Der Faktor X
Predigt am 14. Mai 2006 zu Apostelgeschichte 16,13-34
In den Berichten aus der ersten Zeit des Christentums erkennt man immer gut, wie sich da ins Handeln der Menschen etwas anderes mischt, nämlich der Einfluss Gottes, der Heilige Geist, die Leichtigkeit der Gnade. Man kann das schlecht auseinander präparieren, was jeweils göttlich und was menschlich ist, das vermengt sich und färbt aufeinander ab, aber es ist ganz deutlich, wie dort überall Gottes Handschrift zu finden ist, wie ein Faktor X, der immer dabei ist.
Dieser Faktor X hebt diese ganzen Geschichten heraus aus allen anderen Geschichten. Ohne ihn ist das immer noch eine schöne, abenteuerliche Geschichte, aber ihr würde das Herz fehlen. Und auf der anderen Seite findet sich ein Echo, ein Abdruck davon auch in dem, was Menschen tun, auch wenn gerade mal nichts Außergewöhnliches passiert. Aber die Menschen leben so, dass dieser Faktor X jederzeit zum Zuge kommen kann – und er tut es dann auch.
Unsere heutigen Erfahrungen mit Religion, mit kirchlichen Räumen, Einrichtungen und Bräuchen müssen wir eher beiseite lassen, wenn wir die Atmosphäre in diesen Geschichten erfassen wollen. Die Ursprungssituationen des christlichen Glaubens wird man nicht verstehen, wenn man unsere heutigen Erfahrungen da hinein trägt.
Ich lese jetzt also etwas vor aus dem 16. Kapitel der Apostelgeschichte. Paulus ist mit Silas und Timotheus und vielleicht noch ein paar anderen unterwegs. Sie sind gerade erstmals aus Kleinasien nach Europa vorgestoßen und kommen nach Philippi, einer römischen Kolonie, wo mitten in Griechenland römische Soldaten angesiedelt worden sind.
Am Sabbat gingen wir vor das Tor an den Fluss. Wir vermuteten dort eine jüdische Gebetsstätte und fanden sie auch. Wir setzten uns und sprachen zu den Frauen, die zusammengekommen waren. 14 Auch eine Frau namens Lydia war darunter; sie stammte aus Thyatira und handelte mit Purpurstoffen. Sie hielt sich zur jüdischen Gemeinde. Der Herr öffnete ihr das Herz, so dass sie begierig aufnahm, was Paulus sagte. 15 Sie ließ sich mit ihrer ganzen Hausgemeinschaft, ihren Angehörigen und Dienstleuten, taufen. Darauf lud sie uns ein und sagte: »Wenn ihr überzeugt seid, dass ich treu zum Herrn stehe, dann kommt in mein Haus und nehmt dort Quartier!« Sie drängte uns, die Einladung anzunehmen.
So wird Weltgeschichte gemacht: dass wir heute von einem christlich geprägten Europa reden, das hat begonnen mit einer Frau, die gut zuhörte – und dann griff Gott ein und tat ihr das Herz auf. Überall in diesen Geschichten stoßen wir auf solche Menschen, kompetente Leute, die Dinge aus ganzem Herzen tun, die nicht «Ja, aber« sagen oder »vielleicht später«, sondern die das Richtige sehen und dann auch danach handeln. Paulus ist einer davon, und er sammelt solche Leute um sich. Und so entsteht in dieser vom Militär geprägten Welt ein Stützpunkt von ganz anderen Kämpfern. Eine kleine verschworene Gemeinschaft, deren Macht nicht aus Gewehren, Exerzierordnungen und Befehlswegen gespeist wird, sondern ihr Potential ist die menschliche und göttliche Substanz in ihnen. So beginnen sie einen Eroberungszug eigener Art:
16 Auf dem Weg zur Gebetsstätte der Juden trafen wir eines Tages eine Sklavin, aus der redete ein Geist, der die Zukunft wusste. Mit ihren Prophezeiungen brachte sie ihren Besitzern viel Geld ein. 17 Die Frau lief hinter Paulus und uns anderen her und rief: »Diese Leute sind Diener des höchsten Gottes! Sie zeigen euch den Weg zur Rettung.« 18 Das ging viele Tage so, bis Paulus es nicht länger anhören konnte. Er drehte sich um und sagte zu dem Geist: »Ich befehle dir im Namen von Jesus Christus: Fahre von ihr aus!« Im gleichen Augenblick fuhr der Wahrsagegeist von ihr aus.
Paulus, Lydia und die anderen lebten in einer Welt, in der Heidentum und okkulte Phänomene selbstverständlich waren. In dieser Umgebung gedieh der Glaube recht gut. Die Leute wussten, dass es eine unsichtbare Welt gibt, die enormen Einfluss auf die materielle Welt hat. Die Leute wussten, dass es wichtig war, ihr Verhältnis zu dieser Sphäre irgendwie zu gestalten. Wir stehen ja im Augenblick in einer Zeit, die auch in dieser Hinsicht der Ursprungssituation des christlichen Glaubens wieder sehr ähnlich wird.
Das Entscheidende war aber die christliche Antwort darauf. Und die bestand in einer Gruppe von Menschen, die Tag für Tag so lebte, dass sie vertraut war mit der Macht Gottes, und als es so weit war, da drehte sich Paulus um und vertrieb den Wahrsagegeist in der Vollmacht Gottes, und die arme Frau, die so lange schon nicht mehr Herr im eigenen Kopf war, die materiell und geistlich ausgebeutet wurde, war frei. Okkultismus ist normalerweise mit der Ausbeutung von Menschen gekoppelt.
Interessant finde ich, dass es bei Paulus lange dauerte, bis es so weit kam. Zwischen diesen dramatischen Szenen hat es auch Zeiten gegeben, in denen äußerlich gesehen nicht viel mehr passierte, als dass sie im Haus von Lydia zusammenlebten, zuhörten, lasen, diskutierten und beteten. Es war eine Art Brutkasten, in der sich die großen Dinge erst vorbereiteten. In der Bibel lesen wir vor allem von den Spitzenereignissen, aber man merkt, dass die sich in der Zeit dazwischen vorbereiten.
Wenn ich überlege, wo man heute etwas ähnliches findet, dann fallen mir die Leute ein, die in Hamburg und anderswo 2001 den Anschlag auf das World Trade Center vorbereitet haben. Da ging es natürlich um etwas anderes, und die hatten das Bild eines Gottes, der nicht liebt, sondern beleidigt und rachsüchtig ist, und der eher auf Waffen und moderne Technik vertraut als auf geistliche Kraft. Aber rein in der Struktur war das gar nicht so weit weg von der Gruppe um Paulus, Silas, Lydia und Timotheus. Die haben da in Hamburg äußerlich ganz unauffällig gelebt, aber mit intensiver Kommunikation untereinander. Sie wussten, dass ihre Umwelt ganz anders denkt, aber sie waren trotzdem überzeugt, dass ihre Sicht richtig ist. Sie haben sich vorbereitet und ganz für ihre Ziele gelebt. Ein Brutkasten. Diese Zelle war eine grausame Karikatur des christlichen Glaubens, aber in diesem Zerrbild kann man immer noch eine ganze Menge davon finden, wie Paulus seine Mission organisiert hat. Wo sind heute die Brutkästen, in denen die geistliche Vollmacht von morgen wächst?
Es gibt keine Wahrheit an sich und als solche, sondern immer nur Wahrheit, die in Menschen lebt. Und wie diese Menschen miteinander leben, das kann die Wahrheit behindern oder unterstützen. Damals im Haus der Lydia haben sie in so einer Gemeinschaft gelebt. Im Grunde ein Kloster, nur ohne dieses ganze Zeug mit Kutten und Mauer drumherum und so. Eine Gemeinschaft mit Gott in der Mitte. Auch heute müssen wir so zusammenleben, dass die Wahrheit unter uns wachsen und stark werden kann. In einem Brutkasten eben. Erst danach wird die Wahrheit auch äußerlich sichtbar. Die entscheidende Frage ist nicht, wie man das dann nach draußen kommuniziert, sondern wie wir im Innern miteinander in der Wahrheit leben.
Die Gruppe um Paulus wird mit der Befreiung der Wahrsagesklavin auch für die Öffentlichkeit sichtbar. Das war nicht geplant und nicht gewollt. Ich glaube, Paulus wusste, auf was er sich da einließ – deshalb hat er lange gezögert, bis er den Geist austrieb und so den Konflikt mit den Ausbeutern der Sklavin aufnahm.
19 Die Besitzer der Sklavin sahen sofort, dass mit dem Geist auch ihre Hoffnung auf Gewinn ausgefahren war. Sie packten Paulus und Silas und schleppten sie zum Marktplatz vor das städtische Gericht. 20 Sie stellten sie vor die beiden Stadtobersten und erklärten: »Diese Menschen hier stiften Unruhe in unserer Stadt. Juden sind sie; 21 sie wollen Sitten einführen, die gegen unsere Ordnung sind und die wir als römische Bürger nicht annehmen dürfen.« 22 Auch die Volksmenge war aufgebracht und verlangte ihre Bestrafung. Die Stadtobersten ließen Paulus und Silas die Kleider vom Leib reißen und gaben Befehl, sie mit Stöcken zu prügeln.23 Nachdem man ihnen viele Schläge verabreicht hatte, brachte man sie ins Gefängnis. Dem Gefängniswärter wurde eingeschärft, sie sicher zu verwahren. 24 Er sperrte sie darauf in die hinterste Zelle und schoss ihre Füße in den Block.
Das ist das Übliche: ein Mix aus Verleumdung und Stimmungsmache, Geschäftsinteressen und dumpfer Fremdenfeindlichkeit, und die Obrigkeit handelt im Sinne des gesunden Volksempfindens. Die römischen Prätoren verstehen nicht annähernd, welche Revolution da wirklich auf sie zukommt, aber sie spüren: irgendwie stören die unsere gewohnte Ordnung, und das darf nicht sein. Am Ende finden sich Paulus und Silas mit blutig geschlagenem Rücken in einer modrigen Zelle wieder, die Füße außerdem in einem Holzblock.
Die Bibel sagt uns nichts über den inneren Zustand der beiden. Jeder kann sich vorstellen, dass das verdammt weh getan hat. Ich glaube, sie brauchten einige Zeit, bis sie sich wieder sortiert hatten. Aber jetzt zeigt es sich wie wichtig es war, dass sie über lange Zeit geübt haben, alles so anzugehen, dass die Kraft Gottes zum Zuge kommen kann.
25 Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und priesen Gott in Lobgesängen. Die anderen Gefangenen hörten zu.
Ich halte diesen Satz für den erstaunlichsten in der ganzen Geschichte. Dass die beiden mit zerschlagenem, schmerzendem Rücken in dieser unbequemen Haltung trotzdem Gott loben, das zeigt auch den anderen Gefangenen, dass hier etwas wirklich Ungewöhnliches präsent ist. Aber in den beiden lebt ja Jesus, der auch geschlagen und beschimpft wurde und trotzdem am Kreuz an Gott festgehalten hat, mitten in Schmerzen und Feindschaft. Der göttliche Faktor X, die Energie des christlichen Glaubens, die scheint tatsächlich auch in solchen Situationen da zu sein. Wahrscheinlich fließt sie da ganz besonders. Das ist das wirkliche Potential des Christentums, aber wir tun alles dafür, dass wir nicht in die Situationen kommen, in denen dieses Potential zu entdecken ist. Darüber schreibt Paulus später im Philipperbrief an diese Gemeinde, wie wir es vorhin als Epistellesung gehört haben (1,29): »Gott hat euch die Gnade erwiesen, nicht nur an Christus zu glauben sondern auch für Christus zu leiden.« Anscheinend erlebten sie dort in Philippi auch später solche Anfeindungen. Und Paulus nennt das Gnade, weil das alles Gelegenheiten sind, Erfahrungen mit dem Leben in der Kraft des Heiligen Geistes zu machen. Es muss nicht immer Leiden sein, und wir sollen es uns nicht wünschen, aber wenn es kommt, dann sollen wir wissen, dass es von Gott aus Gnade ist, wenn wir für Christus leiden müssen. Leiden ist die intensivste Erfahrung der Wirklichkeit, die man machen kann, und Gott will, dass wir mit seiner Kraft der Wirklichkeit begegnen, gerade auch der dunklen und schmerzhaften Wirklichkeit. Wenn wir das tun, dann werden wir ihn immer besser kennenlernen.
26 Da gab es plötzlich ein gewaltiges Erdbeben. Die Mauern des Gefängnisses schwankten, alle Türen sprangen auf, und die Ketten fielen von den Gefangenen ab. 27 Der Gefängniswärter fuhr aus dem Schlaf. Als er die Türen offenstehen sah, zog er sein Schwert und wollte sich töten; denn er dachte, die Gefangenen seien geflohen. 28 Aber Paulus rief, so laut er konnte: »Tu dir nichts an! Wir sind alle noch hier.« 29 Der Wärter rief nach Licht, stürzte in die Zelle und warf sich zitternd vor Paulus und Silas nieder.
Gott antwortet Paulus und Silas, so wie er dem sterbenden Jesus mit der Auferstehung geantwortet hat. Es ist sehr symbolisch: Fesseln und Gefängnis sind die Fundamente des römischen Imperiums, und diese Fundamente werden erschüttert, das Gehäuse zerbricht und gibt Gefangene frei und hinterlässt einen Gefängniswärter, dessen ganze Existenz zerstört ist. Bisher hat er als Rädchen im Getriebe funktioniert, aber jetzt ist das Getriebe kaputt. Er versteht nichts, aber er erwartet eine schreckliche Strafe für sein Versagen. Das Imperium bestraft seine glücklosen Diener grausam. Und er wendet sich am Ende ausgerechnet an seine ungewöhnlichen Gefangenen, die einzig freien Menschen in diesem ganzen Gefängnis.
30 Dann führte er sie hinaus und fragte: »Ihr Herren, was muss ich tun, um gerettet zu werden?« 31 Sie antworteten: »Jesus ist der Herr! Erkenne ihn als Herrn an und setze dein Vertrauen auf ihn, dann wirst du gerettet und die Deinen mit dir!« 32 Und sie verkündeten ihm und allen in seinem Haus die Botschaft Gottes. 33 Der Gefängniswärter nahm Paulus und Silas noch in derselben Nachtstunde mit sich und wusch ihre Wunden. Dann ließ er sich mit seiner ganzen Hausgemeinschaft, seiner Familie und seinen Dienstleuten, taufen. 34 Anschließend führte er die beiden hinauf ins Haus und lud sie zu Tisch. Er und alle die Seinen waren überglücklich, dass sie zum Glauben an Gott gefunden hatten.
So sieht es aus, wenn der Bann weicht, die Dunkelheit vergeht und ein Mensch herausfindet aus dem Gehäuse, in dem sein Leben eingepfercht war. Ein Gefängniswärter, der selbst am unfreisten ist, und Gefangene, die ihm die Freiheit bringen. Die Dinge sind in Wirklichkeit nicht so, wie sie aussehen. Die Bibel ist ein Buch, in dem wir lernen sollen, die Realität zu sehen, wie sie wirklich ist, damit wir unsere Illusionen verlieren.
Und zurück bleibt Freude, Wunden werden verbunden, es wird gefeiert, es gibt zu essen. Gott will, dass Menschen aus ihrem Lebensgehäuse befreit werden, in dem sie bis dahin eingesperrt waren. Die Taufe ist ein Zeichen dafür, dass man das Alte hinter sich lässt und auszieht in ein neues Land. In ein Leben, in dem künftig der Faktor X die wichtigste Rolle spielen wird. Die Kraft Gottes, die Gegenwart des Heiligen Geistes. X ist im Griechischen der Anfangsbuchstabe von Christus.
Was wir das christliche Europa nennen, das ist geboren worden in solchen Gruppen des neuen Lebens, die sich in den Ritzen des römischen Imperiums ausgebreitet und vermehrt haben. Eine unaufhaltsame Kraft, gegen die Verfolgungen machtlos waren. Dieses Guerillachristentum hat in der demütigen Kraft der göttlichen Liebe die Welt durchdrungen. Und die ganzen Werte, von denen heute dauernd geredet wird, die sind mehr oder weniger klare Ausstrahlungen dieses Ereignisses.
Deswegen muss niemand das Christentum verteidigen – das hat es nicht nötig – aber wir müssen es leben. Man verteidigt das Christentum, indem man es in der Vollmacht des Heiligen Geistes in der realen Welt lebt. Wir brauchen diese Brutkästen, in denen die Vollmacht heranreift, bis sie dann an die Öffentlichkeit treten kann. Wir brauchen diese Trupps von Leuten, die in unauffälligen Zellen für das Eine beten, lesen, diskutieren, arbeiten. Wir brauchen die Menschen, die so miteinander leben, dass in ihrer Mitte die Wahrheit Gestalt annehmen kann und der Faktor X ins Spiel kommt. Wir brauchen es, dass unsere Lebensgehäuse aufgesprengt werden, damit wir unsere Illusionen hinter uns lassen und wir anhand der alten Geschichten die Wirklichkeit kennenlernen.
Liebe Freunde, wir sind an dem Punkt, wo man eigentlich nicht mehr weiterkommt, indem man von der Kanzel redet oder etwas schreibt. Es gibt einen Punkt, wo es nur weitergeht, wenn einige anfangen und andere weitermachen.