Die Alternative zum Patriarchat – und eine Krisenintervention (Gemeinschaft IV)
Predigt am 24. August 2008 zu 1. Timotheus 3,2-3
Lesung: Matthäus 23,8-13.23-24
8 Ihr aber sollt euch nicht ›Rabbi‹ nennen lassen, denn nur einer ist euer Meister, und ihr alle seid Brüder. 9 Auch sollt ihr niemand hier auf der Erde ›Vater‹ nennen, denn nur einer ist euer Vater, der Vater im Himmel. 10 Ihr sollt euch auch nicht ›Lehrer‹ nennen lassen, denn nur einer ist euer Lehrer: Christus. 11 Der Größte unter euch soll euer Diener sein. 12 Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.« 13 »Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Selbst geht ihr nicht hinein, und die, die hineingehen wollen, lasst ihr nicht hinein. …
23 Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr gebt den zehnten Teil von ´Kräutern wie` Minze, Dill und Kümmel und lasst dabei die viel wichtigeren Forderungen des Gesetzes außer Acht: Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue. Diese Forderungen solltet ihr erfüllen und das andere nicht außer Acht lassen. 24 Verblendete Führer seid ihr! Mücken siebt ihr aus, und Kamele verschluckt ihr.
Jesus hat für seine Leute eine neue Art von Leitung entworfen, die anders funktioniert, als es normalerweise unter Menschen üblich ist. Wir haben vorhin in der Lesung gehört, wie Jesus sagt: ihr sollt niemanden Vater nennen, ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen. Wir müssen uns deutlich machen, was für ein revolutionärer Gedanke das war. Jesus lebte in einer patriarchalen Welt, wo es immer irgendeinen gibt, nach dem man sich zu richten hatte. Bis heute gibt es viele Kulturen in der Welt, die so funktionieren, und wo es undenkbar ist, dass einer einer etwas anderes tut, als es der jeweilige „Vater“ von ihm verlangt. Und wer sich nicht daran hält, der wird deutlich abgestraft. Jesus hat zu dieser patriarchalen Ordnung ein klares Nein gesagt: nicht unter meinen Leuten! Und das hat ausgestrahlt in unsere ganze westliche Kultur hinein. Dass wir heute eine moderne Ordnung haben, die kaum patriarchal geprägt ist, das geht auf Jesus zurück. Und es gibt viele Kulturen in der Welt, die nicht zurechtkommen mit dieser ungezwungenen modernen Art, mit Autoritäten umzugehen.
Trotz dieses klaren Verbotes Jesu, sich patriarchalische Titel zuzulegen, wird in der Christenheit dauernd dagegen verstoßen: es gibt den »heiligen Vater«, der Titel »Abt« in einem Kloster leitet sich von »Vater« ab, oder – um nicht nur immer zu den Katholiken hinüber zu schauen – auch ganz normale Gruppenleiter werden häufig »Gruppeneltern« genannt, und immer wieder hört man von den »Vätern (oder auch Müttern) im Glauben« oder von den »Lehrern der Kirche« usw.
Es muss in Menschen eine ganz große Sehnsucht danach vorhanden sein, dass sie sich an solchen Autoritäten orientieren. Auch die schlechten Erfahrungen Jesu mit den geistlichen Autoritäten seiner Zeit haben als Warnung nicht gereicht. Und es müssen noch nicht mal die Autoritäten selbst sein, die sich so stilisieren: wenn die es nicht selbst tun, dann sind es die anderen, die sie auf den Sockel heben. Und natürlich bringt jeder Sockel auch immer wieder das Phänomen hervor, dass irgendjemand an diesem Sockel sägt. Sehnsucht nach Autoritäten und Rebellion gegen Autoritäten liegen ganz nah beieinander.
Jesus will seine Gemeinde vor dieser ganzen Dynamik von Sehnsucht nach dem heiligem Vater und Rebellion gegen den Vater schützen. Deshalb sagt er: ihr habt den Vater im Himmel. Christus ist euer Lehrer. Ihr seid Brüder. Und damit verweist er die Jünger auf ihre eigenen Mündigkeit. Wenn man sich auf einen Vater oder Lehrer orientiert, ob in Ergebenheit oder Rebellion, dann delegiert man das Problem und die Verantwortung an jemand anderen. Und man zieht sich selbst raus. Entweder soll der Heilige Vater die Sache richten, oder man hat die bequeme Ausrede, dass man nichts machen kann, weil die Autorität es nicht erlaubt.
Stattdessen verweist Jesus seine Leute auf ihre eigene Verantwortung. Die Brüder und Schwestern im Glauben haben niemanden, der ihnen verbindlich sagen könnte, wo es lang geht. Sie müssen selbst auf den Vater im Himmel und den Lehrer Christus hören und was wir von ihm gehört haben, dem müssen wir folgen. Es gibt Brüder und Schwestern, aber keinen Heiligen Vater, zu dem wir hingehen können, um zu hören, was nun wirklich gilt. Und auch wenn ein anderer sagt, ich habe meine Erkenntnis direkt von Gott!, dann muss das deswegen noch längst nicht stimmen. Wir müssen trotzdem immer noch selbst auf unseren Lehrer Christus hören.
Wir haben nur unsere eigene Erkenntnis, immer mit dem Risiko, dass wir falsch gehört und falsch verstanden haben. Und wir werden tatsächlich unseren Vater im Himmel und unseren Lehrer Christus immer wieder falsch und unvollständig verstehen. Wir werden auch die Bibel immer wieder falsch auslegen. Es gibt keinen Weg, um dieses Risiko zu vermeiden. Es gibt keinen Menschen, der uns davor schützen könnte. Es gibt keine kirchliche Tradition, die uns garantieren könnte, dass wir richtig liegen. Es gibt keine Instanz auf Erden, die dir garantieren kann, was wirklich stimmt. Du kannst nur selbst auf Gott hören.
Aber so lange wir tatsächlich die Wahrheit wissen wollen, kann Gott uns korrigieren. Wenn wir das tun, was wir als richtig erkannt haben, wenn wir darauf achten, welche Folgen daraus entstehen, wenn wir neugierig bleiben auf das, was andere erkannt haben und wenn wir Gottes Wahrheit mehr lieben als das, was wir schon zu wissen meinen, dann stehen die Chancen gut, dass Gott uns immer mehr von seinem Willen zeigt.
Aber du kannst dann nicht mehr das Mäuschen spielen, das kleine Licht, das viel zu wenig weiß, um sich eine Meinung bilden zu können. Du kannst dann nicht mehr die graue Maus sein, die zu den Autoritäten aufblickt und nur manchmal ein bisschen aufmuckt. Jesus hat uns radikal der Autoritäten beraubt, und wir müssen uns manchmal erst wieder vor Augen führen, was für ein grundlegender Wandel das war.
Die einzige Autorität, die es gibt, ist die Autorität des Dienstes: »Der Größte unter euch soll euer Diener sein.« sagt Jesus. Das heißt: um die Dreckarbeit dürft ihr gerne konkurrieren. Nur zu, streitet euch hemmungslos darum, wer den Abwasch machen darf, aber bitte nicht darum, wer der Tollste ist und am meisten bewundert wird. Streitet euch nicht darum, auf wen die anderen hören müssen. Entweder die Jünger hören auf jemanden, weil es so deutlich ist, dass sich in ihm der Dienst Jesu widerspiegelt, oder sie hören nicht auf ihn. Aber alles in eigener Verantwortung. »Meine Schafe hören meine Stimme« sagt Jesus im Johannesevangelium. Und wir hören natürlich diese Stimme auch in manchem, was uns die Brüder und Schwestern sagen. Aber das Hören und Beurteilen kann uns keiner abnehmen. Niemand.
Deshalb baut Paulus seine Gemeinden als ein lockeres Netzwerk, ohne Hierarchie, weil das die beste Umgebung ist, in der diese persönliche Autorität des Dienstes zur Geltung kommen kann.
Aber auch so eine Umgebung ist keine Garantie, dass alles gut geht. Paulus selbst hat das in Korinth erlebt, wo es ganz viel Probleme gab und keiner richtig wusste, wie eine Gemeinde damit umgehen soll. Und auch da konnte Paulus nicht die Leiter einfach anweisen, wie man es machen soll – es gab keine Leiter, die das einfach hätten durchsetzen können. Sondern er schreibt Briefe an die ganze Gemeinde und kann nur hoffen, dass sie seinem Wort zunächst einmal vertrauen und dann darin die Stimme des Guten Hirten Jesus Christus hören. Und man hat den Eindruck: es hat funktioniert. Unter Schmerzen und Sorgen, aber die Wahrheit hat sich durchgesetzt.
Aber in der frühen Christenheit sollte es noch schlimmer kommen. Es war nicht so sehr die Verfolgung, die gefährlich wurde. Das Evangelium war so stark, dass die Gemeinden durch äußere Verfolgung oft noch wuchsen. Aber was wirklich gefährlich werden konnte, das war die Verfälschung des Evangeliums. Wenn das Evangelium durch Ideen, die nicht dazu passen, seiner Kraft beraubt wird. Oder wenn es zwar gelehrt, aber nicht verwirklicht wird. Ein Evangelium, das nicht umgesetzt wird, verliert seine Kraft.
Und beides ist tatsächlich eingetroffen. Die sogenannte Gnosis war eine Zeitströmung, die auch massiv in die Gemeinden hineingekommen ist. Es war eine Strömung, die dazu führte, dass die Menschen die harte Wirklichkeit ignorierten und in einer eigenen geistig-geistlichen Welt lebten. Ich sage heute aber inhaltlich nichts dazu. Aber diese Strömung konnte sich in solchen offenen Netzwerken natürlich auch wunderbar ausbreiten. Besonders wenn da viele Menschen erst neu dazugekommen sind und noch wenig Erfahrung und Orientierung haben. Es konnte passieren, dass da so ein Netzwerk kippte, dass es umgedreht wurde und die Menschen genau in die falsche Richtung brachte. Und gerade, weil christliche Gemeinden so eine enge Gemeinschaft sind, gerade deshalb kann großer Schaden entstehen, wenn diese Gemeinschaft unter einen schlechten Einfluss kommt. Und das ist anscheinend geschehen in der Gemeinde von Ephesus und auf Kreta.
Wir haben drei Briefe im Neuen Testament, die sich an Mitarbeiter von Paulus richten, die dort noch retten sollten, was zu retten war. Es sind die Briefe an Timotheus und der Brief an Titus. Wenn man diese Briefe liest, hat man den Eindruck: ich bin in einem anderen Film. Da gibt es auf einmal Ämter wie den Bischof, den Diakon und die Ältesten. Die werden sogar bezahlt, sind also wohl vollzeitliche Mitarbeiter. Und das kann auch nicht jeder werden. Es gibt eine ganze Reihe von Bedingungen die man erfüllen muss.
So heißt es z.B. in 1. Timotheus 3:
Leute, was sind das für Verhältnisse, wenn extra gesagt werden muss, dass ein Bischof kein Säufer und kein Schläger sein soll! Was ist mit dieser Gemeinde passiert, wenn extra gesagt werden muss, dass der Gemeindeleiter nur eine Frau haben und freundlich sein soll, und dass er nicht geldgierig sein darf! Wie niedrig muss da inzwischen das Niveau sein!
Wenn man sich diese Briefe weiter ansieht, dann merkt man plötzlich: da wird auch die christliche Lehre zentralisiert, ja monopolisiert. Die Lehre übernehmen Timotheus und die, die er dafür beauftragt hat. Wenn man im Gegensatz dazu den ersten Korintherbrief liest, dann merkt man, wie bunt das da in der Gemeinde zugeht. Jeder bringt etwas mit und soll etwas mitbringen. Und Paulus schreibt lediglich: einer nach dem anderen! Bitte kein Chaos am Mikrofon! Aber es ist gut, dass alle etwas einbringen.
Jetzt wird in die Gemeinden eine Leitungsstruktur eingezogen, es gibt Ämter, und nicht jeder darf einfach mitreden. Ab und zu heißt es sogar: diskutiere mit denen gar nicht mehr. Es hat sowieso keinen Zweck! Hör nicht mehr auf sie, es gibt Leute, die wollen es nicht einsehen.
Man hat den Eindruck: da wird eine Notordnung aufgerichtet, damit die Gemeinden nicht völlig auf den falschen Weg geraten. Auf einmal gibt es Leiter, die über die Gemeinde wachen, die eine starke Stellung haben, und auch da muss man schauen, ob die denn wenigstens bei der Stange bleiben, oder ob sie ihr Amt für Persönliches ausnutzen. Timotheus und Titus, diese Sonderbeauftragten, werden auch immer wieder zu persönlicher Integrität ermahnt.
Trotzdem: auch die bekommen keinen dieser Titel, die Jesus für seine Gemeinde nicht wollte. Auch die werden an ihrem Dienst gemessen, aber dieser Dienst besteht in einer sehr deutlichen Kontrolle. Wobei man sich immer daran erinnern muss, dass den beiden keine weltliche Macht zur Verfügung steht. Auch sie verfügen nur über Autorität als Mitarbeiter des Paulus, und darüber hinaus nur über ihre persönliche Autorität, die ganz entscheidend von ihrem Dienst und ihrer Integrität abhängt.
Ihr Auftrag ist es, ein starkes geistliches Zentrum zu schaffen, das diese abdriftenden Gemeinden wieder zurückbringt zum Evangelium. Tatsächlich hat die junge Christenheit die Bedrohung durch die Gnosis abgewehrt durch die drei »B«: Bischof, Bibel, Bekenntnis. Es wurde festgelegt, welche Bücher zur Bibel gehören sollten, es gab Bekenntnisse, die den Glauben prägnant und kurz zusammenfassten, und es gab Bischöfe, die das mit Überzeugung vertraten.
Trotzdem hat das einen hohen Preis gefordert. Seit damals gibt es die Teilung in Amtsträger und gewöhnliche Gemeindeglieder, und aus den offenen Netzwerken des Anfangs sind viel zentralisiertere Strukturen geworden. Und es gibt die einen, die einen Großteil des Dienstes monopolisieren, und es gibt die anderen, die sich eher in die Passivität zurückziehen. Die Notordnung für beinahe zerstörte Gemeinden ist der Normalfall geworden. Und – was noch schlimmer ist – sie hat sich oft mit weltlicher Macht verbunden und war dann kaum noch veränderbar.
Liebe Freunde, es gibt für dies Problem keine leichte Lösung. Es war für Timotheus und Titus nicht leicht, diese Notordnung aufzubauen, aber es ist auch nicht leicht, wieder zurückzukehren zu den Netzwerken des Anfangs. Das geht nicht einfach auf Befehl oder weil wir es alle wollen. Das ist auch ein Weg des Lernens und Ausprobierens, damit diese Mündigkeit wächst, die Jesus im Auge hat. Je stärker und klarer eine Gemeinde von Jesus geprägt ist, je klarer und mündiger die Menschen neue Ideen einschätzen und aufnehmen können, um so weniger wird die Notordnung noch gebraucht.
Jesus hat uns die Verheißung gegeben, dass er unser Lehrer ist. In der Tat, es gibt niemanden sonst, der uns noch zeigen kann, wie die Gemeinde nach seinem Sinn aussieht. Er kann uns den Weg zeigen, auf dem wir nach und nach zurückfinden zu seiner Art Gemeinde zu sein für unsere Gegenwart. Wir vertrauen darauf, dass er es tun wird. Dies Vertrauen zeigt sich darin, dass wir aufbrechen.