoben. Solche Verhaltensweisen sind so – ich sage mal – selbstverständlich, sie sind so vertraut aus dem normalen Umgang, dass es dann offensichtlich in der Gemeinde ganz spontan genauso lief.
Und Jakobus muss anscheinend kräftig dagegenhalten und daran erinnern, dass das in der Gemeinde nicht in Ordnung ist. Anderswo auch nicht, aber es geht ja um die Gemeinde, wo andere Regeln gelten sollen als sonst. Da gibt es kein Ansehen der Person, wo der eine besser behandelt wird als der andere, nur weil er gesellschaftlich besser dasteht als der andere. Jakobus schreibt: das passt überhaupt nicht mit dem Glauben an Jesus zusammen.
Es gibt da einen Kampf darum, was denn gelten soll in der Gemeinde. Dass man sich jesusgemäß verhält, das ist nicht selbstverständlich, das kommt nicht von allein, sondern da muss einer die Notbremse ziehen und sagen: stopp, so geht es nicht! Da braucht es erst Auseinandersetzungen und Diskussionen, bis klar ist, was unter den Christen gelten soll. Es braucht Leute wie Jakobus, die sich aus dem Fenster hängen und deutliche Worte finden.
Er sagt: Ihr habt dem Armen Unehre angetan. Da steckt etwas drin, was wir eher unter dem Namen der Menschenwürde kennen. Die Menschenwürde ist nicht käuflich oder verkäuflich, sie hängt nicht davon ab, ob man reich oder arm, alt oder jung, gesund oder krank, leistungsfähig oder nicht ist. Man hat sie einfach deshalb, weil man ein Mensch ist. Sie ist ein Geschenk, zu dem man nichts getan hat, aber sie bringt die Verpflichtung, die Würde anderer zu achten. Und die Verpflichtung, sich selbst auch diese Würde, diese Ehre zu geben. Wenn einer ohne Grund schlechter behandelt wird als der andere, nur weil er weniger Geld hat, wird seine Ehre, seine Menschenwürde angegriffen.
Dagegen sagt Jakobus, dass Gottes ganz besondere Zuwendung den Armen gilt. Gott macht es anders, als es sonst zugeht, und deshalb soll es auch in der Gemeinde anders sein. »Hat nicht Gott«, so fragt Jakobus, »erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn liebhaben?«
Dahinter steht eine ganz andere Weltsicht: Vertrauen in das missachtete Potential der Armen. Was das bedeutet, das kann man gut sehen an dem diesjährigen Friedensnobelpreisträger. Sie haben es vielleicht gehört oder gelesen: er heißt Mohammad Yunus, kommt aus Bangladesch, und hat ein Kreditsystem für die ganz Armen aufgebaut. Dank dieses Systems hat Bangladesh heute eine bessere Perspektive, obwohl es zu den ärmsten Ländern der Welt gehört.
Yunus ist Universitätsprofessor, aber er hat etwas ganz Ungewöhnliches getan: er hat auf die Armen gehört. Er hat sich von ihnen erzählen lassen, wieso sie nicht aus der Armutsfalle herauskommen. Und da ist er auf so einfache Dinge gestoßen, wie z.B., dass eine Frau, die vom Korbflechten lebt, fast nichts verdient, weil sie sich das bisschen Geld für das Material leihen muss und für die Wucherzinsen fast ihr gesamter Verdienst draufgeht. Wucherzinsen für einen Betrag von etwa einem Euro sorgen dafür, dass sie ihr Leben lang nicht aus der Armut herauskommt. Und deshalb hat Mohammad Yunus eine Dorfbank gegründet, die den Menschen Minikredite über ein paar Dollar gibt und ihnen hilft, sich damit eine Existenz aufzubauen.
Der normale Ansatz wäre, kapitalkräftige Firmen ins Land zu holen und zu hoffen, dass die Arbeitsplätze schaffen. Man gibt ihnen die besten Grundstücke, man erlaubt ihnen, die Bodenschätze zu nutzen, man lässt sie Staudämme bauen, und man erhofft sich von ihnen, dass sie Entwicklung und Wohlstand bringen. So wie dort in der Gemeinde, an die Jakobus schreibt, der Reiche auch den besten Platz bekam, weil man sich von ihm Hilfe und Unterstützung und vielleicht auch Geld erwartete.
Mohammad Yunus hat dagegen einen ökonomischen Ansatz gewählt, der viel stärker dem Herzen Gottes entspricht: nämlich den kleinen Leuten Luft zu verschaffen, ihnen etwas zuzutrauen, ihre Abhängigkeiten zu durchbrechen und dann zu hoffen, dass die mit ihrer Energie und ihrem Potential schon dafür sorgen werden, dass es vorangeht. Da geht ein wirtschaftliches Konzept von der Menschenwürde aus, und Menschenwürde bedeutet eben auch, dass Menschen nicht in Ohnmacht leben dürfen, dass Menschen einen Spielraum bekommen müssen, um ihr Leben gestalten zu können. Und dieses Konzept ist auch rein wirtschaftlich betrachtet äußerst erfolgreich.
Das – ich sage mal: moralische – Konzept der Menschenwürde und die wirtschaftliche Effektivität passen sehr gut zusammen. Uns ist lange eingeredet worden, dass es zwar sehr edel ist, wenn man sich gut verhält, aber realistisch, so heißt es dann, ist das nicht. Wenn man was erreichen will, dann muss man Abstriche machen und sich an die Realität anpassen, und die ist nun mal nicht gut.
Aber das ist Quatsch. Gott hat die Welt geschaffen, und er hat sie so geschaffen, dass auch ganz realistisch der Ansatz bei der Menschenwürde funktioniert. Und wo jemand die Chance nutzt und das praktisch ausprobiert, da geht es auch, und der Nobelpreis lenkt glücklicherweise unsere Aufmerksamkeit darauf.
Das Beeindruckende daran ist, dass die Menschen hier nicht als Problem gesehen werden, sondern als ein ungeheures Potential: Menschen haben normalerweise ganz viel Energie, und sie setzen die auch ein, um ihr Leben zu verbessern, wenn man sie nur lässt, wenn man ihnen nur nicht die Kontrolle über ihre Lebensumstände raubt. Erst wenn man Menschen die Kontrolle über ihr Leben nimmt, dann werden sie entmutigt, dann erwarten sie nichts mehr von sich selbst, und schließlich glauben sie, dass die Lösung von anderen kommen muss, und die sind dafür verantwortlich, dass es ihnen besser geht. Und sie bauen dann auch noch in ihrem Kopf Barrieren auf, zusätzlich zu den äußeren.
So werden auch in der Gemeinde Menschen nicht als Problem gesehen, sondern als ein großes Potential. Wenn Menschen befreit sind aus inneren und äußeren Abhängigkeiten, dann sind sie Kraftwerke, und keiner kann sagen, wo die Grenze ihrer Energie ist. Gott hat uns nach seinem Bilde geschaffen, und das bedeutet auch: wir haben Anteil an seinem schöpferischen Potential. »The sky is the limit«. Das Problem liegt »nur« darin, dass Menschen frei werden müssen, damit dieses Potential sich entfalten kann. Und deswegen ist Jakobus an diesem Punkt so engagiert, weil es nicht sein darf, dass jetzt auch noch in der Gemeinde sich ein Denken ausbreitet, das stattdessen die Hilfe von denen erwartet, die gesellschaftlich einflussreich sind.
Eigentlich ist die Gemeinde nämlich so ein sicherer Ort, wo Menschen lernen sollen, dass sie etwas bewegen können, dass sie Energie haben. Eigentlich ist die Gemeinde auch so etwas wie eine Dorfbank, bei der man einen Minikredit bekommt, nämlich einen Spielraum, um sein eigenes Potential zu entdecken und zu entwickeln.
Lassen Sie mich auch dafür Beispiel geben, auch wenn es noch nicht den Nobelpreis bekommen hat: als wir gestern den Ü10-Gottesdienst hatten, da gab es auch eine Gruppe, in der gemalt wurde. Die haben Illustrationen zur Zachäus-Geschichte gemacht. Und als ich die gesehen habe, da habe ich zu den Mitarbeiterinnen gesagt: das sind tolle Bilder, da habt ihr bestimmt kräftig mitgeholfen! Aber sie haben geantwortet: nein, das haben die wirklich selbst so gut hingekriegt. Und Sie können sich davon überzeugen, das sind die Bilder im Eingang der Kirche: das Bild mit den Lebensmitteln, die es beim Essen im Haus von Zachäus gab und das Bild mit der Menschenmenge unter dem Baum, auf den Zachäus klettern wird. Wo da in der Mitte ein freier Raum ist, das ist übrigens der Raum, der für Jesus ausgespart ist. Und wenn man sich das anschaut, dann freut man sich an der Energie und der Bewegung, die da sichtbar wird. Und alles nur, weil es so einen Freiraum gab, wo jemand sein Potential umsetzen konnte, und wir hatten das vorher wirklich nicht geahnt.
Jakobus möchte, dass wir diesen Zusammenhang verstehen, dass die wirkliche Stärke der Gemeinde aus den Menschen kommt, die dort im Namen Jesu befreit werden. Befreit dazu, ihr Potential zu entdecken, das Gott ihnen gegeben hat. Wir müssen uns nicht Stärke borgen bei den gesellschaftlich Einflussreichen oder bei den Fachleuten. Die sind willkommen, die sollen mitmachen, aber wir sind nicht von ihnen abhängig, wir haben eine eigenen Quelle, aus der wir leben. Und wir bieten den Reichen wie den Armen an, gemeinsam diese Quelle zu entdecken. Da haben auch die Reichen etwas zu gewinnen. Wenn man etwa an die ganzen gesellschaftlich Einflussreichen denkt, dann hat man bei vielen den Eindruck, dass wir in der Gemeinde wesentlich mehr vom Leben verstehen. Wenn sich für einen Augenblick mal der Schleier der Verschwiegenheit hebt und man merkt, was für Eitelkeit es da gibt, was für Gier nach Geld und Glück und Anerkennung, und auch wieviel Suchtprobleme, dann ahnt man, was auch die Reichen, Schönen und Mächtigen in der Gemeinde zu gewinnen hätten. Wie die auch profitieren könnten von einer Gemeinschaft, in der jeder sich um den anderen kümmert, wo der Kontostand keine Rolle spielt, und wo alle miteinander die Freiheit Jesu entdecken und leben.
Jakobus macht sich da allerdings keine großen Hoffnungen. Er rechnet damit, dass es vor allem die Armen sein werden, die zu Jesus Zugang finden werden. Die Reichen können sich überhaupt nicht vorstellen, dass sie das alles brauchen.
Aber egal, wie das auch ausgeht: wir sollen als Gemeinde wissen, dass unsere wirkliche Kraftquelle mitten unter uns ist, Jesus, der Befreier, von dessen Herrlichkeit Jakobus betont spricht. Ihm gehört die ganze Welt, das ist sein Reichtum, seine Herrlichkeit, und er will das in unserer Mitte freisetzen.