Rhythmen des Lebens (3): Herbst
Predigt am 14. Oktober 2007 (Besonderer Gottesdienst) zu Lukas 9,51
Der Gottesdienst war der dritte in einer Reihe, die nach den Jahreszeiten im Leben von Menschen fragt.
Der Gottesdienst begann mit einer Bild/Musik – Präsentation zum Thema „Herbst“. Vor der Predigt gab es eine Theaterszene zu sehen, in der ein Ehepaar sich streitet, ob sie wieder in den Urlaubsort fahren, den sie schon 18 mal besucht haben, oder ob die Zeit dort langsam zu Ende ist. Nach der Predigt folgte ein Gebetsteil für alle, die sich in einer herbstlichen Situation befinden.
In der Begrüßung hieß es:
Wir haben gerade Bilder gesehen und Musik dazu gehört von all dem, was zum Herbst gehört: die milde, freundliche Sonne, die reifen Früchte, aber auch die kälter werdenden Tage und die melancholische Stimmung, wenn Nebel und Feuchtigkeit sich breit machen und die Blätter und alles Grün alt geworden sind von einem langen Sommer.
Der Herbst ist eine Übergangszeit, eine Zeit des Wandels. Aber anders als im Frühjahr geht es da nicht um einen Neuaufbruch, sondern um den Abschied. Da geht etwas zu Ende. Und auch, wenn es gut gewesen ist wie ein schöner Sommer, seine Zeit ist gekommen. Und alle Abschiede tun auch weh, und wir ahnen schon den Winter mit seiner Kälte und dem Stillstand des Lebens, der noch kommen wird.
Alle Veränderungen haben auch diese Seite, dass da etwas zu Ende geht, und dass wir eigentlich daran hängen und dass es nicht schön ist, etwas aufzugeben, an das wir uns gewöhnt haben. Und trotzdem ist es nötig und gehört zum Leben. Etwas Neues kann nur entstehen, wenn das Alte gestorben ist. Deshalb sagt Jesus: wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht. Jesus selbst hat gewusst, wann es so weit war, dass er Galiläa hinter sich lassen musste, um nach Jerusalem zu gehen. Die Jahre in Galiläa mit all den Wundern und all den vielen Menschen, die ihm zugehört hatten, die waren gut, aber Jesus kannte den Augenblick, in dem er sie hinter sich lassen musste.
Und er tat es, weil es um Neues ging, um einen großen Schritt voran, auch wenn der durch den Tod hindurch führen würde.
Deshalb ist für mich dieses Bild so eine eindrucksvolle Darstellung des Herbstes: da ist der Wald, der noch sein Grün trägt, auch wenn es schon alt geworden ist. Und mitten darin dieses Portal, dieser helle Riss, durch den das Licht dringt. Noch weiß man nicht, was für ein Licht das ist, alles ist unklar und verschwommen, es ist kalt und feucht, aber das Licht von etwas Neuem wartet schon irgendwo hinter dem Portal. Und so brauchen wir, wenn wir in einer herbstlichen Situation leben, ganz besonders das Zutrauen, dass Gott für uns durch all den Nebel hindurch einen Weg hat, der uns am Ende zu etwas Neuem führen wird.
Lukas 9,51
Es begab sich aber, als die Zeit erfüllt war, dass Jesus in den Himmel aufgenommen werden sollte, da wandte er das Angesicht, entschlossen, nach Jerusalem zu wandern.
Der Herbst ist die Zeit, in der wir merken, dass etwas zu Ende geht. Und manchmal wollen wir das nicht wahrhaben. Aber das Leben verändert sich: die Kinder werden groß, das Ostfriesenabitur ist irgendwann auch nicht mehr die Herausforderung, die es mal war, und was gestern eine gute Sache war, das fängt an, welk zu werden.
Der Herbst verbindet ja beides: die reifen Früchte des Sommers und unserer Arbeit – und gleichzeitig ist der Höhepunkt schon überschritten und unaufhaltsam geht etwas zu Ende. Der Herbst erinnert uns daran, dass es im Leben nichts Festes, Statisches gibt, sondern es ist alles in Bewegung, in einem dynamischen Gleichgewicht. Das gehört zum Leben, dass nichts so bleibt, wie es war:
- Du hast deine Wohnung endlich so eingerichtet, wie du es dir immer gewünscht hast – und dann siehst du an den Möbeln die ersten Kratzer.
- Ihr habt euch zusammengerauft in der Familie und kommt jetzt eigentlich gut miteinander aus – und dann geht das erste Kind aus dem Haus. Oder es bringt jemanden mit, der ein weiteres Familienmitglied werden könnte und das mühsam ausgehandelte Gleichgewicht verändert. Oder noch heftigere Arten von Veränderung oder Trennung kommen in Sicht.
- Gerade hat man das Gefühl: ich komme mit meiner Arbeit zurecht, ich weiß, wie es geht – aber dann gibt es ungeahnte Veränderungen, und man muss sich wieder ganz neu orientieren.
- Irgendwie passen alte Freundschaften nicht mehr, sie sind nicht mehr lebendig, und wir verstehen nicht warum.
- Und schließlich: Da gibt es die ersten Anzeichen, dass unser Körper nicht mehr alles mitmacht und uns deutlich begrenzt. Vielleicht noch nicht so schlimm, aber doch spürbar. Und wir überlegen, was noch alles kommen kann, und was vielleicht irgendwann nicht mehr gehen wird.
Lauter Veränderungen, die ihren Schatten voraus werfen und uns beunruhigen. Und das kann gerade dann passieren, wenn es bisher gar nicht so schlecht gelaufen ist. Gerade dann, wenn wir eigentlich ganz zufrieden wären damit, wie wir bisher gelebt haben.
Für mich ist diese Situation von Jesus auf dem Höhepunkt seines Wirkens, die wir vorhin in der Lesung gehört haben, so eine klassische Herbstsituation: endlich haben die Jünger verstanden, dass er der ist, auf den Israel durch die Jahrhunderte gewartet hat, der endgültige Gesandte Gottes, der Messias, der Sohn Gottes. Die ganze Zeit hat er darauf hingearbeitet, und jetzt ist er am Ziel. Die Früchte seiner Arbeit sind reif. Und was tut er? Er sieht es als Signal, dass nun der nächste Schritt dran ist, und er spricht es entschlossen aus: jetzt müsst ihr als nächstes lernen, was für eine Art von Messias ich bin: einer, der sterben wird und muss. Und Petrus sagt das, was wir alle in solchen Situationen sagen: das kannst du doch nicht tun, bleib hier in Galiläa, warum willst du alles kaputtmachen, indem du in den Tod gehst?
So wie der Mann vorhin in der Szene sagt: ich verstehe nicht, was du auf einmal gegen unseren alten Urlaubsort hast! Wieso ist denn auf einmal falsch, was so lange gut war?
Aber Jesus ist uns auch darin ein Vorbild, dass er rechtzeitig merkt, wenn es Zeit ist, den nächsten Schritt zu gehen. Um es im Bild der Jahreszeiten zu sagen: Jesus sieht genau, wenn die ersten Blätter welk werden, er versucht nicht, den Sommer festzuhalten, sondern geht dem Übergang mutig entgegen. Versuchen wir einmal, uns vorzustellen, was gewesen wäre, wenn Jesus auf den Rat von Petrus gehört hätte und einfach weitergemacht hätte. Was wäre passiert? Er hätte die Offensive verloren, die Gegner in Jerusalem hätten irgendwann nicht mehr gewartet, sondern angegriffen, und dann wäre sein Tod nicht seine freie Wahl gewesen, sondern ein Unglück ohne Perspektive. Abschiede, Tod, das Ende von vertrauten Dingen – das alles wird uns treffen, weil es zum Leben gehört. Wir können es nur selten verhindern. Aber wir können uns entscheiden, ob wir solange wie möglich die Augen zumachen wollen, und es schließlich schicksalhaft über uns ergehen lassen wollen, oder ob wir es angehen und zu unserer eigenen Wahl machen wollen. Wovor man wegläuft, das kann man nicht mehr gestalten.
Aber indem Jesus bewusst Abschied nahm von Galiläa und sich seinem Tod, also dem Winter stellte, hat er den neuen Frühling seiner Auferstehung möglich gemacht. Denn das ist die Verheißung des Herbstes, die Leute wie Petrus und wir nicht sehen, wenn wir am liebsten einen immerwährenden Sommer festhalten möchten: aus dem Sterben kommt etwas Neues. Und es ist besser, Gott auch in Zeiten des Wandels zu vertrauen, als so lange wie irgend möglich die Augen vor der Veränderung zu verschließen. Die Veränderung kommt, der Winter kommt, aber nur wenn wir uns vorbereitet haben, werden wir ihn überstehen und auch den Frühling erleben, der dahinter verborgen ist.
Es gibt ein berühmtes Gedicht über den Herbst, das heute nicht fehlen darf, aber wenn ich es gleich vorlese, dann achten Sie doch mal darauf, wie zwar von den Früchten des vergangenen Sommers geredet wird, auch von den Herbstwinden, die das Laub hin und her treiben, aber am Ende versackt es in so einer Melancholie, wo gar keine Perspektive über Herbst und Winter hinaus mehr zu sehen ist. Das entspricht sicher diesem herbstlichen Gefühl, aber es ist kein Lebensgefühl, das zu diesem mutigen Herangehen an die Veränderung passt, das wir bei Jesus sehen. Obwohl das Gedicht sogar wie ein Gebet beginnt.
Herbsttag
von Rainer Maria Rilke (1875-1926)Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Das ist so schrecklich melancholisch, dass es auch schon wieder schrecklich schön ist, aber wir sind nicht gezwungen, uns dieser Melancholie zu überlassen. Sie gehört sicher irgendwann auch dazu, und man kann sicher sagen, dass es in unserer Kultur oft zu wenig Verständnis dafür gibt, dass Abschiede auch ihr Recht haben und ihre Zeit brauchen. Viel zu oft wird von Menschen erwartet, dass sie ganz schnell wieder mental fit sind und wieder voll ins Leben einsteigen, und sie haben noch gar nicht Zeit gehabt, sich von einem Verlust richtig zu verabschieden.
Aber das alles geschieht eben in christlicher Sicht unter dem Schutz Gottes, dem wir uns gerade in solchen Zeiten der Veränderung anvertrauen sollen. Wenn wir durch solche Zeiten der Veränderung heil hindurchkommen und am Ende auch noch Gewinn davon haben wollen, dann brauchen wir eine Perspektive, die über die Melancholie und den Abschied hinausgeht.
Es ist kein Zufall, dass zum Herbst die stürmischen Herbstwinde gehören, die alles durcheinander wirbeln. Wer durch herbstliche Zeiten in seinem Leben geht, der der fühlt sich manchmal so, als ob er alles festhalten müsste, damit nicht auch noch das Letzte weggepustet wird. Das kann einem ganz schön Angst einjagen.
Ich kann mich erinnern, als ich die Schule hinter mir hatte und noch nicht so richtig wusste, wie es weitergehen sollte, das war eine sehr bedrohliche Zeit. Meine alten Freunde waren kaum noch da, die bauten auch alle an ihrem neuen Lebensabschnitt, und es gab noch keine Zukunft, auf die ich mich einstellen konnte. Es ist ja alles leichter, wenn man schon ein Bild davon hat, wie es weitergehen soll. Aber ich hatte noch gar nichts vor mir, und das hinter mir trug mich nicht mehr. Das war eine sehr bedrohliche Zeit. Ich weiß noch, wie ich an einem Tag im Zug saß – wenn man solche unsicheren Zeiten erlebt, dann reist man ja auch oft in der Welt herum -, also ich saß da im Zug, ich weiß noch, welche Strecke es war, und ich dachte: das ist jetzt das Ende. Es geht nicht mehr weiter. Es kann gar nicht mehr weitergehen. Hier hört es auf.
Natürlich ist es irgendwie weiter gegangen, aber wenn wir mitten in solchen Zeiten drinstecken, dann ist es manchmal schwierig, das zu glauben. Im Lauf des Lebens machen wir dann unsere Erfahrungen auch mit herbstlichen Situationen, aber wenn man zum ersten Mal mitten drinsteckt, dann kommt es einem vor, als ob jede Spur von Frühling aus dem Leben verschwunden ist. Und egal, wie oft man das erlebt – es immer gut, wenn man dann jemanden hat, der einem sagt: das gehört dazu, und das heißt nicht, dass dein Leben in einem düsteren Winter enden muss.
Ja, es ist keine Zeit, die man sich wünscht: der November, wenn der Herbst langsam in den Winter übergeht, wenn das Licht trübe wird und die Kälte sich ausbreitet. Eine Zeit, in der wir anfällig sind für das Gefühl von Sinnlosigkeit und Leere, wo wir nicht verstehen, was mit uns geschieht. Eine Zeit, in der wir manchmal sehr gegenanglauben müssen, gegen unsere Gefühle und Erlebnisse. Eine Zeit, in der wir um die Überzeugung kämpfen müssen, dass auch solche Lebensphasen keine verlorene Zeit sind.
Es sind Zeiten des Loslassens und des Abschiedes, und wir verstehen nicht, warum es nicht schneller geht, und wir können nicht glauben, dass da etwas Wichtiges geschieht. Und trotzdem wird da das Fundament für den Neuanfang gelegt, wenn wir uns nur diese Perspektive der Hoffnung nicht nehmen lassen. Ja, es müssen immer wieder Dinge in uns sterben, damit Neues wachsen kann. Ja, es muss Platz geschaffen werden für das, was Gott noch für uns vorbereitet hat. Ja, wir geben es ungern her. Ja, es tut weh. Und wir verstehen nicht, in welchem Zug wir sitzen. Vertrau darauf, dass diese Zeit ebenso beängstigend wie wichtig ist, und dass Gott nicht den Tod möchte, sondern neues Leben. Und nutze diese Zeit für die Frage: was lerne ich jetzt?
Ich habe damals in diesem Zug gelernt, dass ich nicht darauf hoffen kann, dass andere mir die Frage beantworten, wer ich bin. Das ist meine Aufgabe, und nur ich kann die Antwort finden. Gott hat mich damals herausgefordert, mich an ihm zu orientieren und mich nicht abhängig zu machen von meiner Umgebung – die kann immer kaputtgehen. So kann ich das natürlich erst im Rückblick sagen. Es hat eine ganze Zeit gedauert, bis ich da wieder heraus gekommen bin. Wir brauchen in solchen herbstlichen Zeiten manchmal jemanden, der uns ein bisschen in Bewegung bringt – aber manchmal auch einen Schutzengel, der uns hilft, da heil hindurchzukommen. Aber irgendwann können wir dann zurückblicken und sagen: ja, es hat sich gelohnt. Ja, ich habe da etwas gelernt, was ich anders nicht hätte lernen können. Ja, jetzt ist mein Leben tiefer und klarer. Ja, es war gut, dass Gott mir das zugemutet hat. Ja, es war richtig, dass ich an ihm festgehalten habe. Und er hat mir immer wieder jemanden geschickt, der mir ein Stück weiter geholfen hat.
Wenn Sie momentan in so einer herbstlichen Lebenszeit sind, dann möchte ich Ihnen Mut machen. Vielleicht können Sie den Weg heute nur im Nebel vor sich sehen. Aber Sie können sich entscheiden, sich mit allen Unklarheiten Gott anzuvertrauen und ihm zu vertrauen, dass es auch im Nebel einen guten Weg für Sie gibt. Gott will Ihr Leben und er will, dass Sie durch diese Veränderung wachsen.
Für alle unter uns, die im Augenblick in so einer herbstlichen Zeit leben, möchte ich ein Gebet sprechen, und ich lade Sie ein, zu schauen, ob das Ihr Gebet sein könnte:
Lieber Vater im Himmel,
ich merke, wie etwas zu Ende geht
in meinem Leben;
und ich habe Angst davor
und es tut weh.
Ich verstehe nicht, was vor sich geht
Ich weiß nicht, wie mein Weg weitergehen wird
Aber ich vertraue mich deiner guten Hand an
und halte Ausschau nach den kleinen Zeichen der Güte und Treue, an denen du es nie fehlen lassen wirst.
Mein Glaube, dass es auch für mich wieder gute Tage geben wird, ist immer wieder in Frage gestellt.
Um so mehr will ich ihn festhalten.
Und halte du mich fest von der anderen Seite aus.
Damit die Auferstehung Jesu Christi ihren Weg finden kann in mein Leben und in mein Herz
und für mich dann, wenn es so weit ist, ein neuer Frühling beginnt.
Nach ihm will ich Ausschau halten so lange, wie es nötig ist.
Danke, dass du mich auch im Herbst nicht vergisst.
Amen.