500 Jahre St. Nikolai
Predigt am 7. Dezember 2008 (500. Jubiläum der St. Nikolai-Kirche) zu 1. Petrus 2,1-6
1 Macht darum Schluss mit allem, was unrecht ist! Hört auf zu lügen und euch zu verstellen, andere zu beneiden oder schlecht über sie zu reden. 2 Wie neugeborene Kinder nach Milch schreien, so sollt ihr nach dem unverfälschten Wort Gottes verlangen, um im Glauben zu wachsen und das Ziel, eure Rettung, zu erreichen. 3 Ihr habt doch schon gekostet, wie gütig Christus, der Herr, ist. 4 Kommt zu ihm! Er ist der lebendige Stein, den die Menschen als unbrauchbar weggeworfen haben; aber bei Gott ist er ausgesucht und wertvoll. 5 Lasst euch selbst als lebendige Steine zu einem geistigen Haus erbauen, zu einer Priesterschaft, die Gott geweiht ist und die ihm, vermittelt durch Jesus Christus, Opfer darbringt, Opfer geistiger Art, an denen er Gefallen hat, nämlich den Opferdienst des ganzen Lebens. 6 In den Heiligen Schriften heißt es: »Auf dem Zionsberg lege ich einen Stein, einen ausgesuchten, wertvollen Grundstein. Wer auf ihn vertraut, wird nicht zugrunde gehen.«
Lassen Sie mich mit einer ganz einfachen Frage anfangen: Wofür sind Kirchen eigentlich da? Wofür ist also auch unsere Kirche da? Kirchen sind dafür da, damit dort Geschichten passieren können, solche, wie wir sie gerade gehört haben und auch noch viele andere.
Kirchen sind Räume, in denen gute Geschichten passieren sollen. O.k, es gibt auch schlechte Geschichten, die in Kirchen passieren, aber eigentlich sind die Kirchenräume dafür da, dass Menschen Geschichten erleben, die ihr Herz berühren und reich machen. Geschichten, in denen Gott deutlich vorkommt, nicht nur im Hintergrund. Man könnte auch sagen: Kirchen sollen daran erinnern, dass Menschen eine Tiefendimension haben, dass Menschen mehr sind als Arbeiter und Konsumenten, dass sie eine Berufung haben, eine Würde, dass in ihnen beinahe so viele Möglichkeiten schlummern wie Gott selbst sie hat.
Wenn Sie sich für einen Augenblick nach Groß Ilsede in der Zeit zurückversetzen, als diese Kirche gebaut wurde, dann finden Sie da entlang der Dorfstraße eine Reihe von niedrigen Bauernhäusern aus Fachwerk. Sie sind mit Stroh gedeckt. Die Straße ist natürlich nicht asphaltiert. Wenn es regnet, ist sie voller Schlamm, wenn es heiß ist, staubt es kräftig. Hier links sind vielleicht noch die Reste eines ehemaligen Herrensitzes zu sehen. Aber ein Geschlecht derer von Ilisede gibt es schon seit 1398 nicht mehr, und da wird auch nie eine Ritterburg gestanden haben, wie wir die uns vorstellen, sondern eher ein größerer Hof, vielleicht mit einer kräftigen Umzäunung. Trotzdem: hier ist das alte Zentrum von Groß Ilsede, wenn man so sagen darf. Auf der anderen Seite, wo heute die Feuerwehr ist, stand das »Spielhaus«. Da trafen sich die Männer, um Gemeindeangelegenheiten zu besprechen, aber auch um zu feiern und Bier zu trinken.
Und hier in der Mitte dazwischen wird die Kirche gebaut, wahrscheinlich an der Stelle, wo schon früher mal eine Kirche gestanden hat. Aber die ist im Laufe der Zeit immer baufälliger geworden, wahrscheinlich, seitdem es hier keinen eigenen Pastor mehr gab und man zum Gottesdienst nach Schmedenstedt gehen musste.
Entlang der Dorfstraße auf den Höfen, da plagen sich die Menschen tagaus, tagein ab mit der Landwirtschaft und mit dem Vieh. Das Leben ist mühsam und karg. Geld ist etwas Seltenes, das meiste produziert man für den eigenen Bedarf, und die Knechte und Mägde bekommen einmal im Jahr etwas Neues zum Anziehen, wenn überhaupt. Einen Arzt im Dorf gibt es nicht. Viele Kinder sterben im ersten Jahr, und die meisten Menschen werden für unsere Begriffe nicht sehr alt. Ab und zu gibt es eine Hochzeit, und wahrscheinlich hat man lange über die Frage nachgedacht, welcher Acker dabei zu welchem Hof kommt. Der Junker von Gadenstedt will Abgaben haben, und im Spielhaus überlegen sie, wie man die möglichst gering halten kann.
Und hier im Zentrum von Groß Ilsede bauen sie dann 1508 neu ihre Kirche. Sie bauen sie mit Steinen vom Bolzberg und lassen sich eine Glocke aus Bronze gießen. Und mitten in dem kargen Alltag und den gelegentlichen Vergnügungen ist die Kirche ein Zeichen dafür, dass Menschen eine Bestimmung haben, die weit hinaus geht über ihren Alltag, auch weit hinaus über den Jahresrhythmus mit seinen Zeiten und Festen.
Wahrscheinlich hätten sie es damals nicht so formuliert. Sie hätten vielleicht gesagt: wir brauchen diese Kirche, damit wir gute Christen sein können und Gott gnädig stimmen, damit er uns beisteht in den Mühen des Lebens, uns gutes Wetter und gute Ernten schickt und uns eines Tages in seinen Himmel aufnimmt. Und zu anderen Zeiten hätte man vielleicht gesagt: diese Kirche ist dazu da, damit von dort aus das religiöse und sittliche Niveau des Volkes gehoben werden kann. Und manche Knechte und Mägde hätten vielleicht einfach gesagt: diese Stunde am Sonntag, wenn Gottesdienst ist, das ist die eine Stunde, die mir gehört, wo mich niemand rumscheuchen kann, wo ich einfach ich selbst sein kann und meinen Gedanken nachhänge.
Und vielleicht stand dann hier vorne ein Geistlicher, dessen Hauptqualifikation darin bestand, dass er die lateinischen Worte der Messe einigermaßen fehlerfrei sprechen konnte, und wir kennen ja alle die Geschichten über Menschen, die im Gottesdienst einfach eingeschlafen sind und laut schnarchten, bis irgendwer sie kräftig angestoßen hat. Und trotzdem und trotz allem war dieses Gebäude die ganze Zeit über eine Erinnerung daran, dass jeder Mensch seine verborgene Seite hat, mit der er hineingehört in die große Geschichte Gottes mit der Welt. Eine Kirche erinnert Menschen daran, dass wir mit der Welt nicht allein sind, sondern dass da noch jemand anders ist – Gott – , und dass Gott Mensch geworden ist und uns gezeigt hat, wie Leben eigentlich aussieht.
Wer gestern abend bei der Illumination der Kirche dabei war, erinnert sich ganz bestimmt noch an das Schlussbild, als man meinte unter einem Sternenhimmel zu sitzen und dort vorn am Altar der gekreuzigte Jesus wie in himmlischem Licht erschien. Kirchengebäude sind dazu da, damit etwas von dieser Wirklichkeit sichtbar werden kann: Jesus ist mit der Kraft des himmlischen Lebens unter uns getreten, er ist bis in die dunkelsten Tiefen der Welt gekommen, und jetzt leben wir unter dem offenen Himmel Gottes. Das ist die Welt, wie sie wirklich ist. Und hier sollen wir erleben, wie immer wieder für einen Augenblick der Schleier weggezogen wird und die wahre Wirklichkeit aufscheint.
Und deshalb sagen Menschen etwas über ihr Verhältnis zum Kirchengebäude und zum Gottesdienst, wenn sie ihren Glauben beschreiben wollen. »Sie müssen schon entschuldigen, dass ich sonntags nicht komme, aber wir müssen immer so viel arbeiten und dass Essen muss ja auch fertig werden, aber ich bete und der liebe Gott hört mich doch auch so.« Da redet einer nicht nur über sein Verhältnis zum Gottesdienst, sondern auch über sein Verhältnis zu Gott. Denn die Kirche ist das Symbol dafür, dass Glaube sichtbar wird. Die Kirche ist der Versammlungsort der Gemeinde und deshalb die Stelle, wo etwas, was im Herzen wohnt, nach außen tritt und sich ins Leben übersetzt. Die Kirche ist das Zeichen, dass Glaube keine individuelle Sache ist, sondern dass Menschen gemeinsam glauben und dann auch etwas bewirken in der Welt. In den Himmel kommt man individuell, die Welt bewegen kann man nur gemeinsam.
Hier in Groß Ilsede hat zu diesem Einwirken auf die Welt auch gehört, dass die Kirchengemeinde auch so etwas wie die Bank des Ortes war. Da gab es ein Kapital, wo man zu mäßigem Zins Geld leihen konnte wenn eine Hochzeit bevorstand oder wenn ein Haus neu gebaut werden sollte. Aber auch, wenn jemand in Not geriet, und dann war es so etwas wie eine Unterstützungskasse. Ein bisschen erinnert das an die Mikrokredite, auf die man heute in Afrika und Asien große Hoffnungen setzt, wo Menschen sich auf unbürokratische Weise überschaubare Beträge leihen können, aber es reicht dafür, dass sie sich eine Existenz aufbauen. So etwas war hier unter dem Dach der Kirche möglich, eine Art kommunale Leih- und Unterstützungskasse. Wenn man sich das im Einzelnen anschaut, dann wird man wahrscheinlich finden, dass da nicht alles unproblematisch war. Aber auch daran merkt man: Glaube will etwas in der Welt bewegen, es sollen deutliche Zeichen für Gottes guten Willen sichtbar werden. Und das soll in einer Gemeinschaft von Menschen geschehen.
Und da muss man natürlich sagen, dass der Kirchenbau wirklich eine gemeinsame Sache des ganzen Ortes war, und teuer genug ist es sie damals sicherlich gekommen. Vielleicht haben sie ja auch damals schon kräftig beim Ausschachten und Bauen mit angefasst. Aber als die Kirche dann stand, da hat sie die Menschen schon durch diese Sitzanordnung zu einzelnen Zuhörern gemacht. Das ist so mit den Gebäuden: erst bauen wir sie, und wenn sie dann fertig sind, dann formen sie uns.
Also, ob die Kirche die Gemeinde immer so geformt hat, wie Jesus das wollte, darüber kann man sich sicher unterhalten. Aber dass Jesus nicht einfach ein paar kluge Gedanken über Gott verbreiten wollte, sondern dass er eine Gemeinschaft formen wollte, in der dauernd gute Geschichten passieren, dafür ist die Kirche ein Zeichen.
Deshalb haben wir auch damals, als wir die Kirche in den 90er Jahren innen renoviert haben, hier vorne einen größeren Altarraum eingerichtet: damit hier vorne Menschen auch im Kreis sitzen oder stehen können, sich ansehen und miteinander reden können. Und das passiert auch immer wieder: zum Beispiel, wenn wir hier Minigottesdienst haben, oder den Ü10-Gottesdienst. Glaubenskurse haben wir hier gemacht. Oder wenn beim Kinderbibelmorgen dieser Raum hier voll ist mit Kindern und Erwachsenen, die zum Schluss hier stehen und beten. Unsere Kirche ist da sehr flexibel. Sie macht ganz viel mit. Wenn man die alten Bilder und Pläne sieht, dann merkt man, wie oft die Kirche ihr Gesicht gewandelt hat, gemeinsam mit den Menschen, die sich hier versammelt haben. Es gab zum Beispiel früher mal hier drei Bankreihen nebeneinander und zwei Gänge dazwischen. Wer kann sich das heute noch vorstellen? Dieser Raum ist immer in Bewegung gewesen. Aber immer erinnert er uns daran, dass wir etwas Besonderes erwarten sollen: dass Gott uns berührt in den Tiefenschichten unserer Seele, in denen es darum geht, wer wir wirklich sind, welche Hoffnungen und Träume uns leiten, und ob wir lebendig werden.
Kirchen sind sozusagen Werkzeuge, um diese Tiefenschichten aufzuschließen. Viel zu oft sind Menschen so weit weg von ihrer Mitte, so beschäftigt oder auch so versteckt hinter Fassaden, dass sie selbst kaum noch wissen, dass sie eine Mitte haben, dass sie eine Berufung haben, dass wir erst dann volle Menschen sind, wenn wir im Gegenüber zu Gott leben und von seiner Stimme bewegt werden. Kirchen erinnern immer wieder uns daran. Und sie sind ein Zeichen dafür, dass wir aus dieser Mitte heraus, wo Gott wohnen will, unsere Welt gestalten sollen.
Im Neuen Testament werden Gebäude zu Symbolen. Wir haben es vorhin gehört: wir sollen als lebendige Steine Teil des Gebäudes sein, das Gott baut, aber das ist ein Bild dafür, dass Gott aus Menschen eine Gemeinde baut. Kirchen können immer nur Bilder dafür sein. Und ich mag unsere Kirche, weil sie überhaupt nicht so tut, als ob ob sie die lebendige Gemeinde ersetzen könnte. Hier sind keine großen Kunstwerke vergangener Zeiten, die über eine kümmerliche Gegenwart hinwegtäuschen könnten. Niemand käme auf die Idee, dass dieses Bauwerk wichtiger sein könnte als die Menschen. Und in dieser Bescheidenheit ist unsere Kirche ihrer Bestimmung treu, uns was könnte man bessere über ein Gebäude oder auch über Menschen sagen?
Der Schmuck einer Kirche sind die Menschen, dort von Gott angerührt, erneuert, erfreut, geheilt und mit Hoffnung beschenkt werden. Und da wird für einen moment der Schleier zur Seite gezogen und die wahre Wirklichkeit wird sichtbar.