Worauf man nicht verzichten kann
Predigt am 10. Juni 2007 zu Matthäus 9,35 – 10,8a
35 Jesus zog durch alle Städte und Dörfer. Er lehrte in den Synagogen und verkündete die Gute Nachricht, dass Gott jetzt seine Herrschaft aufrichtet und sein Werk vollendet. Er heilte alle Krankheiten und Leiden. 36 Als er die vielen Menschen sah, ergriff ihn das Mitleid, denn sie waren so hilflos und erschöpft wie Schafe, die keinen Hirten haben. 37 Darum sagte er zu seinen Jüngern: »Hier wartet eine reiche Ernte, aber es gibt nicht genug Menschen, die helfen, sie einzubringen. 38 Bittet den Herrn, dem diese Ernte gehört, dass er die nötigen Leute schickt!«
1 Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen die Vollmacht, böse Geister auszutreiben und alle Krankheiten und Leiden zu heilen. 2 Hier sind die Namen dieser zwölf Apostel: Der erste von ihnen Simon, bekannt unter dem Namen Petrus; dann Andreas, der Bruder Simons; Jakobus, der Sohn von Zebedäus, und sein Bruder Johannes; 3 Philippus und Bartholomäus; Thomas und der Zolleinnehmer Matthäus; Jakobus, der Sohn von Alphäus, und Thaddäus; 4 Simon, der zur Partei der Zeloten gehört hatte, und Judas Iskariot, der Jesus später verriet.
5 Diese zwölf sandte Jesus aus mit dem Auftrag: »Meidet die Orte, wo Nichtjuden wohnen, und geht auch nicht in die Städte Samariens, 6 sondern geht zum Volk Israel, dieser Herde von verlorenen Schafen. 7 Verkündet ihnen: Jetzt wird Gott seine Herrschaft aufrichten und sein Werk vollenden! 8 Heilt die Kranken, weckt die Toten auf, macht die Aussätzigen rein und treibt die bösen Geister aus!
Diese Geschichte ist die konzentrierte Antwort auf die Frage: was hat die Christenheit der Welt anzubieten? Antwort: Die Botschaft vom Reich Gottes, umgesetzt ins Leben der Nachfolger Jesu. Wir hören von der Urgeschichte der christlichen Bewegung: 12 Leute, zusammengewürfelt aus allen Schichten des Volkes Israel, die von Jesus losgeschickt werden, ausgerüstet mit einer Kraft, die das Leben eines Menschen in ganz andere Bahnen lenken kann. Kraft, die das Kranke und Zerstörte heilt, die Tote lebendig macht und den bösen Mächten schlaflose Nächte bereitet.
Ein ganzes Kapitel lang gibt Jesus seinen Jüngern Anweisungen, wie sie es machen sollen, wenn sie mit diesem Auftrag unterwegs sind. Ein paar Verse weiter weist er sie an, kein Geld mitzunehmen und keine Vorräte. Er hat ihnen all das aus der Hand genommen, damit sie nichts anders haben als die Botschaft vom Reich Gottes, das jetzt für jeden zugänglich ist. Das war der Kernvollzug der Bewegung, die Jesus angeschoben hat: Menschen, die ohne äußere Macht durch die Welt ziehen und mit seiner Botschaft die Welt bewegen.
In dieser Geschichte ist das Muster ganz deutlich: erst verkündet Jesus das Evangelium, und als er merkt, dass das nicht reicht, da schickt er die Jünger los, damit sie auch machen, was er tut. Das sind die Jünger: Menschen, die so leben und das tun, was Jesus lebte und tat.
Das ist weit weg von dem, was wir heute als Kirche kennen. In Jesu Praxis spielen kirchliche Gebäude keine Rolle, auch von sonntäglichen Gottesdiensten und Geistlichen hört man nichts, auch von keiner großen Organisation, die dahinter steht. Gebäude, Gottesdienste, Apparat und Organisation, das alles kann man ja mit etwas gutem Willen als Transmissionsriemen verstehen, die die Botschaft Jesu einem großen Publikum vermitteln sollen, oder man kann diese ganzen Einrichtungen wie einen Projektor verstehen, der ein kleines Dia auf eine große Fläche projiziert, so dass dieser Kern des Christentums für viele Menschen zu sehen ist. Aber Jesus hat anscheinend auf eine andere Methode gesetzt: Menschen, die mit ihrem ganzen Leben auf den Ruf Jesu antworten. Eine völlig simple und vor allem billige Methode. Man braucht dazu kein Geld und keine Vorschriften, sondern einfach Menschen, die ihr Leben dafür einsetzen, dass es diese Botschaft vom Reich Gottes verkörpert.
Man kann sich das klarmachen an der Kirche, in der Franz von Assisi begraben liegt: dieser bescheidene kleine Mann, der in seinem Leben nichts besitzen wollte, aber auch wirklich gar nichts, der liegt jetzt unter einer riesigen, prächtigen Kirche begraben. Auf diese Weise strahlt er aus auf viele Menschen, die da hin kommen und sich an ihn erinnern lassen. Aber wodurch hat Franz mehr erreicht – durch sein Leben oder durch diese Kirche, die über seinem Grab erbaut ist? Die Kirche könnte man ersetzen, das Leben des Franz von Assisi nie. Es geht Franz genauso wie Jesus: er hat zu viele Bewunderer und zu wenig Nachfolger. Jesus hat seinen Jüngern keine Regeln gegeben, wie sie ihn anbeten sollen, aber er hat sehr ausführlich darüber gesprochen, wie man ihm nachfolgen soll.
Das ist schon damals in der Antike den Menschen aufgefallen. Ungefähr 200 Jahre nach Jesus lebte ein römischer Jurist namens Minucius Felix, der ein wütender Verfolger der christlichen Gemeinde war. Er nannte sie eine »weltliche Verschwörung« und ein »gottloses Komplott«, das sich vermehre »wie üppig wachsendes Unkraut«. Es sollte seiner Meinung nach um jeden Preis ausgerottet werden. Er kritisierte an den Christen gerade, das sie keine anständige Religion wie alle anderen waren (es gab damals viele davon). Er schrieb über die Christen: »Die Tempel verachten sie als Grabmäler, die Götter verfemen sie, über die Opfer lachen sie, sie bemitleiden … die Priester, sie verschmähen Ehrenstellen und Purpurkleider, obwohl sie selbst fast nicht fähig sind, ihre Blöße zu decken. Sie lieben sich gegenseitig fast bevor sie sich kennen. … Unterschiedslos nennen sie sich Brüder und Schwestern.«
Man merkt noch nach 1800 Jahren die Empörung dahinter: all die Sachen, die für uns so wichtig sind, für die wir uns abstrampeln, um die wir kämpfen und intrigieren, all das bedeutet denen gar nichts! Welche Frechheit! Bilden die sich etwa ein, dass sie etwas Besseres haben?
Ja, Christen haben die gelebte Nachfolge Jesu. Deswegen hatten sie es damals überhaupt nicht nötig, im Wettbewerb der Tempel und der mächtigen Organisationen religiöser und weltlicher Art mitzumischen. Und genau das brachte einen wie Minucius Felix so in Rage. Übrigens, seine Geschichte ist gut ausgegangen: auf die Dauer konnte er dem, was er bei den Christen sah, nicht widerstehen; er schloss sich denen an, die er bekämpft und in den Tod getrieben hatte. So hat die Jesusbewegung die Welt erobert: Mensch für Mensch, und notfalls mit dem Opfer des eigenen Lebens.
Demgegenüber sehen die tollen Prunkbauten, die alle möglichen Religionen in die Welt setzen, einfach nur traurig aus. Noch trauriger ist bloß das Christentum, wenn es vergisst, dass in seinem Zentrum die Nachfolge Jesu steht und sich verhält, als sei es eine Religion wie die anderen auch, und wenn es dann zu den Mitteln greift, über die die Christen in der Zeit des Minucius Felix einfach nur gelacht haben.
Die Welt ist so sehr davon abhängig, dass da wenigstens ein paar Menschen sind, die Jesus nachfolgen, anstatt ihn zu verehren, ihm nachfolgen, anstatt sich für ihn zu entscheiden, ihm nachfolgen, anstatt ihn zu lieben und ihm nachfolgen, anstatt ihn zu verkündigen. Natürlich wird jetzt jemand entgegnen, dass sich das doch nicht ausschließt, und dass das doch irgendwie zusammengehört, und das stimmt ja auch, nur faktisch ist es eben so, dass es zwar sehr viele Menschen gibt, denen Jesus alles Mögliche bedeutet, aber nur sehr wenig Nachfolger. Und genau die sind durch nichts zu ersetzen, genau die sind der Kern der Bewegung Jesu, auf alles andere könnte man zur Not auch verzichten. Auch wenn es nur ein paar wenige sind, sie setzen die Standards für viele andere.
Denken Sie mal an jemand wie Mutter Teresa – ihre Wirkung lag einfach darin, dass sie es getan hat und Jesus nachgefolgt ist zu den Armen von Kalkutta. Nicht irgendeine Lehre, die sie vertreten hat, war das Entscheidende, sondern das, was sie verkörpert hat. Und das erreicht auch Leute, die sonst mit Jesus nichts zu tun haben. Einfach weil es eine Messlatte setzt. In Kalkutta lebt Mutter Teresa unter den Armen und irgendwo in Hintertupfingen sorgt das dafür, dass einer ein paar Euro in die Spendendose für Indien tut. Natürlich ist der Unterschied dazwischen riesig, aber es lohnt nicht, darüber zu klagen, die Lösung kann doch nur sein, dass wir viele Mutter Teresas brauchen, die alle zusammen das – ich nenne es mal: das menschliche Niveau der Menschheit anheben. Wir brauchen schon noch mehr davon.
Denn das ist das Problem: wenn irgendwo auf der Welt einer das christlich Allernormalste tut und … ja: Jesus nachfolgt, dann ist das so eine Seltenheit, dass sich Bücherschreiber und Reporter und Fernsehjournalisten drauf stürzen und die Geschichte in Tausenden von Predigten durchgekaut wird und wer es sich leisten kann, fährt auch hin und guckt es sich an – aber es gibt nur ein ganz paar wenige, die sich davon anstecken lassen und selbst etwas Vergleichbares tun.
In dem, was Jesus und seine Nachfolger tun, ist die leidige Spaltung in Theorie und Praxis, in Lehre und Leben aufgehoben. Wir kennen ja dieses Denkmuster: wir können nicht immer nur reden, wir müssen etwas tun. An Jesus sieht man, dass dies Denkmuster falsch ist. Die richtigen Worte sind Taten. Die Jünger werden mit einer Botschaft, die aus Worten besteht, losgeschickt, aber diese Botschaft sorgt für radikale Veränderung. In dem, was die Leute Jesu tun, ist beides so verbunden, dass man es nicht auseinander nehmen kann. Und das macht die stärke aus.
Ich sprach mal mit einer Politikerin über den Umgang mit Ausländern in Deutschland, und man merkte so richtig, wie sie dachte: ja, ein weiterer von diesen christlichen Gutmenschen, die so idealistische Vorstellungen davon haben und keine Ahnung von den Problemen des wirklichen Lebens. Erst als ich ihr von unseren Kontakten und Versuchen damit erzählte, merkte man ganz deutlich, wie es in ihrem Kopf Klick machte, und dann bekam das, was ich sagte, ein ganz anderes Gewicht. Meine Argumente waren vorher und hinterher die gleichen, aber jetzt hatten sie in den Augen meiner Gesprächspartnerin eine ganz andere Plausibilität. Einfach weil sie merkte, dass Menschen und gelebte Überzeugungen dahinter standen.
Ich sag das nicht, um damit anzugeben, wie toll wir das machen, sondern weil es mir um den Punkt geht, wie die Welt auf Jesus hören wird. Es ist seine Botschaft vom neuen Leben unter der Herrschaft Gottes, das jetzt zugänglich ist, und das sich am stärksten zeigt, wenn die Jünger sich auf die Schmerzen der Welt einlassen. Deswegen die Aufforderung Jesu:
Da ist eine neue Kraft in der Welt, die der Zerstörung und dem Dunkel entgegen tritt. Und wo wir damit Ernst machen, da kommt diese Kraft zu uns.
Wenn man sich viele Bereiche der Kirche heute anschaut, dann kann man manchmal den Eindruck haben, Jesus hätte uns gesagt: unterhaltet die, die sich langweilen; produziert neue Termine für die, die schon zu viele haben; betüttelt die, die mit sich selbst nichts anzufangen wissen; richtet nette Kuschelecken ein für die, denen die Welt zu unsicher ist. Das Verrückte ist ja, dass auch mit solchen Sachen immer noch eine ganze Menge Gutes erreicht wird. Gott ist wirklich geduldig. Aber wieviel mehr könnte er durch seine Leute erreichen, wenn einfach mehr da wären, die das tun, was er uns als Erstes und Wichtigstes aufgetragen hat: Nachfolger zu sein, die die gleiche Arbeit machen wie er, Arbeiter in der Ernte Gottes.
So viele Menschen laufen durch die Welt wie Schafe ohne Hirten; sie sagen: da kann man nichts machen, so ist das Leben, man muss es so nehmen wie es kommt. Und wenn es dann so kommt, dann sind sie hilflos ausgeliefert. Solche hartnäckigen Muster vertreibt man nicht durch Reden und Argumentieren. Nur wenn Menschen neue Erfahrungen machen, wenn sie sehen, dass es anders geht, dann werden sie vielleicht die neue Welt in den Worten Jesu wahrnehmen.
Jesus hat gesagt: man zündet eine Lampe nicht an, um sie dann unter einen Eimer zu stellen, und das heißt: Gott wird dafür sorgen, dass die Menschen aufmerksam werden auf die Nachfolger und Nachfolgerinnen Jesu. Von dem Problem, wie und ob wir dann sichtbar werden, sind wir befreit. Wir können unsere ganze Aufmerksamkeit darauf richten, wie das geht: Nachfolge. Es ist so schwierig, weil es so wenig Vorbilder gibt, wo man hingehen kann, um sich das anzusehen. Und wir brauchen solche Vorbilder nicht nur in den armen Ländern dieser Erde, sondern genauso für die Gebiete mit Wohlstand, in denen wir leben.