Jesus im Ausnahmezustand
Predigt am 14. Januar 2007 zu Markus 2,13-22
13 Dann ging Jesus wieder hinaus an den See. Alle kamen zu ihm, und er sprach zu ihnen. 14 Als er weiterging, sah er einen Zolleinnehmer an der Zollstelle sitzen: Levi, den Sohn von Alphäus. Jesus sagte zu ihm: »Komm, folge mir!« Und Levi stand auf und folgte ihm.
15 Als Jesus dann in seinem Haus zu Tisch saß, waren auch viele Zolleinnehmer dabei und andere, die einen ebenso schlechten Ruf hatten. Sie alle aßen zusammen mit Jesus und seinen Jüngern. – Was die Zahl der Jünger betrifft: Es waren inzwischen viele, die sich Jesus angeschlossen hatten.
16 Die Gesetzeslehrer von der Partei der Pharisäer sahen, wie Jesus mit solchen Leuten zusammen aß. Sie fragten seine Jünger: »Wie kann er sich mit Zolleinnehmern und ähnlichem Volk an einen Tisch setzen?«
17 Jesus hörte es, und er antwortete ihnen: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, solche Menschen in Gottes neue Welt einzuladen, bei denen alles in Ordnung ist, sondern solche, die Gott den Rücken gekehrt haben.«
18 An einem Tag, an dem die Jünger des Täufers Johannes und die Pharisäer fasteten, kamen Leute zu Jesus und fragten ihn: »Wie kommt es, dass die Jünger des Täufers und die Jünger der Pharisäer regelmäßig fasten, aber deine Jünger nicht?«
19 Jesus antwortete: »Können die Hochzeitsgäste fasten, während der Bräutigam unter ihnen ist? Unmöglich können sie das, solange er bei ihnen ist! 20 Die Zeit kommt früh genug, dass der Bräutigam ihnen entrissen wird; dann werden sie fasten, immer an jenem Tag.
21 Niemand flickt ein altes Kleid mit einem neuen Stück Stoff; sonst reißt das neue Stück wieder aus und macht das Loch nur noch größer.
22 Auch füllt niemand neuen Wein, der noch gärt, in alte Schläuche; sonst sprengt der Wein die Schläuche, der Wein ist hin und die Schläuche auch. Nein, neuer Wein gehört in neue Schläuche!«
In diesen Geschichten geht es darum, aus welcher Energie die Jesusbewegung ihre Ausstrahlung bekommt. Warum kommen die Leute zu Jesus? Welche Kraft bringt sie dahin? Und wie kann das erhalten werden?
Man sieht, wie die Vertreter der anderen geistigen Strömungen dieser Zeit daneben stehen und fragen: »Was ist da los? Was macht er da eigentlich?« Und die einen fragen das eher kritisch, so nach dem Muster »Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen«, und die anderen fragen etwas offener, zwar auch skeptisch, aber doch neugierig: »Warum funktioniert es bei ihm ganz anders, als wir das kennen?«
Denn es ist ja offensichtlich ein großer Unterschied zwischen Jesus und den anderen. Bei Jesus hat das alles so eine Leichtigkeit, es funktioniert alles wie von selbst, er muss nicht groß Propaganda machen, die Leute kommen einfach, weil sie unbedingt dabei sein wollen, und sie nehmen dafür stundenlange Wanderungen auf sich. Sie lassen ihre Arbeit liegen, sie bringen das Mittagessen nicht pünktlich auf den Tisch, sie lassen Theaterkarten verfallen, sie verpassen »Wetten dass …«, und alles, weil sie da irgendwie mit dabei sein wollen. Wahrscheinlich hat es auch damals genügend Leute gegeben, die zu Hause geblieben sind, die Städte und Dörfer waren nicht gleich menschenleer, aber es war doch ein enormer Zulauf, den Jesus hatte, und eben nicht durch irgendwelche Werbetricks, sondern einfach, weil die Leute live dabei sein wollten bei dem Ereignis Jesus.
Und was macht Jesus mit den Menschen? Er bringt sie in einen Ausnahmezustand. Er holt sie raus aus ihrem normalen Leben. Er geht mit ihnen in die Wüste oder an einsame Stellen am See Genezareth. Er holt Levi weg von seinem Arbeitsplatz. Er feiert eine Party mit Leuten, mit denen man sonst nie an einem Tisch gesessen hätte.
Gemeinschaft mit Jesus ist permanenter Ausnahmezustand. Dauernd sehen wir das in den Evangelien. Er holt die Leute weg von ihren normalen Beschäftigungen. Er organisiert eine Gemeinschaft, wo man die ganze Zeit völlig ungewöhnliche Sachen erlebt. Und viele wollen das nicht verpassen. Die Einen gehen danach wieder zurück in ihr altes Leben, aber die anderen bleiben dauerhaft bei ihm. Man könnte sagen, es ist die Erfahrung der göttlichen Liebe, die sie bewegt, nur das klingt in unseren Ohren heute viel zu harmlos im Vergleich zu dem, was da passierte.
Macht euch klar: wirkliche, tiefe Gemeinschaft entsteht nicht dadurch, dass sich ein paar nette Leute zusammentun und nett zueinander sind. Echte Gemeinschaft entsteht im Ausnahmezustand, dann, wenn das Leben nicht normal ist. Mein Vater hat sich z.B., als ich noch klein war, immer mit den sogenannten »Kriegskameraden« getroffen. Ich erinnere mich vor allem noch daran, weil der eine eine elektrische Eisenbahn hatte. Aber im Rückblick ist mir klar, dass diese Männer verbunden waren durch ihr gemeinsames Erleben im Krieg, durch die gemeinsamen Erfahrung von Gefahr und vielleicht auch Tod, Zeiten, wo man sich in einer Weise auf den anderen verlassen musste und wohl auch konnte, wie wir das im normalen, ruhigen Leben gar nicht kennen. Ungefähr 15 Jahre lang haben die sich nach dem Krieg noch regelmäßig getroffen, dann hörte das auf, wahrscheinlich war in der Normalität der 50er und 60er Jahre ihre Gemeinsamkeit irgendwann aufgebraucht.
Aber das ist ein Beispiel dafür, wie auch sonst wirkliche, tiefe Bindungen meistens im Ausnahmezustand entstehen, wenn die normalen Regeln und Gebräuche irgendwie außer Kraft gesetzt sind. Wenn dein Haus abgebrannt ist, wenn du schwer krank bist, wenn deine Ehe ernsthaft gefährdet ist, wenn du dich voll Engagement mit Haut und Haar mit anderen für einen guten Zweck einsetzt – das sind die Situationen, wo du große Chancen hast, anderen auf wirklich tiefe Weise zu begegnen und sie viel besser und anders kennenzulernen als im Normalbetrieb. An solche Zeiten erinnern wir uns noch lange, und unser Leben wäre ärmer ohne solche Erfahrungen.
Auch viele Christen erinnern sich an solche Erfahrungen, die sie irgendwann mal gemacht haben: oft in ihrer Jugend in christlichen Jugendgemeinschaften, manchmal auch auf Konfirmandenfreizeiten, aber durchaus auch später noch. Da gab es mal Zeiten, in denen es normal war, ganze Tage mit anderen zu verbringen und bis tief in die Nacht hinein zu diskutieren, ohne auf die Uhr zu sehen; wo es nicht drauf ankam, dass man am Morgen total müde war, wo man selbstverständlich andere Leute an seinen Kühlschrank gelassen hat, wo es kein Problem war, wenn man die Hausaufgaben nur in Ansätzen vorzeigen konnte und wo das Fernsehen ganz uninteressant war. Irgendwann hat das aufgehört, irgendwann hat der normale Alltag wieder sein Recht gefordert, und auch die menschlichen Eigenheiten und Schattenseiten zeigten sich und trugen ihr Teil dazu bei. Aber in der Erinnerung wird das zu einer goldenen Zeit, nach der man sich immer wieder zurücksehnt. Eine Zeit, in der man in einem Monat mehr gelernt und erlebt hat als später in Jahren. Aber meistens vergisst man, dass man auch viel dafür eingesetzt hat.
Unser Problem ist, dass das meistens nur eine begrenzte Phase bleibt, und dass dann wieder das beginnt, was man das »normale Leben« nennt. Jesus dagegen hat mit seinen Jüngern dauernd so gelebt, und hat dafür gesorgt, dass sie permanent draußen blieben, außerhalb der Normalität der Welt. Aber er hat sich dazu nicht in ein Wüstenkloster zurückgezogen, sondern sie haben das unter den Menschen gelebt – sozusagen als ein Einsatzkommando des Reiches Gottes, das z.B. im Hause Levi auftaucht und dort eine Party mit Levis Kollegen und Saufkumpanen feiert. Und dabei bringen sie Gott mit in diese kaputte Welt der Gier und Korruption. Und diese Herausforderungen haben dafür gesorgt, dass ihre Gemeinschaft frisch blieb.
Das alles war so anziehend, dass der Zolleinnehmer Levi sofort bei Jesus mitmachte. Natürlich musste er nicht, aber als Jesus Levi angesprochen hat, da hat der sich gefühlt, als hätte er das große Los gezogen. Er lässt sofort seine Rechtssammlung mit den Vorschriften fallen und geht mit. Und die anderen Zöllner hatten auf einmal über ihren Freund Levi einen Direktzugang zu Jesus – so was kannten sie bis dahin überhaupt nicht. Bis dahin waren sie – durchaus zu Recht – als Handlanger der Besatzungsmacht bekannt und ausgegrenzt gewesen.
Diese Energie des Ausnahmezustandes, die im Zentrum der Jesusbewegung wirkt, ist eine Energie, die sonst Unvereinbares zusammenbringt. Meinetwegen kannst du diese Energie auch die Kraft der Liebe Gottes nennen, aber mach dir klar: vom normalen Leben her gesehen ist das ein permanenter Ausnahmezustand. Da ensteht tiefe Gemeinschaft zwischen Menschen, die sonst nie miteinander an einem Tisch gesessen hätten. Und wo es gut gelaufen ist, da hat das auch immer die christlichen Gemeinden geprägt: dass es da Gemeinschaft und Freundschaft gegeben hat zwischen Menschen, die sich sonst gesellschaftlich nirgendwo begegnet wären. Da entsteht Freude, die nirgendwo sonst zu finden ist.
Deshalb ist es auch so naheliegend, dass Jesus das Ganze mit einer Hochzeit vergleicht: Eine Hochzeit ist der Höhepunkt einer Ausnahmegeschichte. Wer verliebt ist, ist genauso in einem Extremzustand wie ein Soldat im Krieg. Und wenn es gut war, dann ist das eine Zeit, an die sich die beiden noch nach Jahren erinnern, sie schauen sich die alten Fotos an und sagen: weißt du noch, damals … ! Und auch eine Hochzeit überbrückt eigentlich unvereinbare Gegensätze. Männer werden Frauen nie verstehen, und Frauen werden nie begreifen können, wie ein Mann die Welt sieht, und trotzdem fallen hier und da die Schranken zwischen einem Mann und einer Frau, auf einmal geben zwei Menschen einander Einblick in das unbekannte Land ihres Herzens, die Gräben zwischen den Geschlechtern werden überwunden, und dann ist eben die Freude groß.
Wenn man Menschen fragt, was sie sich ganz besonders wünschen, dann würden wahrscheinlich viele sagen: Gemeinschaft. Aber echte Gemeinschaft entsteht fast nie ohne so einen Ausnahmezustand, und wer davor Angst hat, der muss sich eben mit der lauwarmen, ungefährlichen Nettigkeit unter Gleichen zufriedengeben, und viele tun das ja auch. Nur sie merken dann, dass es das eigentlich nicht ist, was sie sich mal gewünscht hatten. Wenn Menschen sich gleichermaßen Sicherheit und Gemeinschaft wünschen, dann werden sie beides nicht bekommen.
Und nun kommen die Vertreter anderer religiöser Bewegungen zu Jesus, Pharisäer und Johannesjünger. Die waren ja auch mal entstanden, weil Menschen einen Aufbruch mit Gott gemacht haben. Aber im Lauf der Zeit haben die Pharisäer sich doch wieder in die Normalität integriert, sie haben die Sicherheit an die erste Stelle gestellt, und die Johannesjünger sind auf dem Weg dahin. Und die Pharisäer kommen und sagen: man darf nicht Gemeinschaft mit solchen Leuten wie Levi und seinen Freunden haben! Und sie setzen so die Korrektheit an die erste Stelle. Und die Johannesjünger kommen offener und fragen: wieso fastet ihr nicht regelmäßig?
Fasten bedeutet ja eigentlich, dass man sich absichtlich in einen Ausnahmezustand bringt, wo man dann wirklich viel offener ist für Gott und neue Erfahrungen. Manchmal bringt uns Gott durch äußere Erfahrungen in solche Ausnahmezustände, wir können uns dem aber auch selbst aussetzen als eine legitime geistliche Übung. Nur das brauchen die Jünger gar nicht, weil Jesus selbst schon dafür sorgt, dass sie dauernd außerhalb des normalen Lebensstils sind.
Später, wenn Jesus nicht mehr auf Erden lebt, dann ist noch genug Gelegenheit für geistliche Übungen, um mit ihm in Kontakt zu kommen, aber die wären ja schön blöd, wenn sie jetzt fasten würden statt mit Jesus zu essen. Bei Jesus war auch Essen ein geistlicher Akt, und das merkt man nicht zuletzt daran, dass daraus Konflikte entstehen.
Bei den anderen ist das Fasten kein Mittel zum Zweck mehr, sondern sie haben es als Lebensstil integriert. Zweimal die Woche fasten, das ist schon was, aber man kann dabei immer noch ganz gut im Normalzustand bleiben, voll integriert ins System, und man verdirbt es auch mit niemandem.
Und nachdem Jesus das alles erklärt hat, setzt er noch einen drauf und sagt: ihr könnt nicht beides vermischen. Ihr könnt nicht das Neue leben, was ich bringe, und es trotzdem an den alten Maßstäben messen. Ihr könnt nicht das neue Leben irgendwie in das alte integrieren. Ihr könnt nicht neuen heftig gärenden Wein in brüchige Schläuche füllen, dann zerreißt der Wein die Schläuche, die Schläuche sind kaputt, aber der neue Wein ist auch vergossen und vergeudet. Wenn ihr wollt, macht eure Sache, ich hindere euch nicht, lasst mich meine Sache machen, aber vermischt es nicht, denn das bekommt weder dem Alten noch dem Neuen. Ihr könnt auch nicht einen neuen guten Stoff auf einen alten brüchigen Mantel nähen, die kriegt man nicht wirklich zusammen, das passt nicht, das nützt dem Alten nicht, sondern es bringt nur unnötige Zerreißproben.
Jesus hat eine Bewegung ins Leben gerufen, die außerhalb der gewohnten Wege lebt, im Ausnahmezustand. Dauerhaft, nicht nur in einigen wenigen glorreichen Zeiten. Jeder Versuch, die wieder einzufangen und zu integrieren, wird der Bewegung Jesu die Dynamik nehmen, die Freude und die Kraft. Sie wird dann aber auch nicht mehr in der Lage sein, andere zu segnen und zu heilen. Sie wird dann nicht mehr in der Lage sein, das Salz der Erde zu sein.
So ist es aber später leider oft gekommen. Erst integriert man die Kirche und macht sie brav und harmlos, erwartet noch, dass es da immer friedlich und konfliktfrei zugeht, und dann beklagt man sich, dass sie nicht mehr die Vollmacht hat wie in der Zeit des Neuen Testaments. Man kann nicht geistliche Höhenflüge haben, wenn gleichzeitig das Leben brav weitergehen soll. Gott hat es glücklicherweise so eingerichtet, dass man da ohne Risiko nichts geschenkt bekommt. Wer wirklich Gott aus erster Hand kennenlernen will, wer die Freude haben will, die Jesus wirklich bringt, und die echte Gemeinschaft, von der andere nichts wissen, der kommt nicht um den Ausnahmezustand herum.