Das geheime Zentrum

Predigt am 9. Dezember 2007 (2. Advent) zu Jesaja 64,1-3

2007-12-09gdlogo_514

Im Gottesdienst waren vorher drei kurze Szenen zu sehen, auf die sich die Predigt bezieht.

1 Komm plötzlich, komm mit großer Macht, wie die Flammen trockenes Reisig ergreifen und das Wasser im Kessel zum Sieden bringen! Deine Feinde sollen erfahren, wer du bist; die Völker sollen vor Angst vergehen. 2 Vollbringe Taten, die uns staunen lassen und noch unsere kühnste Erwartung übertreffen! Komm herab, dass die Berge vor dir erbeben! 3 Noch nie hat man von einem Gott gehört, der mit dir zu vergleichen wäre; noch nie hat jemand einen Gott gesehen, der so gewaltige Dinge tut für alle, die auf ihn hoffen.

Dass Jesus einer von uns wird, das ist das Zentralereignis der Welt. Gott übersetzt sich in ein Menschenleben, er zeigt durch Jesus, was wirkliches Leben ist. Und das ist so ein fundamentales Ereignis, dass es eine Ausstrahlung durch die ganze Welt hat. Jesus ist das geheime Zentrum der Welt, und wir haben in diesem Gottesdienst drei Personen kennengelernt, die von ihm beeinflusst sind, ohne es überhaupt zu ahnen.

Da war ganz am Anfang der Wissenschaftler. Die Wissenschaft hat bei uns eine Tradition, die sich vom Glauben eher kritisch abgrenzt. Wir wollen keine Bevormundung durch die Kirche – unter diesem Motto haben Menschen dann ganz auf die Vernunft gesetzt. Und auf diese Weise haben wir viel erfahren über die Welt, wir haben ganz viel erforscht und herausgefunden. Aber die Frage ist ja, woher eigentlich dieses Engagement für die präzise Erforschung der Wirklichkeit kommt. Die alten Griechen und Römer haben sich viele Gedanken über die Welt gemacht, aber sie haben keine zielgerichteten Experimente durchgeführt. Die Dreckarbeit haben sie ihre Sklaven machen lassen.

Diese Zuwendung zur Materie ist eigentlich erst denkbar, wenn Gott hineinkommt in diese schmutzige Welt und hier Fleisch annimmt, menschliches Fleisch. So wichtig war Gott die Erde, dass er ein Mensch wurde, der aus Erde gemacht ist. Wenn Gott aber die Materie so ernst nimmt, dann kann man sich auch als Mensch ihr zuwenden, sie ernst nehmen und erforschen. Und dann bekommt die menschliche Arbeit einen Wert und eine Würde, die sie vorher nicht hatte. Gerade in vielen Klöstern des Mittelalters ist beides geschätzt worden: Wissen und Arbeit.

Die neuzeitliche Wissenschaft hat also eigentlich Impulse aufgenommen und verstärkt, die im Christentum schon angelegt waren. Aber sie hat es in Opposition zum offiziellen Christentum getan. Das ist ein Phänomen, auf das man immer wieder stößt: christliche Impulse setzen sich manchmal fort in Bewegungen, die äußerlich ganz unchristlich, ja antichristlich aussehen. Und das schadet dem Christentum, weil die Kraft dieses Impulses dann fehlt. Es schadet aber auch diesen Bewegungen, weil die Wahrheit, die sie vertreten, von ihren Wurzeln abgeschnitten ist. Und das kann dann sehr problematisch werden. Alle Vernunft hat die Wissenschaft nicht davor geschützt, schreckliche Waffen zu erfinden. Und die Umweltzerstörung, vor der wir jetzt stehen, die verdanken wir auch einer Technik, die blind war für das, was sie in der Schöpfung angerichtet hat.

Trotzdem – es ist eben kein Zufall, dass die ganze neuzeitliche Technik und Wissenschaft auf christlichem Boden entstanden ist. Hier gab es diese Beweglichkeit im Denken, die man braucht, um zu forschen und zu erfinden, diese Stärke und Beharrlichkeit, und auch den Mut, Neues zu denken und traditionelle Wege zu verlassen. Das alles ist ein Erbe Jesu, und auch wer sagt: ich arbeite einfach nur mit meiner Vernunft, der bedient sich trotzdem aus diesem Erbe. Auch wenn er es nicht weiß. Jesus, das geheime Zentrum der Welt.

Dann hatten wir da, zweitens, die Frau, der es so sehr um Gerechtigkeit in der Welt ging. Und ich glaube, da ist es noch viel deutlicher, wie sehr das ein Impuls aus dem christlichen und jüdischen Erbe ist. Man muss sich nur daran erinnern, dass es im Altertum völlig normal war, wenn Menschen ungerecht, schlecht oder grausam behandelt wurden.

Heute machen uns Computerspiele Sorge, wo Monster und Zombies brutal hingemetzelt werden, und auf dem Bildschirm fließt das virtuelle Blut in Strömen. Damals ging man in die Arena und schaute sich an, wie echte Gladiatoren sich gegenseitig an die Gurgel gingen, und wenn einer unten lag, dann schrie das Publikum noch: mach ihn fertig, spring auf ihn rauf, kill ihn! Und keiner fand das schockierend, sondern das war ganz normal.

Wenn eine Stadt erobert wurde, dann wurden die Bewohner entweder abgeschlachtet oder in die Sklaverei verkauft oder beides. Keiner regte sich darüber auf, das war eben so. Ein Menschenleben war wenig wert, und die Folge war, dass die Bevölkerung nicht wuchs, sondern eher zurückging. Ein Sklave hatte keine Rechte, der hatte eben Pech gehabt. So war das schon immer. Wieso sollte man sich darüber Gedanken machen?

Aber da haben die Christen etwas ganz Neues in die Welt gebracht, eine andere Art zu leben. Die Christen wussten, wieviel ein Mensch in Gottes Augen wert ist. Deshalb kümmerten sie sich umeinander und um ihre heidnischen Nachbarn gleich mit. Sklaven waren bei den Christen genauso wertvoll wie Freie. Und im Lauf der Zeit beeinflusste das die Werte der Gesellschaft. Und heute haben wir die Menschenrechte, die jedem Menschen eine eigene Würde und ein Recht auf sein Leben zusprechen. Auch da wieder: es ist kein Zufall, dass das Konzept der Menschenrechte auf christlichem Boden entstanden ist. Andere Kulturen tun sich da viel schwerer mit.

Verstehen sie mich recht, die Verkündung der Menschenrechte bedeutet noch nicht, dass die auch immer eingehalten werden. Aber wir empfinden es heute als falsch und verbrecherisch, wenn Bevölkerungen niedergemetzelt werden oder wenn Menschen andere Menschen nur zum Spaß umbringen. Und das ist schon ein Unterschied.

Erst von diesem christlichen Impuls her kann man sich darüber empören, wenn Menschen unwürdig behandelt werden. Erst auf diesem Boden kann man Ungerechtigkeit anklagen und sich aufregen über den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Und wer ist da eigentlich der Adressat? Die Gesellschaft? Die staatlichen Autoritäten? Die Öffentlichkeit? Im Grunde ist der Adressat immer auch noch irgendwie Gott. Wer gegen Unrecht protestiert, appelliert damit auch irgendwie an Gott, dass er dem ein Ende machen soll, dass er sein Recht hier auf der Erde aufrichtet.

Es ist im Grunde immer noch der Appell, wie wir ihn z.B. bei Jesaja finden:

Reiß doch den Himmel auf und komm herab, dass die Berge vor dir erbeben! … 2 Vollbringe Taten, die uns staunen lassen und noch unsere kühnste Erwartung übertreffen! Komm herab, dass die Berge vor dir erbeben!

Es ist dieser Wunsch, dass Gott endlich eingreifen möge und all dem Schrecklichen ein Ende mache. Und auf diesen Wunsch antwortet dann das Neue Testament, indem dort davon erzählt wird, wie Gott wirklich gekommen ist, aber auf eine unerwartete Weise. Durch das Kind Jesus werden nicht die Berge erschüttert, er wird kaum wahrgenommen, aber heute können wir sehen: er hat mehr als jeder andere die Grundlagen der Welt verändert, er verändert die Art wie Menschen denken und leben, und das hat eine Ausstrahlung weit über den christlichen Bereich hinaus. Einfach deswegen, weil das, was Jesus in die Welt gebracht hat, zu den Menschen passt. Weil es die Wahrheit ist, und die sieht kurzfristig zwar oft sehr ohnmächtig aus, aber langfristig bewegt sie die ganze Welt.

Auf den ersten Blick war das etwas weniger deutlich bei der Geschäftsfrau, die wir vorhin hier als dritte gehört haben. Aber: Voller Einsatz, alles geben, das sind Gedanken, die ursprünglich mal aus dem christlichen Bereich stammen. Einer wie Paulus und viele andere haben sich voll eingesetzt und alles gegeben für Jesus Christus, für das Evangelium. Der Soziologe Max Weber hat schon vor 100 Jahren darüber nachgedacht, wie sich solche christliche Impulse in unsere moderne Art zu wirtschaften umgesetzt haben.

Eigentlich ist das verrückt: heute schuften die Leute mit so viel Energie, wie man früher nur für Gott eingesetzt hat. Heute müssen schon 20 % aller Berufstätigen am Sonntag arbeiten. Wenn die stattdessen alle in die Kirche gehen würden, dann müssten wir uns keine Sorgen darum machen, dass der Sonntag als arbeitsfreier Tag und Familientag heute langsam kaputtgemacht wird. Aber das ist mit allen christlichen Impulsen so, dass es ihnen nicht gut bekommt, wenn sie von ihrem Ursprung abgetrennt werden.

Übrigens war ja bei der Geschäftsfrau noch etwas zu sehen: diese Erwartung, dass es doch einen Grund zur Freude geben müsste, jedenfalls zu Weihnachten, und die Enttäuschung, wenn die sich dann gar nicht einstellt. Die Menschen ahnen immer noch, dass man von diesem Leben viel mehr erwarten kann als den puren Alltagstrott, aber sie wissen oft gar nicht mehr, was das sein könnte.

Wir sehen an all diesen Beispielen: Jesus ist das geheime Zentrum der Welt. Überall beeinflusst er das Denken der Menschen grundlegend, auch wenn sie es selbst kaum noch wissen. An der Wurzel der modernen Entwicklung, die die ganze Welt umgekrempelt hat, stehen christliche Impulse. Aber unser Problem liegt darin, dass diese Impulse ihre Wurzeln verloren haben und sozusagen frei durch die Luft schwirren. Sie irren umher und richten dadurch auch ziemlich viel Schaden an.

Die schönsten christlichen Werte sind hilflos, wenn sie nicht authentisch gelebt werden, sondern zu irgendwelchen geistigen Gedanken und Werten werden. Es gibt keine Werte ohne Menschen, die sie engagiert leben. Damals im antiken römischen Reich haben die Christen nicht gegen die allgemeine Menschenverachtung protestiert, sondern sie haben sich zusammengeschlossen und anders gelebt. Und das hat auf die Dauer die Grundlage der ganzen Gesellschaft verschoben.

Und schon Jesus ist Mensch geworden, hat die Materie angenommen, hat ein neues Leben verwirklicht. Um uns gute Gebote zu geben hätte er nicht Mensch werden müssen. Aber das Entscheidende war, dass es sein neues Leben hier unter den Bedingungen des Ernstfalls wirklich gegeben hat, bis hin zum Tod am Kreuz.

Wir können uns nicht darauf verlassen, dass irgendjemand schon die richtigen christlichen Werte propagieren wird, der Staat oder die Medien oder die Kirche oder wer auch immer. Nein, es ist unsere Aufgabe, uns zusammenzuschließen und uns gegenseitig zu helfen, das Tag für Tag zu leben. Nicht nur in dem Sinn: seid nett und ehrlich, sondern als Menschen, die eine deutliche Alternative leben. Erst so werden die ganzen frei herumschwirrenden ursprünglich christlichen Impulse ihren Ursprung wiedererkennen. Erst so werden sie ihre Kraft und ihre Identität zurückgewinnen. Wir sollen diesen Weg Gottes verkörpern – wir, normale, lebendige Menschen.

Als Dietrich Bonhoeffer im Widerstand gegen Hitler mit Menschen aus vielen unterschiedlichen Traditionen zusammenarbeitete, da hat er das erlebt, und er hat darüber geschrieben: wie all diese guten Impulse von den erstaunlichsten Richtungen her in der Stunde der Not plötzlich zurück fanden zu ihren Wurzeln. Wir gehen heute auf sehr große Probleme ganz anderer Art zu. Es wird Zeit, dass ein neues Bündnis geschlossen wird, durch das die verstreuten, heimatlosen Impulse Jesu zurückfinden in ihre Heimat. Es ist an der Zeit, dass die nicht mehr gegeneinander kämpfen, sondern miteinander der Zerstörung entgegentreten, die der ganzen Schöpfung droht.

Aber dazu braucht es Menschen wie dich und mich, die das miteinander in ihrem Alltag praktizieren. Im Alten Testament haben sie sich noch vorgestellt, dass Gott mit einem gewaltigen Blitz, mit Feuer und Erdbeben zur Erde kommen könnte. Seit Jesus wissen wir, dass Gott als Mensch gekommen ist, um durch gewöhnliche Menschen in der Kraft des Heiligen Geistes das Gesicht der Erde zu verändern. Ich glaube, das ist bei uns noch nicht ganz angekommen. Aber Gott ruft uns, dass wir da dabei sein sollen.