Das Recht, ein anderer zu werden
Predigt am 8. Juni 2008 mit Hesekiel 18,1-4.21-22.30-32
1 Das Wort des HERRN erging an mich, er sagte: 2 »Was habt ihr da für ein Sprichwort im Land Israel? Ihr sagt: ‚Die Väter essen unreife Trauben, und die Söhne bekommen davon stumpfe Zähne.‘ 3 So gewiss ich, der Herr, lebe: Niemand von euch, niemand in Israel wird dieses Wort noch einmal wiederholen! 4 Ich habe das Leben jedes einzelnen in der Hand, das Leben des Sohnes so gut wie das Leben des Vaters. Alle beide sind mein Eigentum. Nur wer sich schuldig macht, muss sterben.
…
21 Wenn aber der Gottlose umkehrt und das Böse läßt, das er getan hat, wenn er alle meine Gebote befolgt und das Rechte tut, bleibt auch er am Leben und muss nicht sterben. 22 All das Böse, das er früher getan hat, wird ihm nicht angerechnet. Weil er danach das Rechte getan hat, bleibt er am Leben.
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30 Jeder einzelne von euch bekommt das Urteil, das er mit seinen Taten verdient hat. Das sage ich, der Herr, der mächtige Gott! Kehrt also um und macht Schluss mit allem Unrecht! Sonst verstrickt ihr euch immer tiefer in Schuld. 31 Trennt euch von allen Verfehlungen! Schafft euch ein neues Herz und eine neue Gesinnung! Warum wollt ihr unbedingt sterben, ihr Leute von Israel?
32 Ich habe keine Freude daran, wenn ein Mensch wegen seiner Vergehen sterben muss. Das sage ich, der Herr, der mächtige Gott. Also kehrt um, damit ihr am Leben bleibt!«
Kehrt um, damit ihr am Leben bleibt! Das ist die Grundmelodie dieses ganzen Kapitels. Umkehr bedeutet Leben. Wer seine falschen Wege verlässt und auf den Weg der Gerechtigkeit umschwenkt, dem kommt Gott entgegen und er sieht schon den ersten Schritt in der richtigen Richtung so an, als wäre es der ganze Weg. Wenn nur die Richtung stimmt, dann tut Gott alles Mögliche, damit wir vorankommen und zum Leben gelangen.
Als der Prophet Hesekiel dieses Wort von Gott bekam, da steckte das Volk Israel so richtig in der Sackgasse fest. Es war kurz vor der Eroberung durch die Babylonier, und das Damoklesschwert dieses Krieges hing über Israel. Ein Teil der Bevölkerung war schon in ein fremdes Land verschleppt worden. Und in dieser Situation bildet sich ein Sprichwort: Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kindern sind die Zähne stumpf geworden. Das bedeutet: unsere Väter, die Generation vor uns, hat Mist gebaut, und wir müssen es auslöffeln.
Stimmt das? Einerseits ja. Jede der vorhergehenden Generationen hatte den Karren weiter in den Dreck gefahren, und jetzt steckte er wirklich ziemlich tief drin. Götzendienst und kurzsichtige Außenpolitik, Rücksichtslosigkeit gegenüber den Armen und Anhäufung von immer mehr Reichtum bei den Reichen, in jeder Generation war das schlimmer geworden.
Aber andererseits sagt Hesekiel: Ihr seid nicht festgelegt auf das, was eure Väter und Mütter getan haben. Ihr könnt in jedem Moment umkehren! Gott schaut auf euch, was ihr tut, wie ihr mit dieser Situation umgeht. Niemand kann sich das Zeitalter aussuchen, in das er hineingeboren wird. Und wahrscheinlich hat jede Generation schon mal geseufzt, dass sie ausgerechnet in diese Zeit und in diese Welt hineingeboren worden ist. Aber Gott sagt: hört auf damit, euch als Opfer vorzukommen, hört auf damit, über die Fehler der Väter und Mütter nachzudenken. Gott wird euch nicht für die Situation zur Rechenschaft ziehen, in die ihr hineingeboren seid, sondern er schaut darauf, was ihr aus dieser Situation macht.
Wen man das auf uns anwenden will, dann könnte man sagen: wir sind nicht dafür verantwortlich, dass unsere Zivilisation einen Weg eingeschlagen hat, der inzwischen das Leben auf der Erde massiv bedroht. Aber uns wird Gott danach fragen, ob wir und unsere politischen Repräsentanten diesen Weg korrigiert haben oder ob wir einfach weitergemacht haben.
Es ist wie bei Hesekiel: die eine Generation hat die Probleme mehrheitlich geleugnet, und die nächste sagt: jetzt ist es zu spät, jetzt hat es sowieso keinen Zweck mehr, noch etwas zu ändern. Aber Gott sagt: es ist nie zu spät zur Umkehr! Umkehr ist der Weg zum Leben, der immer offen steht. Es gibt keine ausweglosen Situationen. Ja, es gibt belastete Situationen, in denen alles, was man tut, einen hohen Preis kostet, weil einfach schon so viel falsch gelaufen ist. Aber wenn ein Volk oder ein Mensch dann aufrichtig umkehrt und sich entschließt, von nun an das Leben zu wählen und nur das Leben, dann wird Gott das segnen und auch wenn die Umkehr einen Preis kostet, es wird sich lohnen, es wird etwas Gutes dabei entstehen.
Das betrifft nicht nur die großen gesellschaftlichen Fragen, sondern das ist eine Regel, die auch im Persönlichen gilt. Wir starten ja alle mit Belastungen ins Leben, mit Ängsten, mit zerstörerischen Verhaltensmustern, mit schiefen Überzeugungen davon, wie die Welt funktioniert. Vieles haben wir von unseren Eltern und anderen zugeschoben bekommen, andere Verhaltensweisen haben wir selbst entwickelt, es ist ein unübersichtliches Knäuel, aber immer mal wieder merken wir deutlich, wie es knirscht, wie uns das behindert, wie es unser Leben einschränkt und klein macht.
Und wir tragen das alles in uns, aber wenn wir langsam merken, dass da irgendwas schief läuft, dann sind wir vielleicht schon 30 oder 50 oder 70 Jahre alt. Es musste erst einiges passieren, bevor wir anfangen, nachdenklich zu werden. Und wenn es so weit ist, dass wir das Problem langsam realisieren, dann kommt die nächste Frage: lohnt sich das jetzt eigentlich noch, umzukehren und das Leben noch mal anders anzupacken? Kann ich das überhaupt noch nach so langer Zeit, in der so viel kaputtgegangen ist? Was macht das denn für einen Unterschied für die paar Jahre, die ich noch habe?
Aber in Wirklichkeit macht das einen riesigen Unterschied. Selbst wenn es nach außen hin gar nicht mehr viel bewirkt, obwohl auch da noch viel mehr möglich ist, als Menschen glauben. Umkehr hat eine große Kraft, und sie kann sogar noch auf das Ende eines traurigen Lebens ein helles Licht werfen, so dass Menschen versöhnt zurückschauen können. Die Christen haben immer gesagt: selbst wenn du dich noch auf dem Sterbebett bekehrst, das gilt, und Gott wird es als wirkliche Umkehr werten. Und das ist wahr. Gott nimmt selbst den kleinsten und schwächsten Anfang für den ganzen Weg.
Nur muss man immer dazu sagen, dass das Sterbebett eigentlich die schlechteste Gelegenheit für eine Umkehr ist. Einmal, weil die Chance groß ist, dass wir dann schon nicht mehr wir selbst sind oder so mit Medikamenten beruhigt sind, dass wir gar nicht klar denken können. Zum anderen aber haben wir dann in diesem Leben nichts mehr davon. Und Umkehr soll uns ja jetzt schon ein neues und gesegnetes Leben eröffnen. Ja, bei Gott gilt sogar noch eine Umkehr in letzter Stunde. Und tatsächlich gibt es immer wieder Menschen, die erst fast alles verlieren müssen, ihre Kraft, ihre Gesundheit, ihren Einfluss, ihre Beziehungen, ja, ihr ganzes bisheriges Leben muss erst zusammengebrochen sein, bevor sie zu neuen Gedanken und neuen Erfahrungen fähig sind, manchmal wirklich noch in den letzten Wochen ihres Lebens.
Aber, Leute, seid klug und wartet nicht so lange! Es gibt so viel zu gewinnen. Warum wollt ihr sterben? fragt Hesekiel. Der schaut sich sein Volk an, wie es mit aller Kraft in die Sackgasse rennt, und kann nur fassungslos fragen: warum lauft ihr in euer Unglück? Gott hat überhaupt keine Freude daran, wenn Menschen in ihr Verderben laufen. Mancher stellt sich Gott ja wie so einen Aufpasser vor, der nur darauf wartet, dass wir irgendwas falsch machen und uns dann mit Vergnügen eins auf die Nase gibt. Solche Menschen gibt es, aber Gott ist nicht so. Gott hat Freude daran, wenn wir den Weg zum Leben finden. Er antwortet auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten. Er stoppt auch immer wieder das verdiente Gericht, damit Menschen einen Raum zum Neuanfang haben.
Das Christentum hat sich leider zu lange auf Sündenmanagement konzentriert, auf die Frage, wie man die Sünden der Vergangenheit richtig ausgleichen und entsorgen kann. Da haben natürlich die Katholiken andere Vorstellungen gehabt als die Protestanten. Aber darüber ist beiden aus dem Blick geraten, dass Gott vor allem möchte, dass wir in Zukunft befreit leben können. Dazu ist manchmal auch Sündenmanagement nötig, weil die Vergangenheit ganz schön belastend sein kann. Aber das steht immer im Dienst eines Neuanfangs, im Dienst der Umkehr.
Denn die wichtigste Botschaft in all dem ist: Leute, ihr habt einen Spielraum! Egal, wie verfahren die politische Situation ist, egal, wie blöd dein Leben bisher gelaufen ist, egal, was für Verwerfungen du jetzt plötzlich in einem Herzen entdeckst – ihr habt immer mindestens zwei Möglichkeiten und in der Regel sind es noch viel mehr. Menschen haben bis zum letzten Atemzug das Recht, ein anderer zu werden. Das ist der Kern der Menschenwürde, dass wir nie nur Opfer sind, sondern dass wir immer einen Spielraum haben, in dem wir uns entscheiden können. Zwischen einem Ereignis und unserer Reaktion darauf gibt es immer diesen Raum der Freiheit, den wir so oder so nutzen können. Das ist der tiefste Grund, weshalb es in unsere christlich beeinflussten Staatsordnung keine Todesstrafe gibt: auch dem schlimmsten Verbrecher darf diese Möglichkeit der Umkehr nicht vorzeitig genommen werden.
Gott tut ganz viel, um dieses Recht zu stärken, ein anderer zu werden, eine andere zu werden. Er schickt seine Leute, die Propheten und Apostel, die Juden und die Christen, damit diese Alternative in der Welt auch sichtbar ist. Deswegen ist es so wichtig, dass wir den Neuanfang auch wirklich leben und nicht bloß das Alte unter einem neuen religiösen Etikett einfach weitermachen. Und es ist wichtig, dass viele Menschen dazukommen, damit es besser sichtbar wird, dass es eine reale Alternative gibt.
Denn nur gelebte, realisierte Alternativen sind ein Schutz gegen Zynismus im Großen und im Kleinen. Zynisch werden Menschen, wenn sie etwas tun, von dem sie eigentlich wissen, dass es falsch ist. Kurz vor der französischen Revolution kursierte unter den französischen Adligen der Spruch: nach uns die Sintflut! Sie ahnten längst, dass es nicht mehr lange gut gehen würde, aber sie wollten nichts dagegen tun, oder glaubten, sie hätten keine Alternative. Und dann machten sie immer weiter, bis eines Tages die Revolution ausbrach und ihre ganze Welt wegfegte.
Das ist Zynismus: man weiß, es wird bös enden, aber man ändert nichts. Man redet sich ein, es hätte sowieso keinen Zweck. Man ignoriert unser Menschenrecht, ein anderer zu werden. Zynismus ist so zerstörerisch, weil er die Menschenwürde im Kern angreift.
Zynismus war dieser Satz: „die Väter haben unreife Trauben gegessen und den Söhnen sind die Zähne stumpf geworden“. Das Schlimme daran ist, dass da jemand zugibt, wie schlecht alles gelaufen ist, und trotzdem eine Begründung findet, weshalb er nichts ändert. Es ist eigentlich verrückt, aber es gibt in uns einen tiefen Widerstand gegen echte Umkehr. Lieber bereuen wir und entschuldigen uns und tun Buße in Sack und Asche oder konstruieren Scheinprobleme, wenn uns nur tiefgreifende Veränderungen erspart bleiben. Sündenmanagement liegt uns viel näher als echte Veränderung. Man kann das damit erklären, dass wir zu stolz sind, um etwas wirklich einzusehen, man kann vermuten, dass unser Gehirn einfach äußerst ungern die Nervenzellen ganz neu verschaltet, man kann davon reden, dass Neurosen und Psychosen sich wehren und enorme Anpassungsstrategien entwickeln, um im Kern unverändert weiterleben zu können. Wie auch immer man es nennt, wir ändern unser Denken äußerst ungern.
Aber genau das möchte Gott, dass wir diese ganzen Muster loslassen, die ein Kennzeichen der gefallenen Welt sind, die – da muss man realistisch sein – in uns leben, an die wir gewöhnt sind und die unsere spontanen Reaktionen prägen. Deshalb fragt er: Warum wollt ihr in euer Unglück laufen? Warum wollt ihr sterben? Leben wär doch eine tolle Alternative. Leben, wirklich leben, nicht bloß existieren, das ist so etwas Herrliches. Für das Leben lohnt es sich, diese Mühe der Umkehr auf sich zu nehmen. Frag einen Menschen, der es wirklich geschafft hat, umzukehren: etwas Krankes hinter sich zu lassen, eine Sucht, schlechte Angewohnheiten, zerstörerische Denkmuster, was auch immer. Er wird dir immer sagen: es hat sich gelohnt! Ein Glück, dass ich es endlich angegangen bin! Ich hätte es schon viel früher tun sollen! Vorher sieht es schwer bis unmöglich aus, aber hinterher ist man so froh darüber.
Gott möchte, dass wir das Leben wählen. Und er kommt uns entgegen und erkennt im ersten Schritt schon den ganzen Weg.