Erkennen mit Haut und Haar
Predigt am 1. April 2007 zu Johannes 17,1-8
1 Als Jesus diese Rede beendet hatte, blickte er zum Himmel auf und sagte: »Vater, die Stunde ist gekommen! Setze deinen Sohn in seine Herrlichkeit ein, damit der Sohn deine Herrlichkeit offenbar machen kann. 2 Du hast ihm ja die Macht über alle Menschen gegeben, damit er denen, die du ihm anvertraut hast, ewiges Leben schenkt. 3 Und das ewige Leben besteht darin, dich zu erkennen, den einzig wahren Gott, und den, den du gesandt hast, Jesus Christus.
4 Ich habe deine Herrlichkeit auf der Erde sichtbar gemacht; denn ich habe die Aufgabe erfüllt, die du mir übertragen hast. 5 Vater, gib mir nun wieder die Herrlichkeit, die ich schon bei dir hatte, bevor die Welt geschaffen wurde! 6 Ich habe dich den Menschen bekannt gemacht, die du aus der Welt ausgesondert und mir anvertraut hast. Dir haben sie schon immer gehört, und du hast sie mir gegeben. Sie haben sich nach deinem Wort gerichtet 7 und wissen jetzt, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir stammt.
8 Ich habe ihnen die Worte weitergesagt, die du mir gegeben hast, und sie haben sie aufgenommen. Sie haben erkannt, dass ich wirklich von dir komme, und sind zum Glauben gekommen, dass du mich gesandt hast.
Jesus hat seine Aufgabe fast erfüllt, er hat nur noch wenige Stunden zu leben. Und er bittet seinen Vater, dass sein Werk nach seinem Tod weitergehen möge. Dass er es in Zukunft in der ganzen Welt tun möge.
Er schaut zurück und sagt: ich habe dafür gesorgt, dass die Menschen dich kennen, Gott. Ja, das hat er. Wir müssen nicht mehr Vermutungen anstellen, welche Absicht hinter allem stehen könnte, wer also Gott ist, sondern wir können an Jesus ablesen, wie Gott ist und welchen Traum er für uns hat. Jesus sagt: das wirkliche, ewige Leben besteht darin, dass man Gott erkennt. Und an mir können das alle ablesen.
Aber das hört sich für uns merkwürdig an. Gott zu erkennen, das soll das ewige Leben sein? Müssten dann nicht am besten alle Theologie studieren? Müssten wir nicht wenigstens Tag für Tag die Bibel wälzen, um Gott so gut wie möglich zu verstehen? Aber das soll ewiges Leben sein? Selbst die Leute, die regelmäßig in der Bibel lesen, können davon erzählen, dass das oft ein ziemlich mühsames Geschäft ist, und dass man manchmal davor sitzt und sich fragt: was soll das jetzt? Und das soll ewiges Leben sein?
Wir bekommen dies Problem, weil wir unter »erkennen« etwas ganz anderes verstehen als die Bibel. Erkennen heißt für uns: nachdenken, studieren, Theorien entwickeln. Ich vereinfache jetzt mal ein bisschen: das Grundmuster, an das wir beim Wort »erkennen« denken, geht ungefähr so: Da sitzt einer, denkt lange nach, schaut vielleicht durch ein Mikroskop, und am Ende kommt dabei eine komplizierte Theorie raus.
Diese Vorstellung verdanken wir den Griechen. Die waren theoretisch hochbegabt und haben ja die Mathematik und die Philosophie erfunden und noch vieles mehr.
Wenn wir jetzt aber zu den Leuten schauen, die die Bibel geschrieben haben, dann sehen wir da ein ganz anderes Grundmuster, was »Erkennen« ist. Gleich am Anfang im vierten Kapitel der Bibel steht: »Adam erkannte seine Frau Eva«. Was bedeutet das? Hat er jetzt endlich gemerkt, dass die eine problematische Schwäche für Äpfel hat? Sagt er zu ihr: »Jetzt habe ich dich endlich durchschaut«? Nein, es geht ganz anders weiter: »Adam erkannte seine Frau Eva, und sie wurde schwanger und gebar ihren Sohn Kain«. »Erkennen« ist ein anderes Wort dafür, dass die beiden miteinander schlafen. Verstehen Sie das ganz andere Grundmuster dahinter? Bei den Griechen ist das Muster: ich denke nach, und am Ende kommt eine Theorie heraus. In der Bibel ist das Grundmuster: wir lieben uns, und am Ende kommt dabei ein Kind heraus, und das ist »erkennen«. Adam denkt nicht aus der Entfernung über seine Frau nach, sondern er kommt mit ihr heftig ins Geschäft. Er betreibt sozusagen Forschung hautnah. Oder wenn man es etwas abstrakter sagen will: eine Person und eine Sache erkennt man nur, wenn man sich selbst auf sie einlässt, wenn man nicht vorsichtig auf Anstand bleibt, sondern sich mit Haut und Haar an sie ran schmeißt. Du lernst nur was über die Sachen, die du selber machst.
Und wenn man das auf Gott anwendet, dann heißt das: Gott zu erkennen bedeutet nicht, irgendwie über ihn nachzugrübeln oder innerlich dazu Stellung zu nehmen, ob es ihn nun gibt oder nicht. Gott erkennen bedeutet im Kern noch nicht mal intensives Bibelstudium. Gott erkennen im Sinn der Bibel besteht darin, dass man mit Gott hautnah ins Geschäft kommt, dass man auf seinen Wegen geht und ihn in seinem Leben widerspiegelt. Dass man Gottes Träume teilt und dass am Ende praktisch etwas dabei herauskommt.
Es gibt bei Dietrich Bonhoeffer eine ganz interessante Parallele dazu. Der ist von Haus aus ein sehr gebildeter Mensch gewesen, hat dann als Theologe viele Bücher geschrieben, und ist schließlich immer stärker in die Attentatspläne gegen Hitler hineingezogen worden. Er verbrachte zwei Jahre im Gefängnis, bevor er schließlich kurz vor Kriegsende hingerichtet wurde. Und erstaunlicherweise sind es gerade die skizzenhaften Notizen aus dieser Gefängniszeit, die viel mehr gewirkt haben als seine ganzen früheren Bücher, die natürlich viel gründlicher durchdacht waren.
Aber man merkt in diesen Notizen, wie er da im Gefängnis noch einmal ganz anders mit Gott zu tun bekommt, hautnah sozusagen. Und er schrieb damals:«ich erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt.« Wenn man »in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten« lebt, »dann wirft man sich Gott ganz in die Arme«.
Ist das nicht ein schönes Bild? Sie erinnern sich an Adam, der seine Frau Eva erkannte. Und hier schreibt Bonhoeffer, dass man sich Gott in die Arme werfen muss. Das ist die beste Übersetzung von »Gott erkennen«, die ich kenne. Sich Gott in die Arme werfen, indem man sich auf das ganze diesseitige Leben einlässt, das er uns schickt. Natürlich immer mit der Frage: was ist Gottes Perspektive dabei, was ist sein Wille, was ist sein Traum für mich?
Das ist die biblische Art, zu »erkennen«. Die funktioniert nur, wenn man selbst dabei vorkommt. Hier mitten in der Welt der Materie. Hier sollen wir uns Gott in die Arme werfen. So läuft das. Jesus hat das vorgemacht. Er hat sich nicht hingesetzt und hat eine Theorie über die Sünde entwickelt, sondern er hat sich mit korrupten religiösen Führern rumgeschlagen, und am Ende haben sie ihn gekreuzigt. Da konnte er keine Theorien mehr über die Sünde der Welt entwickeln, sondern er bekam sie am eigenen Leibe zu spüren, und so hat er in dieses Dunkel Licht hineingebracht. So hat er Gott verherrlicht.
Das ist ja auch so ein komisches Wort hier bei Johannes. Was ist das, verherrlichen? Haben Sie schon mal jemanden verherrlicht? Mir fällt da als erstes jemand ein, der die Schlachten von General Sowieso beschreibt und dabei hemmungslos übertreibt. Und mehr im christlichen Bereich Leute, die viele Lieder für Gott singen. Oder vorhin, als wir in der Lesung gehört haben, wie sie Jesus in Jerusalem mit Konfetti begrüßt haben, also mit Palmzweigen, und wir wissen, dass das nicht lange vorgehalten hat.
Aber hier meint Jesus mit »Gott verherrlichen«, dass er Kranke gesund gemacht hat und Hungrige satt, dass er sich damit abgemüht hat, seinen Jüngern klarzumachen, worum es ihm geht, dass er manchmal tagelang Stress hatte durch die vielen Leute, so dass er noch nicht mal was essen konnte. Und dass er sich am Ende stundenlang am Kreuz abquält und trotzdem nicht anfängt zu fluchen oder seine Würde zu verlieren. Das alles ist »Gott verherrlichen«.
Gott verherrlichen bedeutet, dass am Ende jemand ungefähr folgendes fühlt oder denkt oder sagt: »Eigentlich hätte ich gedacht, dass es Gott völlig egal ist, was hier bei uns passiert. Ich habe geglaubt, dass er lieber Rosen züchtet, als sich mit dieser Welt voll Dreck und Schmerz zu beschäftigen. Aber jetzt ist mir deutlich geworden, dass Gott aufsteht gegen das Unheil in der Welt, dass Kranke geheilt werden, Hungrige satt werden, Gefangene besucht, Faule in Bewegung kommen, Arme anfangen zu hoffen, Flüchtlinge eine neue Heimat bekommen und Menschen befreit werden aus dem Gefängnis ihrer Ängste und Lügen. Ich habe verstanden, dass Gott einen Aufstand anzettelt gegen die Ausbeutung und eine Untergrundbewegung aufbaut gegen den Raubbau an Mensch und Schöpfung. Und ich mache mit.«
Immer wenn einer sinngemäß so etwas sagt, dann wird Gott verherrlicht. Dann kommt Gott groß raus. Das ist in der Bibel mit Erkenntnis Gottes gemeint, und es ist etwas ganz anderes als unser griechisch geprägtes Verständnis dieses Wortes. Diesen Gegensatz hat in der Neuzeit mal einer folgendermaßen formuliert, wahrscheinlich ohne zu wissen, dass das biblische Wahrheit ist: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt aber darauf an, sie zu verändern.«
Und deswegen betet Jesus jetzt, wenige Stunden vor seinem Tod, er bittet Gott, dass dieser neue Weg nicht sterben möge durch seine Kreuzigung. Denn Jesus hat ja nur einen Samen gelegt, 12 Jünger, die nur gerade so anfangsweise verstanden haben, worum es ihm geht. Und wenn er jetzt stirbt, dann soll das ja weitergehen, und zwar nicht nur da in Jerusalem, sondern auf der ganzen Welt. Die Feinde Jesu werden ihre ganze Verschlagenheit und Grausamkeit aufbieten, aber am Ende wird für sie die Kreuzigung so sein, als ob sie versucht hätten, ein Feuer mit Benzin zu löschen. Darum geht es, wenn Jesus zu Gott sagt: ich habe dich hier auf der Erde verherrlicht, jetzt verherrliche du mich! Es geht darum, dass Jesus am Ende sagen kann »ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt«, wie wir es vorhin bei der Taufe von Bjarne gehört haben. Das wäre nicht gegangen ohne die Kreuzigung.
Stellen Sie sich vor, Jesus wäre nicht gestorben und lebte heute noch in Jerusalem – dann hätte ich ein Problem. Ich hätte ein Problem, wenn ich ihn hier in Ilsede brauchen würde. Wenn ich ihn was fragen müsste – soll ich dafür nach Jerusalem fahren? Oder anrufen? Aber ich wäre sicher nicht der Einzige, der einen Rat von ihm will. Wahrscheinlich würde ich in einer Warteschleife landen, und dann höre ich eine freundliche Stimme, die sagt: »Jesus telefoniert gerade. Versuchen Sie es bitte später noch einmal, am einfachsten in ungefähr 27 Jahren.«
Jesus bittet darum, dass Gott ihn jetzt wieder aufnimmt in den Himmel, damit er dann auf der ganzen Erde zu erreichen ist, von vielen Menschen gleichzeitig. Das geht nur vom Himmel aus. Nur vom Himmel aus kann Jesus seine weltweite Untergrundbewegung immer wieder neu inspirieren, kann seine Leute ermutigen, ob sie nun in einem Slum in Manila arbeiten oder mit Prostituierten in Thailand arbeiten oder hier bei uns daran arbeiten, dass Menschen ein Gefühl für ihre Würde bekommen.
Gottes Herrlichkeit wird in den Schmutz gezogen, wenn Menschen ausgebeutet, verdummt, zerstört, gedemütigt, gequält, durch Süchte gefesselt oder anderswie beschmutzt werden. Wir sind seine Ebenbilder, und was einem von uns zustößt, das bewegt Gott. Deswegen sucht er Menschen, die ihn so kennen, wie er wirklich ist, die ihn erkennen, die sich ihm in die Arme werfen und in der Fülle der Fragen, Aufgaben und Ratlosigkeiten von ihm ihr Leben gestalten lassen.