Gott kommt
Predigt am 30. November 2008 zu Matthäus 21,1-9 und Römer 13,10-12
10 Die Liebe tut dem Mitmenschen nichts Böses an. Darum ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes.
11 Bei dem allem seid euch bewusst, in was für einer entscheidenden Zeit wir leben. Unsere Rettung ist jetzt noch näher als damals, als wir zum Glauben kamen, und es ist höchste Zeit, dass ihr aus dem Schlaf aufwacht. 12 Die Nacht geht zu Ende, bald bricht der Tag an. Darum wollen wir uns von allem trennen, was man im Dunkeln tut, und die Waffen des Lichts ergreifen.
Gott kommt! Das ist die Botschaft des Advents. Gott kommt so wie die Flut: Nach jeder Welle geht das Wasser erstmal wieder zurück, aber bald kommt die nächste Welle, und fast immer ist die ein bisschen höher als die vorige. So brandet Gott gegen die Ufer dieser Welt. Er dringt immer weiter vor, durch alle Ritzen dringt er in die Welt ein, und wer das verhindern möchte, der ist wie ein Kind, das die Flut mit einer Sandburg aufhalten will. Eine Zeit lang geht das, aber dann ist das Wasser so hoch, dass es alles auf einmal wegspült.
Wir hören heute über das Kommen Gottes in zwei ganz unterschiedlichen Bildern: einmal die Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem (Matth. 21,1-9 – das war die Evangelienlesung). Da dringt Gott vor ins Zentrum der Macht. Er tritt auf mitten im Kern von Politik, Religion und Wirtschaft. Bisher hat Jesus sich mit Galiläa begnügt, er hat dort Menschen geheilt und von Gott geredet wie keiner vor ihm. Die kleinen Streitereien mit den Dorfpriestern hat er ohne Probleme gewonnen, die Menschen standen hinter ihm, und er hat als Kern seiner Bewegung ein starkes Team aufgebaut, das seine Botschaft durchs ganze Land getragen hat.
Aber dabei bleibt es nicht. Er begnügt sich nicht mit den harmlosen Bereichen, mit dem Klein-Klein, sondern er geht nach Jerusalem. Das ist die Hauptstadt. Da ist der Tempel. Da ist die römische Besatzungsmacht. Da ist Religion, Politik und Militär, alles zugleich. Da ist alles viel gefährlicher als das, was Jesus bisher gemacht hat. Aber Jesus geht genau in das Zentrum der Macht. Gott kommt. Jesus beansprucht die Aufmerksamkeit, die ein König bekommt, wenn er eine Stadt besucht. Er bringt das labile Gleichgewicht der Macht durcheinander. Er richtet im Tempel Chaos an, als er die Tische der Händler und Wechsler umstürzt.
Er macht das zwar auf andere Weise als die anderen, er stützt sich nicht auf Schwerter und Panzer, sondern auf seine Wirkung auf menschliche Herzen. Aber wie er da in der Haltung eines Königs die Stadt betritt, erhebt er Anspruch darauf, im Zentrum Israels die Dinge zu gestalten. Und die Machthaber merken das sehr deutlich. Sie schlagen Alarm, weil sie spüren: Gott kommt und beansprucht seine Welt von ihnen zurück.
Die andere Bibelstelle aus dem Römerbrief beschreibt dieses Kommen Gottes aus der Perspektive des einzelnen Menschen: Gott dringt ein in das Herz von Menschen und gestaltet sie um, damit sie lieben können und so besser Gott widerspiegeln. Und Paulus sagt: macht euch klar, inzwischen ist Gott schon wieder ein Stück vorgedrungen, er ist schon weiter gekommen als damals, als ihr mit dem Glauben begonnen habt. Die Lage hat sich nochmals verschärft. Die Flut ist wieder ein Stück gestiegen.
Paulus geht ganz selbstverständlich davon aus, dass Gottes Sache in der Welt nicht stagniert. Vielleicht haben wir heute den Eindruck, dass es früher besser war, als die Menschen noch kirchlicher waren und mehr Lieder auswendig kannten, aber es ist nicht gesagt, dass Gott das auch so sieht. Gott unterbricht seinen Weg nicht, nur wir sehen oft nicht, wo es voran geht.
Gott geht Wege, die für uns oft erst im Rückblick verständlich sind, wenn überhaupt. Advent spiegelt ja auch den ganzen langen Weg wider, den Gott mit seinem Volk gegangen ist, bis alles für Jesus bereit war. Es hat Jahrhunderte und Jahrtausende gedauert, bis sie wenigstens die richtigen Fragen stellten und dann die Antwort, die Gott durch Jesus gab, begreifen konnten.
Und denken Sie nur daran, wie merkwürdig uns heute Gottes Verhalten in der ersten Zeit seines Bündnisses mit Israel oft erscheint. Er musste sich immer dem Horizont der jeweiligen Zeit anpassen. Damals in der Frühzeit war es klar und einfach: Gott musste dafür sorgen, dass es seinen Leuten gut geht, dass sie den Krieg gewannen und reiche Ernten einbringen konnten. Dass es genug Nachkommen bei Mensch und Tier gab.
Das ist ein Bild von Gott, das bis heute aktuell ist. Wenn ein Krieg ausbricht, dann wird darum gebetet, dass man gewinnt. Die anderen sollen besiegt werden. Wenn ein Kind geboren wird, dann erhofft man von Gott, dass er es gesund heranwachsen lässt. Und Gott hat sich tatsächlich an diesen Erwartungshorizont angepasst und hat seinem Volk Siege im Krieg und Segen im Frieden gegeben.
Aber dann kommt die zweite Stufe. Das waren die Propheten. Auf einmal wurde Gott kritisch. »Glaubt nicht, dass Gott zu allem Ja und Amen sagt, was ihr tut.« sagten die Propheten. »Glaubt nicht, dass ihr sicher seid, weil bei euch sein Tempel steht. Nicht überall, wo Gott draufsteht, ist auch Gott drin. Es reicht nicht, dauernd von Gott zu reden, wenn ihr in Wirklichkeit ganz anders lebt.« Für uns ist das ein vertrauter Gedanke, aber für die Menschen damals war das ein Riesenschritt, zu verstehen, dass Gott nicht einfach zu allem Ja sagte, nur weil sie ihm in seinem Tempel haufenweise Opfer brachten. Und mancher hat bis heute seine Schwierigkeiten mit diesem Gedanken, dass Gott nicht in erster Linie an unseren Gotteshäusern interessiert ist.
Das ist eine Erkenntnis, die unter Schmerz und Leid gewonnen wurde. Sie haben es erst wirklich geglaubt, als Gott es tatsächlich zuließ, dass sein Tempel zerstört wurde. Äußerlich gesehen war das ein herber Rückschlag für die Sache Gottes, sein Volk war zerstreut und beinahe ganz ausgelöscht, aber in Wirklichkeit war es ein wichtiger Schritt voran auf dem Weg Gottes durch die Welt.
Dann kommt die dritte Stufe. Auf einmal gab es kein klares Ja oder Nein mehr, sondern ein mühsames Durchwusteln in schwierigen Zeiten. Es gab keine Helden mehr wie in der Frühzeit, keine Schurken mehr wie bei den Propheten, sondern mehr Fragen als Antworten. Wie bei einem modernen Gemälde: man schaut es an und versteht nichts. Man schaut nochmal und sieht etwas. Man schaut ein drittes Mal und sieht wieder etwas ganz anderes. Und die Leute wünschen sich die großen alten Zeiten zurück, und die Gemälde, wo man noch verstand, was einem der Künstler sagen wollte, aber es nützt nichts.
Kein Wunder, dass über die lange Zeit zwischen den Propheten und Jesus nur wenig in der Bibel steht. Jahrhunderte, ohne dass etwas passiert, was wirklich voranbringt. Waren das verlorene Jahrhunderte? Es könnte so scheinen, aber genau das war die letzte Strecke der Vorbereitung auf Jesus. Eine Zeit, wo Menschen ihre Sicherheit abhanden kam, wo sie von fremden Mächten abhängig waren, die es früher nie gegeben hatte, und sie entwarfen Weltsysteme, um sich das zu erklären, und trotzdem blieben sie ratlos. Am Ende waren sie zum Glück so verwirrt, dass sie offen waren für das Neue, das Jesus brachte.
Und dann gibt es auf einmal wieder Klarheit und Konturen und eine klare Linie. Jesus zeigt den Weg Gottes. Es gibt ein neues Gottesvolk aus Juden und Heiden, und das lässt sich ein auf die Zwiespältigkeit der Welt und auf ein Leben in einem fremden Weltreich. Und auf einmal gibt es wieder Helden wie David oder Josua, aber die kämpfen nicht mehr mit dem Schwert in der Hand gegen äußere Feinde, sondern sie kämpfen mit Worten und mit Papier gegen Gedankengebäude und Strukturen, die Gott den Weg durch die Welt versperren. Die Helden heißen Petrus, Johannes, Paulus und all die anderen. Gekämpft wird nicht mehr auf Schlachtfeldern, sondern in Synagogen und auf Marktplätzen, in Gefängnissen und Gerichtsstuben, in Wohnzimmern und am Schreibtisch.
Und dann gibt es wieder eine andere Zeit, in der die Propheten aufstehen und sagen: es stimmt alles nicht mehr! Wo Kirche draufsteht ist gar nicht mehr Kirche drin, und Gott sowieso nicht! Das ist die Zeit der Reformation, und die Helden heißen Martin Luther und Calvin und Melanchthon und es gab die eindeutigen Schurken, nämlich den Papst und seine Leute .
Und dann geht auch diese Zeit vorüber, und es kommt eine lange Zeit, in der vieles unklar wird, und selbst die Schurken sind nur noch kümmerliche Gestalten, es ist wieder wie bei einem modernen Gemälde, wo man nicht weiß, was es bedeuten soll, und wieder sehnen wir uns zurück nach den alten Zeiten, in denen alles so klar und eindeutig war.
Aber es sind gerade gerade diese Zeiten der Uneindeutigkeit, in denen Gott hinter den Kulissen an der Arbeit ist und seinen nächsten Schritt vorbereitet. Wie in den Jahrhunderten vor Jesus. Gott stoppt seinen Weg durch die Welt nicht. Gott kommt. Er kommt auch in den Zeiten, in denen es äußerlich nicht nach großen Schritten aussieht. Vielleicht ist es in seinen Augen ein viel größerer Fortschritt, wenn wir unsere Sicherheiten verlieren und so überhaupt erst wieder offen werden für ganz neue Perspektiven. Mit neuer Sprache, mit neuen Helden und Schurken, mit anderen Fragestellungen.
Wie Gott in diese Welt hineinkommt, in all die Verzweigungen des Lebens und des Denkens, das bleibt für uns im Großen und Ganzen ein Geheimnis. Ab und zu reißt der Nebel auf und wir bekommen einen freien Blick, gerade genug, um die Richtung zu erkennen, aber gleich darauf können wir wieder nur den nächsten Schritt erkennen.
Und ist das nicht genau so auch für jeden Einzelnen? Da gibt es die großen Zeiten im Leben, wo Entscheidungen fallen und Konflikte deutlich werden. Da gibt es die Zeiten, in denen man rebelliert gegen Dinge, die wirklich oder angeblich falsch und ungerecht sind. Und dann gibt es die Zeiten, in denen nichts Großes passiert, oder wo alles undeutlich und fragwürdig wird und man nicht weiß, was gilt, und gerade das sind die Zeiten, in denen sich das Neue vorbereitet. Zeiten, in denen wir lernen, mit dem Geheimnis zu leben.
Gott ist ein kreativer Gott. Er bleibt sich treu, aber er wiederholt sich nicht. Er wirkt nicht nach Schema F, sondern er überrascht uns immer wieder. Was gestern in Ordnung war, kann heute tot und leer sein. Aber ganz bestimmt hat er nicht aufgehört, in die Welt hineinzukommen. Die Flut steigt. Jede Welle rollt weiter den Strand hinauf als die vorige.
Und was Paulus sagt, das müssen wir gerade in Zeiten der Uneindeutigkeit beherzigen: ergreift die Waffen des Lichts! Es geht auf den Morgen zu! Auch wenn wir nicht wissen, wo der Zeiger auf der Weltenuhr steht: Gott kommt. In manchen Zeiten erlebt man das deutlich mit, in anderen Zeiten hat man seine Zweifel, ob sich da wirklich etwas bewegt. Aber wir sollen lernen, im Vertrauen auf Gott mit dem Geheimnis zu leben. Mit dem, was wir noch nicht begreifen, und vielleicht werden wir es in unserem Leben nie begreifen. Vielleicht ist es ja unsere Aufgabe, an unserem Ort den Kampf zu führen, damit die Welt wieder klarere Konturen bekommt. Es werden andere sein als die alten Konturen, aber eines Tages wird der Nebel aufreißen und wir werden sehen, wie weit Gott in der Zwischenzeit schon vorgedrungen ist.