Prophetie und Umkehrgemeinschaften
Predigt am 13. August 2006 zu Jeremia 1,4-10
4 Das Wort des HERRN erging an mich, er sagte zu mir: 5 »Noch bevor ich dich im Leib deiner Mutter entstehen ließ, hatte ich schon meinen Plan mit dir. Noch ehe du aus dem Mutterschoss kamst, hatte ich bereits die Hand auf dich gelegt. Denn zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt.«
6 Ich wehrte ab: »Ach, Herr, du mein Gott! Ich kann doch nicht reden, ich bin noch zu jung!«
7 Aber der HERR antwortete mir: »Sag nicht: ‚Ich bin zu jung!‘ Geh, wohin ich dich sende, und verkünde, was ich dir auftrage! 8 Hab keine Angst vor Menschen, denn ich bin bei dir und schütze dich. Das sage ich, der HERR.« 9 Dann streckte der HERR seine Hand aus, berührte meine Lippen und sagte: »Ich lege meine Worte in deinen Mund. 10 Von heute an hast du Macht über Völker und Königreiche. Reiße aus und zerstöre, vernichte und verheere, baue auf und pflanze an!«
Das ist die Geschichte von der Berufung Jeremias, des Propheten,
der den Niedergang seines Volkes mit ansehen und mit seinem prophetischen
Wort begleiten musste. Über 40 Jahre lang hat er nach dieser Berufung
Gottes Wort zum Weg seines Volkes ausgesprochen. Er hat damals,
ungefähr 600 Jahre vor Christus, davor gewarnt, dass die Politik
der israelitischen Könige in den Untergang führen würde. Israel
lag im Einflussbereich der Großmacht Babylon, und die Könige haben
immer wieder versucht, durch Bündnisse und Tricks von dieser Macht
frei zu werden. Diese außenpolitische Kraftmeierei konnte nicht
funktionieren, und am Ende haben die Babylonier den ewigen Unruhestifter
Israel einfach ausradiert: sie haben Jerusalem in Schutt und Asche
gelegt, dem König die Augen ausgestochen und die Bevölkerung in
einem Elendsmarsch nach Babylonien verschleppt.
Eigentlich hätte es schon vorher jedem klar sein müssen, dass
Jeremias Warnungen vor solchen politischen Abenteuern das einzig
Vernünftige waren. Immer wieder gab es letzte und allerletzte Warnungen,
und fast bis ganz zuletzt hätte Israel noch zurück gekonnt. Aber
so gut wie keiner hat auf Jeremia gehört, obwohl der König immer
mal wieder kam und ihn um Rat fragte, wenn es alles ganz bedrohlich
aussah.
Die Leute behandelten Jeremia ungefähr so wie die westliche Welt
heute die Prognosen des Klimawandels behandelt: man ist davon ein
bisschen beunruhigt, aber man sucht Tausend Gründe, weshalb es doch
nicht so schlimm kommen wird und weshalb man vor allem nichts wirklich
ändern muss. Es können noch so viele Warnzeichen kommen wie Hurrikans,
knallheiße Sommer, Gletscherschmelze, neue präzise wissenschaftliche
Prognosen: die Menschen machen die Augen zu, nur damit sie nichts
ändern müssen. Die Politiker und Lobbyisten vorneweg und das Volk
hinterher. Das Verrückte ist: damals wie heute wäre es gar nicht
so schlimm gewesen, einen anderen Weg einzuschlagen. Es wäre nicht
schlimm gewesen, weiter unter babylonischer Oberherrschaft zu leben;
es wäre kein schlechtes Leben, wenn wir sehr konsequent Energie
einsparen und unsere Energieversorgung auf andere Grundlagen stellen
würden.
Es geht im Kern um etwas ganz anderes: dass Menschen oder eine
Gesellschaft den festen Entschluss gefasst haben, nicht umzukehren,
nicht das Vernünftige und Richtige zu tun, nicht auf die Stimme
Gottes zu hören. Soll man es Eigensinn nennen, Stolz, Unbeweglichkeit
– wie auch immer, in den Menschen liegt ein ganz großer Widerstand
dagegen, freiwillig von einem falschen Weg umzukehren.
Es gibt am Ende des Buches Jeremia eine Szene, in der das erschreckend
deutlich wird: Jerusalem ist schon zerstört, es gibt nur noch ein
paar Überlebende im Land, und in der Situation kommen sie zu Jeremia
und sagen: ja, wir sehen, dass du recht gehabt hast, und wir schwören
dir, jetzt wollen wir auf dich hören. Sag uns nur, was wir jetzt
tun sollen, egal, was es ist, wir tun es. Und Jeremia sagt ihnen
das gleiche, was er immer gesagt hat: bleibt hier leben und unterwerft
euch dem König von Babylonien! Und selbst da, schon nach der Katastrophe,
werden sie wütend und antworten: das stimmt nicht, du lügst, das
kann Gott nicht gesagt haben!
Wenn Menschen sich entschlossen haben, auf keinen Fall umzukehren,
auf den Tod nicht, dann werden sie immer vernagelter und verbohrter,
sie tun immer mehr das offensichtlich Falsche, nur, damit sie am
Ende nicht zugeben müssen, dass sie schon die ganze Zeit auf dem
falschen Weg waren. Das kann man im Kleinen und im Großen beobachten,
wie Menschen hartnäckig immer weiter in ihr Verderben rennen, nur
damit sie sich nicht eingestehen müssen, dass sie falsch gelegen
haben.
Und ich glaube, das ist der Grund, weshalb Gott in dieser Berufungsgeschichte
zu Jeremia sagt: ich gebe dir heute Macht über Völker und Königreiche.
Jeremia soll also nicht einfach nur ankündigen, was Gott tun wird,
sondern durch seine Verkündigung werden diese Dinge tatsächlich
bewirkt. Gottes Wort in Jeremias Mund hat Macht. Denn einfach dadurch,
dass Jeremia die Wahrheit ausspricht, dadurch bringt er Menschen
entweder dazu, dass sie umkehren und zurückkommen auf Gottes Weg
– oder sie verrennen sich immer stärker in die Sackgasse, auf der
sie gehen. Und am Ende werden sie auch ihre Fähigkeit zum klaren,
vernünftigen Denken immer mehr vergessen, nur um nicht umkehren
zu müssen.
Immer wenn Gott Menschen zur Umkehr ruft, dann gibt es diese
beiden Möglichkeiten: entweder sie hören und werden gerettet – oder
sie wollen nicht hören, und es wird schlimmer. Es gibt nicht die
dritte, mittlere Möglichkeit, dass man gar nichts tut und die Dinge
so bleiben, wie sie sind. Die Welt ist immer in Bewegung, es gibt
keinen Stillstand, sondern es läuft immer irgendwohin, zum Guten
oder zum Bösen. Und je weiter man auf dem Weg zum Bösen ist, um
so schwerer wird die Umkehr.
Jeremias Wirkung geht aber weit über seine Zeit hinaus. An ihm
hat Gott wie an einem Modell ein für allemal gezeigt, welche Art
von Politik zum Leben führt und welche zum Tode. In anderen Völkern
der Welt gibt es die schrecklichen Geschichten von Kriegern, die
im Heldenkampf bis zum Tod durchgehalten haben – die Nibelungen
z.B., die sich heldenmütig beim Hunnenkönig Etzel niedermetzeln
ließen. All diese schrecklichen Mythen vom Kampf bis zur letzten
Patrone und die Slogans wie »lieber tot sein als Sklave sein«. Sowas
gilt in vielen Kulturen als Heldentum. In Wirklichkeit ist es töricht
und verstockt. Man könnte ja auch den sinnlosen Kampf Israels gegen
Babylonien zu einem Freiheitskampf bis zum Tode hochstilisieren.
Aber dort in Israel gab es Jeremia, der dieser menschlichen Selbstüberschätzung
entgegengetreten ist, der das als Hochmut entlarvt hat, der gezeigt
hat, dass Gott es anders sieht.
Und Jeremias Worte haben weit über seine Zeit hinaus gewirkt.
Immer wieder haben Menschen aus diesem Geist heraus anders gelebt
und andere, realistischere Politik gemacht. Bei uns in Deutschland
hat nach dem zweiten Weltkrieg diese Art zu denken und Politik zu
machen doch ziemlich an Boden gewonnen, auch wenn sie sich nie ganz
durchgesetzt hat. Und es hat immer genügend andere Stimmen gegeben,
die das als Schwäche angesehen haben. Aber ich bin überzeugt, dass
wir dieser biblischen Art, über Politik zu denken, den langen Frieden
verdanken, den wir jetzt seit 60 Jahren in unserem Land haben.
Natürlich hat auch Jesus in dieser Art gedacht: in der Zeit Jesu
war Israel ja wieder von einer Großmacht beherrscht, von den Römern,
und die Leute haben sich dagegen gewehrt und haben sich von den
Römern abgegrenzt und haben Aufstände gemacht und sind zu Terroristen
geworden. Jesus hat stattdessen einen Weg gezeigt, wie man auch
unter der römischen Besatzung leben konnte. Und wäre das Volk als
Ganzes diesen Weg gegangen, dann wäre Jerusalem nicht zum zweiten
Mal dem Erdboden gleichgemacht worden.
Jesus hat Jeremias Weg fortgesetzt. Kein heroischer Endkampf,
kein Krieg mit all der Zerstörung und der Unmenschlichkeit, die
sich da in die Seelen frisst. Stattdessen hat Jesus Gemeinschaften
hinterlassen, die auch unter schwierigen äußeren Bedingungen überleben
konnten, die angeschlossen waren an die Kraft Gottes und die Gottes
Wahrheit verkörperten, die Gottes Alternative lebten.
Denn Jesus geht über Jeremia hinaus. Bei Jeremia ist Gottes Wort
tatsächlich noch ein Wort, eine Wahrheit, die in Worten ausgesprochen
wird. Jesus aber, wie wir z.B. durch das Johannesevangelium wissen,
ist selbst das Wort Gottes, das heißt: er ist mit seinem ganzen
Leben, mit allem war er tat, Gottes Wort. Jesus ist Wahrheit in
Form eines Menschenlebens, gelebte Wahrheit, praktische Wahrheit,
um es so zu sagen.
Und deshalb wirkt er nicht in erster Linie durch eine Lehre mit
Anweisungen, sondern sein entscheidendes Erbe sind Gemeinschaften,
die sein Leben fortsetzen. Seit Jesus wird Wahrheit durch Lebenspraxis
verkündigt. Natürlich gehören da auch Worte zu, wie zu jeder menschlichen
Lebenspraxis Worte gehören. Aber Jesus, das Wort Gottes, lebt in
den Gemeinschaften seiner Nachfolger, sie sind jetzt sein irdischer
Leib, und was Gott damals zu Jeremia gesagt hat, gilt jetzt für
diese Gemeinschaften: »Ich gebe dir Macht über Völker und Königreiche.«
Das ist besonders wichtig in unserer Zeit, in der Worte in einem
Ausmaß produziert und verbreitet werden wie nie zuvor. Man kann
in den Medien zu allem eine Meinung und eine Gegenmeinung finden.
Deswegen haben die Leute längst aufgehört, zu fragen, was wahr ist,
und sind der Meinung, dass eigentlich jeder Recht hat, solange er
nicht allzu sehr aus dem Durchschnitt herausfällt. Irgendwelche
Behauptungen, und seien sie noch so wahr, reißen keinen mehr vom
Hocker. Das einzige, was Menschen heute wirklich noch beeindruckt,
ist echt gelebtes Leben. Das heißt nicht unbedingt, dass sie darauf
hören, aber das registrieren sie, wenn Menschen deutlich anders
und dann auch noch besser leben.
Die meisten Menschen haben heute den Eindruck, dass sie letztlich
keine großen Möglichkeiten haben, ein anderes Leben zu führen, obwohl
sie es eigentlich irgendwie doch gerne möchten. Man kann zwischen
20 Sorten Klopapier wählen, aber wer spürt da wirklich den Unterschied?
Jeder versucht sein Leben irgendwie durch die tausend Klippen dieser
Welt zu steuern, aber am Ende bleiben doch fast alle auf ähnlichen
Bahnen.
Deswegen wird das Evangelium dann gehört werden, wenn es sich
in Gemeinschaften ausdrückt, die auf andere Weise leben, an denen
anschaulich wird, was Gottes Wille für unser Leben ist. Auch da
wird es die einen geben, die sich einladen lassen, und die anderen,
die dann erst recht in ihre Sackgasse hineinlaufen. Aber wenn es
solche Gemeinschaften des neuen Lebens in einer gewissen Größenordnung
gibt, sind sie nicht zu übersehen. Dann werden Menschen davon angezogen.
Solche Gemeinschaften sind unübersehbar, wo man sich gegenseitig
solidarisch unterstützt – während in der Gesellschaft die angeblich
Überflüssigen immer mehr fallen gelassen werden. Wo Menschen in
ihrer Seele heil werden, während überall die Störungen und Verletzlichkeiten
zunehmen. Gemeinschaften, in denen die Kultur blüht, nicht die aus
der Konserve, sondern die handgemachte. Gemeinschaften, die zusammenhalten
auch in den gesellschaftlichen Turbulenzen, die unübersehbar auf
uns zukommen. Nicht nur die Naturkatastrophen werden ja immer heftiger,
sondern genauso die gesellschaftlichen und wohl auch die persönlichen
Katastrophen. Wenn es einen Weg gibt, besser damit zu leben, dann
werden Menschen hinschauen.
Jeremias erster Auftrag war, zu zerstören und auszureißen, und
erst zum Schluss kam das Bauen und Pflanzen. Ich denke, dass sich
das seit Jesus geändert hat. Das Bauen und Pflanzen steht an erster
Stelle. Mitten in dieser bedrohlichen Welt können wir mitbauen an
dieser neuen Wirklichkeit, die Jesus uns gebracht hat: Gemeinschaften,
die vom Geist Gottes belebt sind und für die Menschen ein Wort von
Gott sind, das sie verstehen können. Gemeinschaften des neuen Lebens,
verwurzelt in dem Bund, den Jesus mit uns geschlossen hat, Gemeinschaften
von ansteckender Gesundheit, die in unserer Gegenwart die prophetische
Aufgabe fortsetzen und für die Menschen den guten Plan Gottes für
die ganze Welt repräsentieren.
So wie Gott Jeremia schon gekannt und berufen hat, bevor es ihn
gab, so hat Gott solche prophetischen Gemeinschaften für unsere
gefährliche Zeit geplant. Es ist an der Zeit, dass sie auftauchen
und Gestalt annehmen.