Nicht die Symptome, sondern den Kern
Predigt am 14. April 2006 (Karfreitag) zu Hebräer 9,13-15.26b-28
13 Menschen, die im Sinn der religiösen Vorschriften unrein geworden sind, werden durch Besprengung mit dem Blut von Böcken und Stieren und der Asche einer Kuh äußerlich von ihrer Befleckung gereinigt. Wenn das Blut der Tiere diese Kraft hat, 14 um wieviel mehr wird dann das Blut von Christus uns im Innern reinigen von den Folgen unseres Götzendienstes, so dass wir dem lebendigen Gott dienen können! Denn in der Kraft des ewigen göttlichen Geistes hat Christus sich selbst als fehlerloses Opfer Gott dargebracht.
15 Deshalb kommt auch durch Christus der neue Bund zustande, damit alle, die Gott berufen hat, das zugesagte ewige Erbe empfangen. Christus ist in den Tod gegangen, um sie von den Folgen ihres Ungehorsams unter dem ersten Bund zu erlösen.
…
Jetzt, am Ende der Zeiten, ist er erschienen, um ein für allemal die Sünde der Welt dadurch fortzuschaffen, dass er sich selbst zum Opfer brachte. 27 So wie jeder Mensch nur einmal sterben muss, danach kommt er vor Gottes Gericht, 28 so wurde auch Christus nur einmal geopfert, um die Sünden aller Menschen wegzuschaffen. Wenn er zum zweitenmal erscheint, dann nicht nochmals wegen der Sünde, sondern nur noch, um alle, die auf ihn warten, endgültig zu retten.
Der Hebräerbrief ist ein Text, der stark mit der Bildwelt des Alten Testaments arbeitet, wo die Opfer und der Tempel eine zentrale Rolle spielen. Damals war das der normale Denkhorizont, aber für uns ist das sehr fremd und ungewohnt, und wir müssen erst verstehen, worum es da eigentlich geht. Opfer sind ein Hinweis darauf, dass irgendwas in der Welt klemmt. Irgendwas stimmt nicht. So wie Menschen manchmal sagen: „Verstehen Sie das, weshalb die jetzt schon wieder schießen und sich gegenseitig die Köppe einschlagen? Ich verstehe nicht, was da los ist. Können sich die Menschen denn nicht einfach vertragen?“
Aber offensichtlich besteht das Problem darin, dass Menschen das eben nicht einfach so mal können. Irgendwie klappt das nicht, obwohl doch eigentlich alle sich nichts stärker wünschen müssten, als friedlich beieinander zu leben. Aber anscheinend ist das geheime Lebensmotto der Menschheit: „Probleme schaffen – mit und ohne Waffen“.
Es gibt eine Störung, die sich immer wieder bemerkbar macht. Und die kostet uns Kraft. Man muss nach einem Krieg zerstörte Häuser wieder aufbauen und Tote begraben, man muss nach einem Krach im privaten Bereich das zerschlagene Porzellan kitten, man muss im Zusammenleben mit schwierigen Menschen Kraft aufbringen, damit die sich wieder beruhigen, wir müssen die Haustür und das Fahrrad abschließen, weil sonst etwas fehlen könnte.
Wir brauchen Polizei und Krankenhäuser und Kliniken und Gefängnisse und Beratungsstellen und Sozialämter und Versicherungen und noch vieles andere mehr, um all das zu korrigieren, was bei uns schief läuft. Lauter Institutionen und Menschen, die sozusagen den Ausputzer machen und wieder in Ordnung bringen, was Probleme macht. Die sich um die Risse und Widersprüche und ihre Folgen kümmern, damit Menschen dem allen nicht schutzlos und hilflos ausgesetzt sind und damit diese Unordnung unter Kontrolle bleibt.
Immer wieder klemmt es irgendwo, und man muss Energie aufwenden, Kraft und Geld, um das wieder in Ordnung zu bringen. Kraft, Lebensenergie, die wird bei uns ja vor allem über das Geld verteilt. Und dann stöhnen sie alle und sagen: die Steuern und die Sozialabgaben sind viel zu hoch, wir wollen das nicht tragen, wir wollen nicht die ganze Energie in die Institutionen pumpen, die die gesellschaftlichen Problemzonen beackern.
Aber diese gesellschaftlichen Problemzonen, die dunklen Seiten unserer Welt, die bearbeitet man in anderen Kulturen und in anderen Zeitaltern nicht mit Sozialarbeitern und Ärzten, sondern mit Priestern, mit religiösen Zeremonien und mit Opfern. Jetzt können wir vielleicht verstehen, worum es bei Opfern geht.
Opfer symbolisieren, dass dieser Riss in der Welt, dieses unverständliche Unerklärliche, was dauernd Probleme schafft, dass das immer wieder Lebensenergie kostet. Opfer symbolisieren den Preis, den wir zahlen, damit die zerstörerische Unordnung eingedämmt wird. Wer religiöse Opfer bringt, der hofft, damit um andere Probleme herumzukommen.
So wie wir heute für Krankenhäuser und Gefängnisse zahlen, so zahlten die Menschen damals für Opfertiere, die geschlachtet wurden und deren Blut vergossen wurde. Blut bedeutet Lebensenergie. Und wenn die Tiere geopfert wurden, dann war diese Lebensenergie verloren, man konnte sie nicht mehr essen. Und da, wo man keine Tiere opfert, da vergoldet man Statuen oder stiftet den Tempeln große Summen, die dann auch verloren sind. Dafür hat man dann aber die Hoffnung, dass zunächst einmal wieder die Welt in Ordnung gekommen ist und die Götter wieder gnädig auf die Menschen blicken. Und das war den Menschen die Sache wert. So wie wir hoffen, dass wir in Sicherheit leben können, wenn nur Polizei und Krankenkasse funktionieren, und dafür sind wir auch bereit zu zahlen, jedenfalls in gewissem Maß.
Es gehört aber zu den Eigentümlichkeiten sowohl von Opfern als auch von Steuern und Sozialabgaben, dass sie die Probleme nie ein für allemal aus der Welt schaffen. Das ist ein Kreislauf ohne Ende. Im Tempel müssen immer wieder die gleichen Rituale vollzogen werden, und der Staat und die Sozialkassen hatten jedes Jahr wieder die Hand auf. Die Störung, die es offensichtlich in der Welt gibt, die wird nie wirklich geheilt, sondern immer nur provisorisch begrenzt. Die Wunde wird gereinigt und verbunden, aber sie wächst nicht zu und fängt bei jeder Gelegenheit wieder an zu eitern.
Soweit zu den Gemeinsamkeiten von religiösen Opfern und modernen Sozialdiensten. Der Unterschied liegt darin, dass in religiösen Opfern ganz ausdrücklich dargestellt wird, dass an dem allen eine höhere Instanz beteiligt ist, Gott oder die Götter. Für die große Mehrheit der Menschen in der ganzen Welt ist es auch heute klar: da hängt eine höhere Instanz mit drin, und weil wir zu der irgendwie ein gestörtes Verhältnis haben, deshalb klappt es auch hier auf der Erde nicht richtig. Nur in einigen wenigen Ländern hier in Westeuropa versuchen die meisten Menschen, diese Störung in der Welt ganz ohne den Rückgriff auf Gott zu verstehen, und das endet dann in solchen Fragen: „Verstehen Sie das, weshalb die Leute alle so verrückt sind?“.
Ich denke, dass die überwiegende Mehrheit der Menschheit einfach Recht hat, wenn sie die Ursache für die Probleme in der Welt irgendwie im Zusammenhang mit einer höheren Instanz sieht. All diese Störungen und Zerstörungen in der Welt sind kein Zufall, sondern sie zeigen an, dass es schon auf einer grundlegenderen Ebene nicht stimmt. Eigentlich müssten wir ganz anders leben, ganz anders denken, ganz andere Menschen sein, aber solange wir das nicht sind, solange können wir nicht einfach mal vernünftig sein und keine Probleme schaffen.
Opfer legen den Finger in diese Wunde, sie halten die Erinnerung wach, dass wir eigentlich für ein anderes Leben geschaffen sind, für ein Leben, das nicht diese ganzen Probleme erzeugt, sondern von Anfang bis Ende im Sinn Gottes ist. Aber sie können es nicht besser machen. Sie können höchstens andeutungsweise die Richtung angeben, wie denn ein richtiges Leben aussehen würde, in dem wir einander fördern, helfen, lieben und bereichern, und sie können erst recht nicht sagen, wie wir dafür denken müssten.
Deshalb sagt der Hebräerbrief: die religiösen Opfer bringen das Problem für eine gewisse Zeit zur Ruhe, stattdessen müsste es eigentlich gelöst werden, nur geht das nicht mit diesem Flickwerk der Religion. Da müsste Lebensenergie noch in ganz anderem Maß reingepumpt werden, damit das endgültig geheilt wird. Und das ist ja geschehen: Jesus hat sich selbst geopfert, er hat nicht Dinge oder Geld oder Tiere geopfert, sondern sich selbst eingesetzt. Ich lese die Stelle noch mal vor:
Menschen, die im Sinn der religiösen Vorschriften unrein geworden sind, werden durch Besprengung mit dem Blut von Böcken und Stieren und der Asche einer Kuh äußerlich von ihrer Befleckung gereinigt.
Nur das heilt nicht den Kern des Problems! Aber:
Wenn das Blut der Tiere diese Kraft hat, 14 um wieviel mehr wird dann das Blut von Christus uns im Innern reinigen – also im Kern reinigen – von den Folgen unseres Götzendienstes, so dass wir dem lebendigen Gott dienen können!
Was ist da passiert? Jesus hat nicht für eine vordergründige Entlastung gesorgt, er hat nicht Symptome bekämpft, sondern er ist zum Kern des Problems vorgedrungen, der falschen Grundausrichtung des Lebens. Sein Leben und sein Sterben berühren uns an dieser Schaltstelle, wörtlich steht da: er reinigt das Gewissen von den toten Werken. Wir denken bei Gewissen immer gleich an das schlechte Gewissen voller Schuldgefühle, aber es geht hier eigentlich um die Grundausrichtung des Lebens, um unsere Vorstellung davon, was ein gutes Leben ist, und erst dann um die Kontrolle, ob wir auch in Übereinstimmung mit dieser Grundausrichtung leben.
Jesus sorgt also mit seinem Leben und Sterben dafür, dass unsere Grundausrichtung befreit wird zu einem Leben, das Gott dient, ihm gefällt und seine Absicht mit der Welt endlich verwirklicht. Jesus durchtrennt die Bindung an alles, was tot ist und kein Leben bringt. Wenn wir uns von Gott abwenden, dann suchen wir das Leben in anderen Dingen, in der Anerkennung der Menschen, in Macht, Geld, Zeitvertreib, Süchten und wer weiß noch alles. Das alles wird hier tote Werke genannt, weil wir daraus kein echtes Leben gewinnen, nicht das Leben, für das wir bestimmt sind, sondern nur billigen Ersatz.
Religion kann uns davon nicht endgültig befreien, Religion kann dazu immer nur sagen: nein, nein, verboten, und dann tun es die Leute doch, bloß mit schlechtem Gewissen. Jesus macht es anders: er bleibt nicht im Negativen stehen, sondern er verkörpert die Alternative. Er repräsentiert das neue Leben, er öffnet uns den Weg dahin, er sagt: wäre es nicht viel besser, so zu leben, wie ich es euch zeige? Komm, lass diese ganzen toten Hoffnungen sein und komm mit mir. Hier ist ein Platz für dich! Das erst gibt der Sünde den Todesstoß. Denn wer ist immun gegen Sünde? Doch nicht der, der dauernd darüber nachdenkt, was er nicht darf, sondern der, der etwas Besseres hat, das ihn ganz ausfüllt.
Aus diesem Geist der besseren Alternative heraus geht z.B. der Epheserbrief (5,18) mit dem Problem der Sucht um. Da heißt es einmal: „Sauft euch nicht voll Wein, sondern lasst euch vom Geist erfüllen!“. Wer vom Geist erfüllt ist, wird frei vom Alkohol, weil er etwas Besseres hat, und daneben ist kein Platz für Schlechtes. Und das gilt generell, nicht nur in diesem speziellen Fall. Jesus zeigt uns für das ganze Leben eine viel bessere Alternative. Wenn wir uns daran orientieren, dann löst sich das Problem der Sünde ganz von allein. Die ist dann gar nicht mehr attraktiv.
Und wir warten dann nur noch darauf, dass Jesus zurückkommt, dass wir das neue Leben nicht mehr in dieser Welt der Kriege und Krankheiten leben müssen, sondern in der neuen Welt, die nur noch so funktioniert, wie Gott es gewollt hat. Das ist die Welt, für die wir geschaffen wurden, das ist die Welt, nach der wir uns sehnen, das ist die Welt, von der eigentlich jeder Mensch etwas ahnt, aber nicht jeder beachtet diese Ahnung und geht ihr nach.
Aber wir müssen uns nicht mehr mit billigem Ersatz durchschlagen. Das echte Leben ist erschienen, das Leben, an dem Jesus sich sogar im bitteren, grausamen Sterben festgehalten hat und das von Gott bestätigt wurde.
Wir sind nicht mehr darauf begrenzt, die Symptome immer neu zu lindern, sondern wir können jetzt schon nach dem Muster der neuen Welt leben, und Jesus hat gezeigt, dass dieses Leben auch in Gewalt und Tod standhalten kann.