Das Muster, nach dem Gott an uns arbeitet
Predigt am 9. April 2006 zu Jesaja 50,4-9
4 Gott, der HERR, hat meine Zunge in seinen Dienst genommen, er zeigt mir immer neu, was ich sagen soll, um die Müden zu ermutigen. Jeden Morgen läßt er mich aufwachen mit dem Verlangen, ihn zu hören. Begierig horche ich auf das, was er mir zu sagen hat.
5 Er hat mir das Ohr geöffnet und mich bereit gemacht, auf ihn zu hören. Ich habe mich nicht gesträubt und bin vor keinem Auftrag zurückgescheut. 6 Ich habe meinen Rücken hingehalten, wenn sie mich schlugen, und mein Kinn, wenn sie mir die Barthaare ausrissen. Ich habe mich von ihnen beschimpfen lassen und mein Gesicht nicht bedeckt, wenn sie mich anspuckten.
Sie meinen, ich hätte damit mein Unrecht eingestanden; 7 aber der HERR, der mächtige Gott, steht auf meiner Seite. Deshalb mache ich mein Gesicht hart wie einen Kieselstein und halte alles aus. Ich weiß, dass ich nicht unterliegen werde.
8 Ich habe einen Helfer, der meine Unschuld beweisen wird; er ist schon unterwegs. Wer wagt es, mich anzuklagen? Er soll mit mir vor den Richter treten! Wer will etwas gegen mich vorbringen? Er soll kommen! 9 Der HERR, der mächtige Gott, tritt für mich ein. Wer will mich da verurteilen? Alle, die mich beschuldigen, müssen umkommen; sie zerfallen wie ein Kleid, das von Motten zerfressen ist.
Ist das nicht Wahnsinn, dass einer so etwas aufgeschrieben hat gut 500 Jahre vor Jesus? Es ist im Grunde eine Kurzfassung der Geschichte von Jesus: Einer, der die Menschen aufrichtet, der die Worte dazu von Gott bekommt, der einen Preis dafür bezahlen muss, weil man sich seltsamerweise nicht beliebt macht, wenn man Menschen hilft, aufrecht zu gehen; und der fest darauf vertraut, dass Gott ihn am Ende bestätigen wird gegen alle seine Feinde. Und all das Jahrhunderte vorher aufgeschrieben.
Jesus hat sozusagen schon Jahrhunderte vorher seinen Schatten vorausgeworfen. Nein, natürlich nicht seinen Schatten, sondern sein Licht. Und damals schon haben Leute etwas gewusst von diesem Zusammenhang: wie wichtig es ist, dass es jemand gibt, der mit den Müden reden kann, mit denen, die vom Leben ausgelaugt sind, die alles schwarz sehen, aber dann kommt jemand und redet so mit ihnen, dass die Welt anders aussieht.
Genau das ist ja damals bei Jesus passiert: wenn die Leute von ihm kamen, dann hatten sie sich durch seine Worte eine neue Perspektive bekommen. Worte sind mächtige Werkzeuge, mit denen Menschen umgewandelt werden können, wenn einer dieses Werkzeug gebrauchen kann.
Im Laufe der Geschichte Israels hat sich diese Struktur herauskristallisiert, die Erfahrungen vieler Menschen haben sich da verdichtet, es war eine Vorbereitung, damit die Menschen Jesus verstehen konnten, wenn er eines Tages kommen würde. Deshalb sagt Jesus immer wieder, dass seine Geschichte im Alten Testament schon beschrieben ist, wenn auch noch verschlüsselt. Aber wenn man das nebeneinander hält, dann erklärt es sich gegenseitig, ganz wunderbar. Und man merkt, wie Gott in dieser ganzen Zeit beständig nach demselben Muster arbeitet.
Es geht um die Entdeckung der Stärke, die aus dem Hören auf Gottes Stimme kommt. Wir sind nie stärker und furchtloser, als wenn wir die feste Gewissheit haben, dass Gott zu uns redet, dass wir den Weg gehen, den er uns zeigt, dass er uns unterstützt und leitet und dass ihm unser Leben gefällt. Jesus hat aus dieser Gewissheit gelebt.
Glauben bedeutet nicht: ein System von Lehrsätzen für wahr halten, sondern es bedeutet: in einer lebendigen Beziehung leben. Alle Lehrsätze und auch die Bibel selbst sind dazu da, dass wir Gottes Stimme heute erkennen und heraushören. Und dass wir das dann selbst weitergeben, damit Menschen ihre Lebenserschöpfung hinter sich lassen können und mit neuer Freude und Neugier auf das Leben zugehen.
Ich habe Lieblingsbücher, in denen ich mir bestimmte Sätze makiert habe, Sätze voller Kraft, damit ich sie finde, wenn ich sie brauche. Machen Sie das auch? Und haben Sie schon mal erlebt, dass Sie sich einen Satz markiert haben, weil er so toll war, und dann liest man ihn nach drei Monaten wieder, und man fragt sich: wieso war ich von diesem Satz so begeistert? Sicher, er ist richtig und wahr, aber es ist nicht mehr Kraft darin als in vielen anderen Sätzen, und er bringt mich nicht unbedingt zum Jubeln.
Sehen Sie, das ist mit dem ᅵlebendigenᅵ Wort gemeint: was gestern Kraft war, das ist heute nur noch richtig, aber irgendein anderes Wort kann uns stattdessen begeistern.
Aber solche Worte sind nicht zum Nulltarif zu haben: in dieser Welt, die Menschen die Kraft aus den Knochen saugt, bleiben sie nicht unwidersprochen. Auf jeden Fall sind sie geboren aus harten Auseinandersetzungen, geboren im Kampf um Menschen, die am liebsten Linderung oder Trost hätten, aber keine Veränderung. Und bei Jesaja ist davon die Rede, dass einer geschlagen wird, dass man ihm ins Gesicht spuckt und ihm als Symbol der Erniedrigung den Bart ausreißt.
Gerade diese starken, lebenswendenden Worte werden oft gesprochen von Menschen, die äußerlich wehrlos sind, verletzlich und angegriffen. Und ihnen bleibt nichts anderes, als zu hoffen, dass Gott sich zu ihnen stellt und sie am Ende bestätigen wird.
Das ist die Struktur bei Jesaja, bei Jesus, bei seinen Jüngern, und auch danach immer wieder. Allein schon diesem Muster zu begegnen, ist für uns ermutigend und tröstlich. Es gibt uns Kraft.
Das funktioniert auch heute noch. Ich bin im Internet auf einen Dialog gestoßen, wo sich zwei Frauen über einen Film unterhalten, und die eine schreibt: „ich habe im Mai letzen Jahres unser Kind verloren, und dieser Film hat mir mehr als alle Therapien geholfen!“. Und die andere sagt: „Ja, dieser Film hat mir geholfen über den Tod meiner Mutter wegzukommen“. Und der Film, von dem sie reden, hat genau dieses Muster, das man schon bei Jesaja findet. Und deshalb will ich Ihnen die Geschichte erzählen.
Es ist ein wunderschönen Film, den man eigentlich sehen muss, aber ich versuche, die Geschichte so gut wie möglich zu erzählen.
Da ist ein kleiner Junge, der in einem Weizenfeld Geige spielt. Er träumt davon, „Musik zu machen, die die Herzen der Menschen öffnet.“ Dreißig Jahre später ist aus dem kleinen Jungen der weltberühmte Dirigent Daniel Dareus geworden. Aber er hat sich in seinem Erfolg verloren, er hat seinen Traum verloren. Erst als er mitten in einem Konzert einen schweren Herzinfarkt bekommt, geht er auf eine weite Reise, zurück in sein Heimatdorf in Nordschweden. Er kauft die alte Volksschule und will dort in der Einsamkeit wieder zu sich kommen.
Als er durch die seit langem leer stehenden Räume seiner alten Schule geht, kommt der Pfarrer der Gemeinde, um ihn zu begrüßen. Äußerlich ist er freundlich und verbindlich, aber Daniel wird kalt in dieser Begegnung.
Als er abends am Gemeindehaus vorbeikommt, hört er Gesang. Der Kirchenchor probt dort, und sie fühlen sich sehr geehrt, als der berühmte Dirigent das verhaltene Lob ausspricht „da ist vieles ziemlich schön“. Er lässt sich überreden, den Chor zu leiten.
Er versucht ihnen zu erklären, worum es ihm bei der Musik geht, aber sie verstehen ihn nicht. Was soll das bedeuten, wenn er sagt, dass die Musik überall vibriert, und wir müssten nur zuhören und bereit sein, sie von dort oben herunterzuholen?
Erst nach und nach kann er sich besser verständlich machen und gemeinsam mit den Mitgliedern des Chores die Musik entdecken, nach der er sucht. Langsam merken die Chormitglieder, dass sie hier etwas ganz anderes erleben, als sie bisher kannten. Sie lassen sich von der Begeisterung ihres Dirigenten anstecken und werden immer mehr zu einer Gemeinschaft, die nicht mehr an der Oberfläche bleibt, sondern wo sich die Herzen öffnen. Aber da kommen auch Schmerzen, Verletzungen und Konflikte ans Licht und müssen gemeinsam durchlitten werden.
Aber immer wieder feiern sie auch miteinander – die Begeisterung und die Freude, die sie erleben, hält sie zusammen.
Dann bereitet sich der Chor auf das erste Konzert vor, und die Konflikte spitzen sich zu. Für Gabriella z.B. ist der Chor der einzige Zufluchtsort, weil sie zu Hause von Conny, ihrem tyrannischen Ehemann eingeschüchtert wird. Voll Eifersucht holt er sie manchmal sogar aus dem Chor weg. Alle wissen, dass er sie schlägt, aber jetzt hat sich etwas geändert. Die andern im Chor schauen nicht mehr weg.
Daniel hat extra für sie ein Lied geschrieben, und sie bringt den Mut auf, dabei die Solostimme zu singen. Beim Konzert wächst sie über sich hinaus, sie singt sich frei und beeindruckt alle tief. Spätestens da merken die Menschen in dem kleinen Dorf, dass mitten unter ihnen große Dinge begonnen haben.
Aber zu Hause muss Gabriella einen hohen Preis dafür bezahlen, denn ihr Mann schlägt sie nach diesem Konzert erst recht. Erst später ist der Chor soweit, dass er sie wirklich schützen kann. Auch Daniel wird von dem eifersüchtigen Conny zusammengeschlagen und beinahe im Fluss ertränkt.
Aber er macht auch viele neue Erfahrungen in dieser Zeit. Während er die Menschen mit seiner Musik ermutigt, wird er auch selbst freier und merkt, wie er beginnt, die Menschen zu lieben – auf einer tieferen Ebene als in der Schicki-Micki-Welt, aus der er kommt. Vielleicht hat er das schon immer getan, aber jetzt erlebt er es wirklich.
Aber die Auseinandersetzungen sind nicht zu Ende. Voll Eifersucht hat Siv, eine von den Sängerinnen, beobachtet, wie Daniel und Lena, eine andere aus dem Chor, sich vorsichtig näher gekommen sind. Jetzt wird sie sozusagen zum Judas, geht zum Pfarrer und liefert ihm einen Grund, den Kantor zu entlassen.
Die Freundlichkeit des Pfarrers ist immer nur Oberfläche gewesen. In Wirklichkeit hat er die Entwicklung des Chores mit Ablehnung beobachtet und ist froh, dass er dem nun endlich ein Ende machen kann.
Aber es ist zu spät. Die Sänger verbindet zu viel; sie wollen sich das, was sie erlebt haben, nicht nehmen lassen, sie verlassen das Gemeindehaus und singen von nun an in der alten Volksschule. Aus dem Chor ist eine Gruppe von freien Menschen geworden, die sich den dunklen Seiten ihres Lebens gestellt und genügend Kraft gefunden haben, um sich von niemandem mehr unterdrücken zu lassen.
„Wie im Himmel“ heißt der Film. Wenn Sie ihn noch nicht kennen: Sehen Sie ihn sich an, es lohnt sich!
Auch hier wieder eine Geschichte nach diesem Grundmuster: da ist einer, der so reden kann, dass die Menschen ermutigt werden, frei werden. Aber auch er muss dazu hören. Und er kommt nicht unbeschädigt heraus aus diesem Abenteuer. Er muss Angriffe und Anfeindungen durchstehen, er wird zusammengeschlagen, und er bleibt nicht derselbe. Er lernt selbst auf eine neue Art zu leben. Und wenn Menschen so eine Geschichte auch nur sehen, im Kino, noch nicht einmal selbst erlebt, dann fühlen sie sich getröstet, mehr als durch alle Therapien. Einfach zu wissen: mitten unter uns, wo es manchmal so traurig ist, gibt es solche Geschichten, und sie haben ein gutes Ende. Trotz aller Gefahren und aller Schmerzen gehen sie gut aus. Auch wenn man zwischendurch nicht weiß, wie es am Ende sein wird, wenn man warten muss, wenn man bangen muss.
Denn das alles geht ja nicht, ohne dass man in Auseinandersetzungen hineingerät. In dieser unfriedlichen Welt muss man hart darum kämpfen – und es ist trotzdem zuerst und zuletzt ein großes Geschenk. Auf diesem Weg gehen, das können wir, weil Jesus ihn freigemacht hat, weil er vorangegangen ist, weil seine Gestalt ihr Licht nach vorn und nach hinten wirft, und weil Gott diesen Weg bestätigt hat. Als Gott Jesus auferweckte, da hat er gleichzeitig auch sein Ja zu all den Befreiungsgeschichten gesprochen, die wir im Windschatten Jesu erleben. Er hat gesagt: nach diesem Muster läuft meine Geschichte mit euch, und wenn ihr dabei bleibt, dann werde ich sie im Großen und im Kleinen zu einem guten Ende bringen. Das ist meine Art, die Welt zu regieren.
Und so produziert dieses Schema immer wieder neue Wirklichkeit. Immer wieder lassen sich Menschen auf diesen Weg Gottes ein, sogar Menschen, die ihn unter seinem wahren Namen gar nicht kennen, und auch sie werden nicht enttäuscht.
Als Jesus nach Jerusalem hineinritt, da haben die Menschen endlich mal an der richtigen Stelle gejubelt. Er ist der König, der den Schlüssel zu den Menschenherzen hat, und damit den Schlüssel zur Welt.