Gott oder Gier
Predigt am 19. Oktober 2008 zu 1. Johannes 2,12-17
Ich schreibe euch, Kinder: euch sind die Sünden vergeben um seines Namens willen.
Ich schreibe euch, Väter: ihr habt den erkannt, der von Anfang ist.
Ich schreibe euch, den Jugendlichen: ihr habt den Bösen besiegt.
Euch kleinen Kindern habe ich geschrieben: ihr habt den Vater kennengelernt.
Euch Vätern habe ich geschrieben: ihr habt den erkannt, der von Anfang an ist.
Euch Jugendlichen habe ich geschrieben: ihr seid stark, und das Wort Gottes bleibt in euch, und ihr habt den Bösen besiegt.
Liebt nicht den herrschenden Weltzustand und was in ihm üblich ist. Wer die herrschenden Verhältnisse liebt, in dem ist keine Liebe zu Gott. Denn alles, was in der Welt üblich ist, die Gier nach immer mehr, das gierige Schielen, das gegenseitige Übertrumpfen mit dem, was man hat, das kommt nicht vom Vater, sondern vom herrschenden Weltsystem. Aber das ganze System vergeht mit seiner Gier. Wer aber den Willen Gottes tut, der wird Gottes neue Welt erreichen.
Das Timing ist mal wieder perfekt: die ganze Woche lang reden alle über Gier, über die gierigen Banker und den gierigen Turbokapitalismus, und prompt ist Gier auch ein Schlüsselwort im Predigttext für diesen Sonntag. Das ganze System vergeht mit seiner Gier, heißt es heute. Das ist doch eine gute Nachricht! Allerdings, ich muss zugeben, ich habe den Text noch mal selbst übersetzt. In der Luther-Übersetzung z.B. steht nicht »das ganze System vergeht mit seiner Gier«, sondern »Die Welt vergeht mit ihrer Lust«, obwohl „Gier“ vom griechischen Urtext her die präzisere Übersetzung wäre. Merken Sie, wie Übersetzungen und Traditionen uns beim Verständnis der Bibel auf eine ganz einseitige Spur setzen können? Wenn ich übersetze »Die Welt vergeht mit ihrer Lust«, dann haben Sie so menschliche Lustmolche vor Augen, die sich in Bars und an schlimmeren Orten herumtreiben. Und Sie denken vielleicht an die fromme Oma, die immer sagte: Kind, halt dich fern von der Welt, geh nicht in die große, gefährliche Stadt, geh nicht zum Tanzen und nicht ins Theater, da wirft der Teufel seine Netze aus!
Verstehen Sie, da haben diese Verse ein ganz anderes Aroma, einen ganz anderen Beiklang, als wenn ich sage: schiel nicht auf zweistellige Profitraten, das kann nicht gut gehen, irgendwann kracht es, und denk lieber über das nach, was sogar in einer Wirtschaftskrise stabil bleibt, nämlich ein Leben, das von Jesus Christus bewegt ist.
Wir haben einfach so lange diese moralisierenden und individualistischen Übersetzungen gehört, dass die meisten Menschen kaum auf die Idee kommen würden, an den Turbokapitalismus zu denken, wenn sie einen Satz hören wie »Die Welt vergeht mit ihrer Lust«.
Aber Johannes schrieb tatsächlich von einem weltweiten System der Gier, des Raffens und Beherrschens. Das funktionierte damals anders als heute, aber es hatte genauso verheerende Folgen. Und natürlich ist es kein Zufall, dass dieses Wort Gier auch einen sexuellen Beiklang hat: das Ausbeuten und Auspressen von anderen spielt sich tatsächlich fast immer auch sexuell ab. Wer seine Umwelt vor allem unter dem Gesichtspunkt des Ausbeutens und Plünderns sieht, der wird auch im Verhältnis zum anderen Geschlecht nicht anders denken und handeln.
Gier beschmutzt und zerstört alles, womit sie in Berührung kommt. Gier macht aus zauberhaften Stränden betonierte Touristenzentren und aus Regenwäldern Mondlandschaften. Gier heizt unsere Atmosphäre auf, bis die Wüsten sich ausbreiten und ganze Landstriche im Meer versinken. Gier macht aus dem Sonntag einen Tag zum Shoppen, aus einem schönen Glas Wein ein Besäufnis, aus sinnvoller Arbeit seelenlose Massenproduktion, aus Kunst ein Statussymbol oder eine Geldanlage, und aus der aufregend-liebevollen Begegnung von Mann und Frau dann eben auch eine Bloßstellung, bei der es keinem gelingt, dem anderen nahezukommen und seine Wahrheit zu ergründen.
Und deshalb ist der Kampf, den die jugendlichen Christen bestanden haben, nicht das Ringen um die Unterdrückung der wilden, ungebärdigen Triebe, sondern es ist der Kampf darum, sich nicht in dieses ganze System der Gier hineinziehen zu lassen. Offenbar haben gerade junge Leute eine große Chance, Nein zu sagen zu einer Logik, die die Erde zur Wüste machen wird, wenn man sie nicht stoppt.
Wir müssen immer daran denken, dass die Welt ja nichts Schlechtes ist, sondern Gottes gute Schöpfung, voller Segen und Fülle. Wenn Johannes sagt: liebt nicht die Welt! , dann meint er nicht, dass uns diese herrliche Schöpfung Gottes gleichgültig sein soll. Nein, im Gegenteil, wir sollen nicht paktieren mit einem System, das diese Schöpfung Gottes immer mehr zugrunde richtet, einschließlich der Menschen und aller anderen Geschöpfe.
Es ist so nötig, dass Christen nicht mehr sagen »ach, diese ganzen Probleme von Wirtschaft und Politik verstehe ich nicht, das ist die komplizierte Welt, da halte ich mich lieber raus, wer bin ich denn, dass ich mir da ein Urteil anmaße?« und dann der Gier in fast allen Gestalten das Feld überlassen. Aber die ganze Schöpfung wartet darauf, dass die Söhne und Töchter Gottes endlich sichtbar werden! Dass sie ihre Aufgabe annehmen und sich nicht aus Konfliktscheu kleiner machen als sie sind.
Denn das ganze Gewebe der Schöpfung, das eigentlich nach dem Muster von Schenken und Geben funktioniert, das ist diesem Weltsystem der Gier ausgeliefert. Und das frisst sich immer tiefer hinein in die Schöpfung und in die Menschen. Gier ist ansteckend, sie fängt irgendwo an und infiziert nach und nach alles. Vor 20 oder 25 Jahren haben Ronald Reagan und Margaret Thatcher angefangen, alle Regelungen zu demolieren, die dem Egoismus noch Grenzen setzten, unsere Regierungen haben mitgespielt, und die Konzentration auf den eigenen Vorteil hat sich seit damals schon wieder ein gutes Stück weiter in die Gesellschaft hineingefressen, von oben her immer weiter nach unten. Und irgendwann kommt das dann auch bei den kleinen Leute an, und die versuchen eben auf ihre Weise immer mehr herauszuholen aus dem Leben, und wenn es ein viel zu teures Auto ist oder Eimersaufen am Ballermann. Und jetzt erleben wir die Folgen, am spektakulärsten natürlich durch die Finanzkrise, aber schon vorher ist ganz viel zerstört worden durch das Leitbild des individuellen Vorteils, weil da Solidarität zum Luxus wird und die Schwächeren unter die Räder kommen.
Und Johannes sagt: lasst euch da nicht reinziehen! Lasst nicht kaputte Leitbilder in eurem Herzen wohnen! Ihr kennt doch den Schöpfungswillen Gottes, ihr wisst besser, wie diese Welt funktioniert. Die ist keine Goldgrube zum Ausbeuten, sondern ein Gewebe, das man pflegen und lieben muss, und dafür sind wir da. Und Menschen haben einen eigenen Wert und sind nicht überflüssige Esser, für die man die Kosten möglichst gering halten muss. Merken Sie, dass das alles mit Moralismus ziemlich wenig zu tun hat, sondern mit Integrität und Klugheit und innerer Stärke und mit dem Bewahren von menschlicher Substanz. Und mit dem Leitbild einer Gesellschaft, in der die Menschen miteinander leben und arbeiten und nicht versuchen, auf Kosten anderer möglichst viel zusammenzuraffen. Klar, es gibt immer Leute, die auf Kosten anderer leben möchten. Die Frage ist nur, ob das zum Leitbild der Gesellschaft wird.
Die Gemeinschaft Jesu ist gedacht als Gegenbewegung, deren Leitbild Liebe ist. Aber Liebe ist in der Bibel längst nicht so sentimental aufgeladen wie bei uns, sondern da ist ganz sachlich gemeint: zusammenhalten, die Schwachen stützen, gemeinsam stärker sein als allein. Eine Umgebung schaffen, wo die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen draußen bleiben.
Es ist eine schwierige Frage, warum Johannes hier verschiedene Gruppen anredet, Väter, Jugendliche und Kinder, und warum er das zweimal hintereinander mit fast genau den gleichen Worten tut. Eine echte Lösung für diese Frage habe ich nicht gefunden. Aber das Muster, das sich durchzieht, ist überall dasselbe: bei euch ist Gott substanziell drin in eurem Leben.
Johannes würde nicht behaupten, dass die schon alles richtig machen, aber er sagt: weil bei euch Gott mitredet, weil sein Wort in euch wohnt, weil ihr von ihm beeinflusst seid, deshalb könnt ihr euch von den herrschenden Verhältnissen abgrenzen. Ihr habt ein anderes Fundament, auf dem ihr stehen könnt. Ihr erlebt miteinander eine andere Art, zusammenzuleben.
Es geht dabei in erster Linie nicht darum, wie gut sie das schon hinkriegen, sondern das Entscheidende ist, dass sie überhaupt Anschluss haben an das Leben Jesu Christi. Das ist, wie wenn man ein Loch in eine Mauer schlagen will: am schwierigsten ist es, die erste Spalte zu schaffen, wenn die erst mal da ist, dann kann man eine Brechstange ansetzen und dann ist es zwar immer noch Arbeit, aber es ist doch absehbar, dass das Loch bald groß genug sein wird.
So sind die Menschen Jesu auch so ein erster Riss in der Mauer, mit der sich die Welt gegen Gott verbarrikadiert. Wenn das Evangelium erst in ein paar Menschen Wurzeln geschlagen hat, dann ist die neue Welt Gottes schon präsent. Und dann ist sie nicht mehr draußen zu halten. Und während das ganze System sich durch seine Gier immer mehr selbst zerstört, leben mitten in diesen kaputten Verhältnissen einige schon aus den Kräften der kommenden Welt. Und je deutlicher sich da Gottes Alternative abzeichnet, um so besser.
Wer da dazugehört, dem sind die Sünden vergeben. Er hat sich wahrscheinlich früher auch blenden lassen vom glitzernden System der Gier, auch in seinem Herz hat sich die mehr oder weniger breitgemacht. Aber wenn er dann zu Gottes Alternative gehört, dann ist das durchgestrichen und vorbei, und Gott trägt es ihm nicht nach. Jetzt sind ja seine Augen geöffnet worden.
Ich glaube natürlich nicht, dass die gegenwärtigen Krise nun schon bedeutet, dass gleich das ganze System mit seiner Gier vergeht. Das ist stabiler, als man denkt. Aber diese Finanzkrise kann uns helfen, realistischer über die Dinge zu denken und uns weniger blenden zu lassen vom schönen Schein. Alles, was quer zu Gottes Ökonomie steht, das fällt irgendwann auf den Bauch, das ist nicht nur ein frommer Satz, sondern harte Realität. Die Welt ist nun mal so eingerichtet, dass man sie mit Gier und Ausbeutung auf die Dauer ruiniert, im Großen wie im Kleinen.
Wer sich stattdessen am Willen Gottes orientiert, der ist besser geschützt. Gott ist einfach eine sichere Bank. Und wenn man bei Johannes ein bisschen weiterliest, dann merkt man, wie der immer wieder betont, dass man mit den anderen Christen eng zusammengehören soll. Es geht gar nicht darum, dass lauter Einzelne ein bisschen bescheidener und ehrlicher leben, sondern dass ein ganzes Ökosystem entsteht, ein Kommunikationsnetz, in dem man anders lebt und zusammenhält und Gottes Ökonomie schon jetzt praktiziert.
Die moralisierende und individualisierende Übersetzung des Christentums hat dummerweise dazu geführt, dass die Alternative Gottes gar nicht sichtbar wird; denn Einzelne, die sich aus dem allgemeinen Trend auskoppeln, fallen kaum auf.
Ohne den Rückhalt durch so eine Gemeinschaft bleiben die einzelnen Christen ohnmächtig, sie werden es auf die Dauer nicht verhindern können, dass die gesellschaftlichen Werte sich auch bei ihnen einschleichen, und dann halten sie vielleicht noch an ein paar skurrilen Punkten an der Differenz zur Welt fest, aber aufs Ganze gesehen, wirkt das eher komisch.
Erst wenn wir angeschlossen sind an so ein Kommunikationsnetz, in dem Gott uns durch sein lebendiges Wort erreichen kann, dann haben wir Quellen und Grundlagen, die uns unabhängig machen von dem Klima der Gier und Leere, das sich in der Gesellschaft breit macht. Wir werden dann nicht vom Glanz des jeweiligen Weltzustandes geblendet, und wir fallen nicht in Verzweiflung, wenn die Konjunktur einbricht. Wir haben Gottes lebendiges Wort zur Korrektur und zur Ermutigung, und wir haben die Menschen, die uns darin bestärken und uns auch praktisch zur Seite stehen, wenn die Zeiten schwierig werden.