Jesus und eine uralte Feindschaft
Predigt am 21. Januar 2007 zu Johannes 4,3-26
Der Predigttext ist heute ziemlich lang. Das Gespräch, das da geschildert wird, umfasst beinahe das ganze 4. Kapitel des Johannesevangeliums. Wissen sollte man aber beim Zuhören, dass zwischen Juden und Samaritanern Feindschaft herrscht – nicht nur, dass sie sich irgendwie »nicht mögen«, sie haben eine lange, böse Geschichte miteinander. Sie reden nicht miteinander. Insofern ist das Gespräch zwischen Jesus und der Frau aus Samarien schon ungewöhnlich.
Denkt man auch noch daran, dass es zwischen Männern und Frauen damals sehr wenig Gesprächskontakte gab, dann wird das Außerordentliche an diesem Gespräch besonders deutlich. Jesus überschreitet hier gleich mehrere Grenzen, und seine Jünger sind sehr verwundert, als sie kommen und ihn dabei erleben.
3 Jesus verließ Judäa und ging wieder nach Galiläa.
4 Er musste aber durch Samarien reisen. 5 Da kam er in eine Stadt Samariens, die heißt Sychar, nahe bei dem Feld, das Jakob seinem Sohn Josef gab. 6 Es war aber dort Jakobs Brunnen. Weil nun Jesus müde war von der Reise, setzte er sich am Brunnen nieder; es war um die sechste Stunde.
7 Da kommt eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr: Gib mir zu trinken! 8 Denn seine Jünger waren in die Stadt gegangen, um Essen zu kaufen.
9 Da spricht die samaritische Frau zu ihm: Wie, du bittest mich um etwas zu trinken, der du ein Jude bist und ich eine samaritische Frau? – Denn die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern. –
10 Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser.
11 Spricht zu ihm die Frau: Herr, hast du doch nichts, womit du schöpfen könntest, und der Brunnen ist tief; woher hast du dann lebendiges Wasser? 12 Bist du mehr als unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat? Und er hat daraus getrunken und seine Kinder und sein Vieh.
13 Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten; 14 wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.
15 Spricht die Frau zu ihm: Herr, gib mir solches Wasser, damit mich nicht dürstet und ich nicht herkommen muss, um zu schöpfen!
16 Jesus spricht zu ihr: Geh hin, ruf deinen Mann und komm wieder her!
17 Die Frau antwortete und sprach zu ihm: Ich habe keinen Mann. Jesus spricht zu ihr: Du hast recht geantwortet: Ich habe keinen Mann. 18 Fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann; das hast du recht gesagt.
19 Die Frau spricht zu ihm: Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. 20 Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten soll.
21 Jesus spricht zu ihr: Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. 22 Ihr wisst nicht, was ihr anbetet; wir wissen aber, was wir anbeten; denn das Heil kommt von den Juden. 23 Aber es kommt die Zeit und ist schon jetzt, in der die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben. 24 Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.
25 Spricht die Frau zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkündigen.
26 Jesus spricht zu ihr: Ich bin’s, der mit dir redet.
Die Geschichte endet schließlich damit, dass Jesus zwei Tage in Sychar bleibt und mit den Leuten dort redet und sie tatsächlich überzeugt.
Aber fangen wir mit dem Anfang an!
Jesus begegnet in dieser Episode den Spuren von Hass, Gewalt und Mord zwischen Volksgruppen, die im Lauf der Geschichte immer wieder ihre schlimmen Spuren in Herz und Gedächtnis der Völker hinterlassen. Israel war davon nicht verschont geblieben: die Samaritaner gehörten ursprünglich zum Volk Israel, sie führten ihre Herkunft zurück auf die Erzväter Jakob und Josef, aber im Lauf der Geschichte hatte es Trennungen gegeben, bis hin zum Bruderkrieg. Der jüdische König Johannes Hyrkanos hatte 150 Jahre vor Jesus das Heiligtum der Samaritaner auf dem Berg Garizim verwüstet, er hatte die benachbarte Stadt Sichem zerstört, und zwanzig Jahre später machte er die Hauptstadt Samaria dem Erdboden gleich.
Im Gegenzug waren die Bewohner Galiläas gefährdet, wenn sie nach Jerusalem wollten und durch Samarien zogen; manchmal wurden Reisende unterwegs überfallen, und als Vergeltung brannten Zeloten (die militanten jüdischen Aktivisten) dann samaritanische Dörfer nieder. Hass und alte Verletzungen vergifteten das Verhältnis zwischen den Volksgruppen, wie heute z.B. an manchen Stellen im früheren Jugoslawien, oder im Irak, in Somalia, in Eritrea und anderswo auf dem Globus. Viele machten deshalb auf dem Weg nach Jerusalem einen Umweg um Samarien. Es fällt auf, dass Jesus das nicht tat. Auch später hat er seinen Weg wieder durch Samarien genommen (Luk. 9,52).
Es geht also bei dieser Begegnung am Jakobsbrunnen nicht um einen religiösen Dialog über die Frage, welches Heiligtum das Richtige ist, sondern es geht um Feuer und Schwert, um Blut und Verachtung, die zwischen Juden und Samaritanern standen.
Und Jesus sucht das Gespräch über diese Grenze hinweg. Er setzt sich an einen Brunnen, wie es der Erzvater Jakob getan hat, als er in der Fremde war. Am Brunnen bei Haran hat der seine spätere Frau Rahel kennengelernt, eine der Stammmütter Israels (1. Mose 29). Eine Generation vorher hat Elieser, der Diener Abrahams, dort um Rebekka geworben (1. Mose 24,12f), und das begann mit genau dieser Bitte: gib mir zu trinken!
Aber jetzt sind die Verhältnisse anders. Selbst die einfache Gastfreundschaft, auf die Elieser gestoßen ist, ist nicht mehr möglich, so vergiftet sind die Verhältnisse. Die samaritanische Frau versteht die Bitte Jesu als arrogantes Rumkommandieren. »Das fehlt gerade noch!« antwortet sie. »Normalerweise sind wir für euch die Bastarde, aber jetzt, wo du Durst hast, soll ich dich auch noch bedienen? Nicht mit mir!«
So schlimm ist das. So tief sind die Gräben, dass jeder Versuch der Annäherung falsch verstanden wird, dass er nur Misstrauen und Bitterkeit hervorruft. Diese unendlichen Hassgeschichten nach dem Motto »Ich tue dir weh, damit du irgendwann aufhörst, mir weh zu tun«; aber es hört nicht auf und richtet nur immer neue Verwüstungen an in den Herzen und in der Welt. Wenn diese beiden, Jesus und die Frau, es nicht schaffen, das zu überwinden, wie soll es dann jemals gelingen?
Sie hat seine Bitte um Wasser falsch verstanden, als Arroganz. Jetzt versucht er einen zweiten Anlauf: er bietet an, ihr etwas zu geben, lebendiges Wasser. Aber auch das bekommt sie in den falschen Hals: »Jetzt bildest du dir auch noch ein, dass du was Besseres bist als unser gemeinsamer Stammvater Jakob! Der hat uns diesen Brunnen gegeben, er hat selbst daraus getrunken, so schlecht kann das Wasser also nicht sein. Du sagst, du willst mir was Besseres geben, aber du hast ja noch nicht mal was zum Schöpfen dabei.« Sie wehrt sich gegen das, was sie als Arroganz empfindet, und sie kann ihre Worte gut setzen.
Jesus antwortet, dass selbst das Wasser des Jakobsbrunnens nicht den Durst beendet. Oder, anders gesagt, mit Blick auf die mörderische Feindschaft: der Verweis auf die Tradition bringt gar nichts. Aber Jesus hat etwas anderes anzubieten, etwas ganz Neues, lebendiges Wasser nennt er es, und das schafft eine Lage, wo man Dinge wieder bereden kann, die sonst mit Fäusten oder Maschinengewehren ausgetragen werden. Jesus hat eine Lösung, die Israel und Samaria herausholt aus der aussichtslosen politischen Lage, in der sie sind. Sie stöhnen ja beide unter der römischen Knechtschaft und machen sich dann noch gegenseitig kaputt.
Die Frau ist so resigniert, dass sie das nicht versteht. Bei »lebendigem Wasser« fällt ihr nur ihre tägliche Maloche mit dem Wasserholen ein. Bis heute müssen viele Frauen in der Dritten Welt Tag für Tag die schweren Krüge oder Kanister mit Wasser von der Wasserstelle ins Dorf schleppen, manchmal dauert das Stunden. Wenn das endlich zu Ende wäre, denkt die Frau, das wäre toll! Das ist das Äußerste, was sie sich vorstellen kann. Das Gespräch ist festgefahren. In dieser Lage sagt Jesus: hol deinen Mann! Sie erwidert, dass sie keinen habe, und Jesus sagt ihr: richtig, fünf Männer hast du gehabt, und dein jetziger ist nicht dein Mann!
Die Ausleger verstehen das so, als ob die Frau einen enormen Männerverschleiß habe und jetzt in wilder Ehe mit jemandem zusammenlebe. Aber irgendwie komme ich da nicht mit. So eine wilde Ehe in einem antiken Dorf war etwas völlig Unmögliches. Und auf fünf geschiedene Ehen bringen es selbst heute fast nur Filmstars und andere Promis. Reden die beiden vielleicht gar nicht von Männern, sondern eher von Herrschern, so wie etwa der Prophet Hosea das Bild der Ehe für das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk benutzt und ankündigt, dass Israel eines Tages Gott seinen Mann nennen wird, nicht mehr seinen Herrn? Und wenn die Frau sagt: ich habe keinen Mann, dann würde sich darin die elende Lage ihres misshandelten Volkes spiegeln, das nirgendwo Schutz und Hilfe findet. Dann würde nämlich auch die Antwort der Frau passen: »ich sehe, dass du ein Prophet bist, jemand der die Dinge bis auf den Grund sieht. Aber auch dann: zwischen uns steht die blutige Geschichte unserer Völker, konzentriert in der Frage, wo man denn Gott anbeten soll, in Jerusalem oder auf unserem heiligen Berg. Was sagst du dazu?«
Und da antwortet Jesus mit einem Weder-noch. Diese Alternative zwischen Tempel hier und Heiligtum dort wird nichts lösen. Für jede Seite gibt es tausend Argumente. Das ist Religion. Und Religion bringt neben vielem Guten auch solche schrecklichen Konflikte hervor. Jesus hat kein Interesse an dieser Frage: welches ist denn nun die richtige Religion? Seine Lösung liegt jenseits der Religion, es ist eine Art Anti-Religion. Die Römer haben das verstanden. Sie nannten die ersten Christen »gottlos«, Atheisten, weil sie keine anständigen Götter und Tempel und Priester usw. hatten wie alle anderen Religionen. Leute die sich in irgendwelchen Hinterhöfen trafen statt in ordentlichen Heiligtümern.
Aber Jesu sagt: diese ganzen religiösen Alternativen muss man hinter sich lassen. Gott muss man anbeten im Geist und in der Wahrheit, nicht in einem heiligen Haus. Das klingt für unsere Ohren möglicherweise abgehoben, als ob sich jemand aus der bösen Welt in ein Reich des Geistes flüchtet, wo er all den Unbill vergessen kann. Nichts ist falscher als das! Denn diese Anbetung wohnt in der Gemeinde, die Jesus hinterlässt. Menschen, die sich genauso in der Heilung der Welt engagieren, wie Jesus sich abmüht mit diesem uralten Konflikt Juden/Samaritaner. Und diese Gemeinschaft ist keine religiöse Institution, sondern eine Gruppe von Jüngerinnen und Jüngern, die heraustreten aus der Blutgeschichte ihrer Völker und auf neuem Boden noch einmal anfangen. Wie sollen denn die Gräben des Misstrauens und der Bitterkeit anders überwunden werden, als durch Menschen, die diese ganze Geschichte von Gewalt und Gegengewalt hinter sich lassen und auf einer neuen Grundlage miteinander leben?
Das ist die Basis, die Jesus der Frau anbietet: die Gemeinde des Messias, die weder für »die Juden« ist noch für »die Samaritaner«, aber auch nicht für »das Christentum«, sondern die als Gemeinschaft von Menschen ein neues versöhntes Miteinander leben. Eine Gemeinschaft von Menschen, die keine heiligen Orte brauchen, weil sie von der Inspiration des Heiligen Geistes leben, der unter ihnen wohnt. Eines Tages wird Jesus aus dem Tempel in Jerusalem herausgehen und sagen: von diesem Gebäude bleibt kein Stein auf dem anderen! Und dann wird er das Abendmahl einsetzen als eine Feier, die in jedem normalen Haus überall auf der Welt gefeiert werden kann. Das ist keine neue Religion, sondern eine Umgebung, in der Menschen des Friedens heranwachsen, die auch in ihre Umgebung Versöhnung bringen können. Und es ist ein Jammer, das das Christentum später immer mehr Züge von einer Religion angenommen hat und als solche missverstanden worden ist, und dann eben auch in die ganzen Kalamitäten hineingekommen ist, die Religionen mit sich bringen: Feindschaft zwischen Protestanten und Katholiken, zwischen Sunniten und Schiiten usw.
Ich habe neulich gehört von einem Mann, der hinter den Kulissen ganz entscheidend zur Versöhnung zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland beigetragen hat. Die sind ja auch von jahrhundertealtem Hass und viel vergossenem Blut belastet. Mit großer Beharrlichkeit hat er immer wieder an Gesprächskanälen zwischen den verfeindeten Parteien gearbeitet. Er hat mit den Leuten von der IRA gesprochen, mit den Protestanten, mit den Engländern. Jetzt scheint es so, als ob es in Nordirland wirklich dauerhaft friedlich wird. Mehr als dreißig Jahre lang hat er dazu beigetragen, mit viel Geduld und Beharrlichkeit. Jetzt ist er selbst über 60 und im Rentenalter, und was macht er jetzt? Er ist nach Spanien gezogen, ins Baskenland. Und was tut er dort? Er spricht mit den Bombenlegern von der ETA, mit der Polizei, mit den spanischen Politikern.
Es braucht überall solche Menschen, die von einem Dritten Ort aus solche Gespräche führen. Die nicht auf einer Seite stehen, aber sich auch nicht in bequemer Neutralität irgendwo über den Parteien ansiedeln. Sondern Menschen, die – inspiriert vom Heiligen Geist, den Jesus gebracht hat – eine Energie ausstrahlen, die die jahrhundertealten Verwerfungen der Feindschaft überwinden kann, zwischen Völkern ebenso wie in Familien und anderswo. Jesus hat seine Jünger gesandt, damit sie überall in der Welt solche Gemeinschaften aufbauen. Mir ist erst bei der Vorbereitung dieser Predigt aufgefallen, wie oft Jesus mit dem Samaritaner-Problem zu tun hat. Er selbst ist immer wieder in Samarien gewesen, um da etwas zu heilen, und zu Hause hat er die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt, um die alten Sichtweisen aufzubrechen. Dafür haben sie ihn selbst als Samaritaner beschimpft (Joh. 8,48).
Aber solche inspirierten Gemeinschaften sind Gottes Heilmittel für viele verschiedene Gelegenheiten im Großen und im Kleinen. Wir werden nicht alle gleich an einem Konflikt wie dem Nordirlandkonflikt arbeiten, aber wir sollen an unserem Ort diese Unabhängigkeit leben, eine Inspiration, die die ganzen Konflikte und Verwerfungen zwischen Menschen und in den Menschenherzen überwinden und hinter sich lassen kann. An vielen verschiedenen Orten sollen wir Menschen des Friedens sein, weil wir im lebendigen Gott verankert sind.
Vorhin in der Lesung haben wir gehört, wie Paulus sagt: »ich schäme mich des Evangeliums nicht, weil es die Kraft Gottes zur Rettung ist (Römer 1,16-17)«. Ja, im Evangelium von Jesus liegen wirklich alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen, die Lösung für die großen und kleinen Probleme der Welt. Aber Menschen müssen mit Zutrauen zu diesem Evangelium hineingehen in die Verwerfungen und Brüche der Welt, sie müssen das zusammenbringen mit dem Evangelium, damit diese Schätze auch gehoben werden. So wie Jesus sich an den Brunnen von Samaria gesetzt hat, um unter Einsatz seiner ganzen Person eine uralte Feindschaft zu heilen.