Bewegung auf dem neuen Weg
Predigt am 2. Dezember 2007 (1. Advent) zu Hebräer 10,19-25
19 Liebe Brüder und Schwestern! Wir haben also freien Zutritt zum Allerheiligsten! Jesus hat sein Blut geopfert 20 und uns den Weg durch den Vorhang hindurch frei gemacht, diesen neuen Weg, der zum Leben führt. Der »Vorhang« aber, das ist er selbst, so wie er in einem irdischen Leib gelebt hat. 21 Wir haben also einen ganz unvergleichlichen Obersten Priester, der über das Haus Gottes gesetzt ist.
22 Darum wollen wir vor Gott hintreten mit offenem Herzen und in festem Glauben; unser Gewissen wurde ja von aller Schuld gereinigt und unser Leib in reinem Wasser gewaschen.
23 Wir wollen an der Hoffnung festhalten, zu der wir uns bekennen, und wollen nicht schwanken; denn Gott, der die Zusagen gegeben hat, steht zu seinem Wort. 24 Und wir wollen aufeinander Acht geben und uns gegenseitig zur Liebe und zu guten Taten anspornen. 25 Einige haben sich angewöhnt, den Gemeindeversammlungen fernzubleiben. Das ist nicht gut; vielmehr sollt ihr einander Mut machen. Und das umso mehr, als ihr doch merken müsst, dass der Tag näher rückt, an dem der Herr kommt!
Advent bedeutet: es geht voran! Keine Stagnation oder ein Hängen zwischen nicht Leben und nicht Sterben können, sondern: da ist Bewegung in der Sache. Da fühlt es sich nach Dynamik an, es ist Hoffnung in der Sache. Nicht wie ein sinkendes Schiff, wo die Ratten schon alle über Bord gesprungen sind, oder wie ein langsam aussterbender Indianerstamm. Advent heißt: Gott ist in der Offensive. Er rückt vor und erobert sich seine Welt zurück.
Das müsst ihr doch merken! heißt es hier im Hebräerbrief. Das passiert nicht in irgendwelchen fernen Regionen, sondern bei euch, unter euch, ihr seid doch dabei. Wie hat sich der Verfasser des Hebräerbriefes das wohl vorgestellt, dass die Christen das merken konnten? Vielleicht hat er sie daran erinnern wollen, dass sie mehr wurden, dass Menschen sich den Gemeinden angeschlossen haben. Allerdings war das damals nicht immer so offensichtlich. Es gab ein paar große Durchbrüche, es gab aber auch Zeiten, in denen die christlichen Gemeinden nur sehr gemächlich wuchsen. Im Allgemeinen breitete sich das Christentum in diesen frühen Jahren von Mensch zu Mensch aus, Haus für Haus. Man hat geschätzt, dass es um das Jahr 50 nach Christus überhaupt nur etwa 1400 Christen gegeben hat; 50 Jahre später, also 100 nach Christus könnten es etwa 7500 gewesen sein. Irgendwann in der Zeit dazwischen ist der Hebräerbrief geschrieben worden. Selbst wenn man die Zahlen ein bisschen höher ansetzt – das sind keine schwindelerregenden Größen, und wenn man die Bevölkerung des römischen Reiches mit 60 Millionen ansetzt, dann sind das gut 1/10 Promille. Die großen Zahlen kamen erst viel später, etwa um 300 waren es etwa 6 Millionen Christen, und damit schon ein Zehntel der Bevölkerung.
Aber fast alle weltbewegenden Veränderungen haben ganz klein angefangen, mit ein paar Menschen, die auf etwas Besonderes und Neues gestoßen sind, und meist hat es sehr lange gedauert, bis daraus auch zahlenmäßig etwas wirklich Bedeutendes geworden ist. Oft ist dann, wenn die großen Zahlen kommen, die Dynamik sogar schon wieder raus.
Deswegen geht es hier gar nicht um die Zahlen, sondern darum, wie sich das Ganze anfühlt. Ist da Hoffnung drin, ist da Potential, riecht es nach mehr, ist da ein Gefühl von Sieg mit verbunden? Wobei das mit dem Sieg so eine Sache ist.
Als Jesus nach Jerusalem kam, da war eine große Begeisterung zu spüren, und alle dachten: jetzt geht es los, jetzt übernehmen wir hier die Macht! Und dann kam es völlig anders – nach ein paar Tagen wurde Jesus gekreuzigt und alles schien verloren. Und als er dann wieder auferstand, da war das ein Sieg, aber dieser Sieg sah völlig anders aus, als sie es erwartet hatten. Wir dürfen uns also nicht von einfach von Begeisterung anstecken lassen, sondern müssen tiefer schauen: ist da etwas wirklich Starkes? kommt da eine Kraft, die ausdauernd ist und Rückschläge überwinden kann? Ist da ein Potential, das in sich stark genug ist, um die Welt zu überwinden und zu gewinnen? Und der Hebräerbrief sagt: genau das haben wir! Merkt ihr das nicht?
23 Wir wollen an der Hoffnung festhalten, zu der wir uns bekennen, und wollen nicht schwanken; denn Gott, der die Zusagen gegeben hat, steht zu seinem Wort.
Was wir erleben, das hat tiefere Wurzeln als nur eine oberflächliche Begeisterung. Da steht Gott hinter, und er hat uns wirklich begründete Hoffnung gegeben.
Liebe Freunde, lasst uns überlegen, wie viele Menschen ohne Hoffnung leben, oder jedenfalls ohne eine Hoffnung, die größer ist als die Hoffnung auf den nächsten Urlaub! Wie viele Menschen haben höchstens ein paar kleine, begrenzte Hoffnungen, aber nicht diese Hoffnung, dass es noch etwas ganz anderes gibt, etwas, was die Grenzen der Welt, die wir kennen, sprengt! Hoffnung auf eine neue Welt, nicht nur die Hoffnung auf ein paar nette Jahre im Familienkreis, wenn man nicht mehr so viel arbeiten muss und die Rente reicht. Eine Hoffnung auf etwas ganz Neues, Großes, was noch keiner richtig gesehen hat. Das ist richtige Hoffnung. Und die wird hier so beschrieben:
Wir haben also freien Zutritt zum Allerheiligsten! Jesus hat sein Blut geopfert 20 und uns den Weg durch den Vorhang hindurch frei gemacht, diesen neuen Weg, der zum Leben führt.
Das klingt erst einmal merkwürdig, weil es in den Bildern der alten Welt beschrieben ist. Das Bild ist der Tempel. Damals gab es überall auf der Welt Tempel, glanzvolle, riesige Tempel in den Städten, aber jedes Dorf hatte auch irgendwie sein bescheidenes Heiligtum.
Das hier z.B. ist ein Tempel der Maya aus Mexico. Ein riesiger steinerner Berg. Oben drauf eine Opferstätte, wo wahrscheinlich auch Menschen geopfert wurden.
Warum bauen Menschen solche gewaltigen Kolosse? Wieviel Arbeit muss das gemacht haben, wieviel Menschen haben daran geschuftet, wieviel menschliche Kreativität und Kunstfertigkeit steckt in diesem Bau! Das haben die doch nicht nebenbei gemacht, mal eben zum Spaß, weil sie sich gelangweilt haben.
Oder dieser ägyptische Tempel mit seinen gewaltigen Säulen. Tausende von Kilometern entfernt und Tausende von Jahren früher, aber auch da wieder: was für ein Einsatz, bis so etwas geschaffen ist! Warum tun Menschen so etwas? Es muss etwas ganz Elementares sein, das Menschen aller Zeiten dazu treibt, so etwas zu bauen. Irgendwie sind sie alle auf der Suche gewesen nach Gott, irgendwie haben sie alle gespürt, dass es in dieser Welt ein Rätsel gibt, ein Geheimnis, etwas Bedeutendes, etwas, das über unser normales Leben weit hinausreicht. Und sie haben diesem Geheimnis immer wieder neue Namen gegeben und haben eben Häuser dafür gebaut, heilige Häuser, Tempel.
Selbst heute baut man Tempel, aber irgendwie ist die Zeit der Tempel vorbeigegangen. Es gibt sie noch, aber sie sind nicht mehr wirklich auf der Höhe der Zeit.
Auch in Jerusalem gab es einen Tempel. Der erste, gebaut von König Salomo, war noch relativ übersichtlich. Um 589 wurde er zerstört. Kurz vor Jesu Geburt wurde ein neuer, gewaltiger Tempel errichtet.
Ein riesiges Bauwerk mit Säulenhallen und Türmen und mehreren Höfen und Treppen und Durchgängen. Tausende Menschen hatten Platz in diesem Tempel. Aber der ganze Tempel war immer noch um ein Zentrum herum gebaut: das Zentralgebäude mit dem Allerheiligsten. Darin war ein leerer Raum, in den nur einmal im Jahr der Hohe Priester ging. Der Raum für das Geheimnis, der Raum für die Gegenwart Gottes. Eine riesige Anlage, um diesen leeren Raum herumgebaut. Die Menschen ahnten, sie wussten, dass es da etwas gab von allerhöchster Bedeutung, aber keiner kam hinein, nur ein einziger Mann, einmal im Jahr. Das Geheimnis bleib ein Geheimnis. Aber jetzt heißt es im Hebräerbrief:
Wir haben also freien Zutritt zum Allerheiligsten!
Verstehen Sie, diese ganzen Tempel mit ihren Höfen und Stufen und Gängen und Häusern, es ist alles nicht mehr Notwendig, weil es einen ganz anderen Zugang zum Geheimnis der Welt gibt, nämlich Jesus. Jetzt gibt es diesen neuen Weg, der zum Leben führt.
Das ist der Grund, weshalb Tempel heute irgendwie von gestern sind, selbst wenn auch hier in Deutschland manchmal noch welche neu gebaut werden. Diese gewaltigen Tempel sind abgelöst worden von etwas ganz anderem:
Eine Schar Menschen, miteinander unterwegs. Jesus mit seinen Jüngern, wie er nach Jerusalem kommt. Die herrliche schimmernde Stadt im Hintergrund, aber davor eine Handvoll Menschen, mit denen etwas ganz Neues anfängt. Eine Handvoll Menschen, die die Ära der Tempel beendet haben. Nicht sofort und nicht ohne Mühe und Schmerzen, nicht ohne Rückschläge. Aber mit diesen paar Menschen beginnt etwas völlig Neues in der Menschheitsgeschichte.
Ein paar Tage später wird Jesus mit ihnen aus dem Tempel herausgehen und in einem ganz normalen Haus das Abendmahl einsetzen. Nicht mehr Monumente aus Stein hüten das Geheimnis der Welt, sondern lebendige Menschen laden ein zum Weg des Lebens. Das ist die Hoffnung, zu der der Hebräerbrief einlädt.
Sehen Sie diese Gemeinschaft der Lebensfreude und der Fülle? Jesus hat alles gegeben, damit es diese Gemeinschaft gibt, diesen Weg ins Leben. Er hat einen Preis dafür bezahlt, er hat sein Leben dafür geopfert, dass Menschen so zusammenkommen können und jetzt schon leben können in dieser neuen Welt, auf die wir alle noch warten.
Das ist das aufgedeckte Geheimnis der Welt, das Menschen in übermenschlichen Tempeln gesucht haben. Bis heute können Menschen nicht glauben, dass es etwas so einfaches sein soll. Bis heute suchen Menschen das Glück und die Hoffnung bei so vielen anderen Dingen, an so vielen anderen Plätzen, aber es ist in Wirklichkeit so einfach und so menschlich. Gott kommt in Menschengestalt, erst in Jesus, und dann geht es weiter mit Menschen wie du und ich, die im Namen Jesu eine Gemeinschaft der Hoffnung bilden.
Und der Hebräerbrief sagt:
Und wir wollen aufeinander Acht geben und uns gegenseitig zur Liebe und zu guten Taten anspornen.
Lasst uns einander immer wieder daran erinnern, dass wir hier das Geheimnis der Welt leben und feiern. Dass hier die Kraft verborgen liegt, die die ganze Welt überwinden wird. Die breitet sich nicht automatisch aus, sondern durch uns, und wir müssen vor allem erst einmal selbst in dieser Kraft verankert sein, sie muss sich in unser Leben vorarbeiten, und dazu braucht sie unser Ja und die Hilfe der Schwestern und Brüder, die mit uns auf dem gleichen Weg unterwegs sind. Deswegen ist es so wichtig, dass wir immer wieder dabei sind, das wir uns nicht von angeblich wichtigeren Dingen wegholen lassen, sondern dass wir immer wieder zurückkehren zu diesem gelebten Geheimnis der Welt, zu diesem neuen Weg, der zum Leben führt.
Dieser neue Weg soll durch die ganze Welt gehen, durch die geografische Welt, aber auch durch alle Welten, die es in Gedanken gibt. Alles Wissen, alle Erfindungen, alle menschliche Kreativität, all das, was Menschen aufgewandt haben, um Tempel zu bauen, es soll alles befreit werden, es soll erobert werden, erkämpft, errungen, damit es seine wirkliche Bestimmung findet: das Fest, das Gott mit den Menschen in der neuen Welt feiert, und das am Tisch Jesu jetzt schon beginnt.
Wer da dabei sitzt, der kann merken, wie gut und hoffnungsvoll sich das anfühlt. Das kann nach außen durchaus groß aussehen, aber es muss nicht. Bevor es nach außen tritt, ist es nur für die erkennbar, die gelernt haben, richtig hinzusehen.
Advent ist die Zeit des Wartens und die Zeit der Ankunft. Es geht voran. Es ist Bewegung in der Sache. Gott kommt in die Welt und in unser Leben. Deswegen kann man die Hoffnung spüren.