Die Macht des Unscheinbaren
Predigt im Besonderen Gottesdiensst am 6. Juli 2009 zu Matthäus 13,33
Die Macht des Unscheinbaren liegt darin, dass Gott sich mit dem Unscheinbaren verbündet. In Gottes Geschichte mit der Welt stößt man wieder und wieder darauf, wie er sich mit Menschen verbindet, denen niemand etwas zutraut, aber diese Menschen erkennen, wer ihnen da begegnet, und dann bringt er seine Absichten genau mit diesen Menschen voran.
Gott macht einmal etwas mit der Welt im Ganzen: er ruft sie ins Leben. Aber von da an sucht er sich immer einzelne Menschen oder Gruppen aus und beeinflusst das Ganze durch einen Teil. Man nennt das mit einem Fachbegriff »Erwählung«. Gott wählt sich Einzelne aus, durch die er alle beeinflussen will. Schon im zwölften Kapitel der Bibel beruft Gott Abraham, dass er ein Segen für alle sein soll. Aus den Nachkommen Abrahams wird das Volk Israel, nur ein kleiner Teil der Menschheit, aber Gott will durch ein Volk alle Völker segnen. Und wir haben es vorhin gehört, wie er später Mose sagen lässt: ich habe euch nicht erwählt, weil ihr größer wäret als die anderen Völker, sondern im Gegenteil: weil ihr das kleinste Volk von allen seid.
Und dann wieder erwählt sich Gott Einzelne in diesem Volk, von denen es keiner erwartet: David war der Jüngste von seinen Brüdern, und niemand hat in ihm den großen König gesehen, der er wurde. Man könnte Beispiele noch und nöcher bringen, wie Gott immer wieder die Vorstellungen von dem, was wichtig und bedeutsam ist, durchkreuzt. Jesus schließlich wurde geboren in der kleinen Stadt Bethlehem und lebte in Nazareth in Galiläa. Und als die Jerusalemer Besserwisser über ihn diskutierten, da sagten sie: es ist doch allgemein bekannt, dass aus Galiläa kein Prophet kommt. Und sein späterer Jünger Philippus sagt, als er zum ersten Mal von Jesus hört: was kann schon aus Nazareth Gutes kommen?
Diese Vorliebe für das Unscheinbare zieht sich wie roter Faden durch die Geschichte Gottes mit seiner Welt. Diesen roten Faden kannte natürlich auch Jesus, und er hat ihn auch bei seiner eigenen Mission immer wieder gesehen und beschrieben. Es gibt einen Haufen Gleichnisse darüber, wie etwas Kleines trotzdem eine große Wirkung haben kann, z.B. folgendes Gleichnis aus Matthäus 13:
So kurz ist das. Ein Vers nur in der Bibel. Ein alltäglicher Vorgang: da backt jemand Brot, und damit der Teig lockerer wird, kommt ein bisschen Sauerteig dazu, und der breitet sich im Teig aus. Am nächsten Morgen hat sich der ganze Teig verändert. Heute nimmt man Hefe, da geht es noch schneller. Und Jesus beschreibt mit diesem Bild, wie sich das Reich Gottes, das er verkörpert, auf der Erde ausbreitet: unscheinbar, auf Wegen, mit denen keiner gerechnet hat.
Ich habe mal einen Artikel gelesen, wo jemand berechnet hat, wieviel Anhänger Jesu es wohl um das Jahr 100 gab, also etwa 70 Jahre nach seinem Tod. Und er kam zu dem Ergebnis, dass es wohl nur ein paar Tausend waren. 70 Jahre nach Jesu Tod waren es erst ein paar Tausend in der ganzen Welt! Die sind keinem groß aufgefallen. Es gibt aus dieser Zeit den Brief eines römischen Statthalters, der zufällig auf ein paar Christen aufmerksam geworden ist und beim Kaiser anfragt, ob er irgendwelche Maßnahmen ergreifen soll. Er kann die überhaupt nicht einordnen, er lässt sie vorsichtshalber durchprügeln und dann lässt er sie wieder laufen. Unscheinbar, unauffällig breiten sich die Anhänger Jesu aus, vor allem in den großen Städten, wo keiner den anderen kennt. So unscheinbar, dass sich lange Zeit keiner darüber Gedanken macht.
Der römische Staat wusste natürlich, dass die Religionen manchmal Ärger machen konnten. Die Priesterschaft von großen Tempeln versuchte manchmal, politischen Einfluss zu kriegen. Aber wenn die zu ambitioniert wurden, dann löste man einfach den Oberpriester ab, schickte ihn in die Wüste und ersetzte ihn durch einen gehorsamen Oberpriester. Danach war wieder Ruhe.
Als die Römer später die Christen entdeckten, probierten sie es mit der gleichen Methode: sie brachten die Bischöfe um oder schickten sie in die Bergwerke, was auch eine Art Todesurteil war. Aber es nützte nichts. Es gab neue Bischöfe. Die Behörden waren verwirrt. Das war doch nur eine ganz unscheinbare Bewegung: viele Sklaven dabei, viele Frauen, viele Ausländer, viele ungebildete Leute: aber die machten unbeirrt weiter. Wie der Sauerteig breiteten sie sich in der Gesellschaft aus, immer mehr Menschen wurden von ihnen beeinflusst, und der römische Staat mit seiner gewaltigen Militärmacht wusste nicht, was er dagegen machen sollte.
Bis heute ist das die Art, wie sich das Christentum auch in unterdrückerischen Gesellschaften ausbreitet. Viele Menschen kriegen heute ein mulmiges Gefühl, wenn sie an China denken: so viele Menschen, und die bleiben nicht arm, sondern werden immer mächtiger. Und es ist keine freie Gesellschaft. Was wird das geben? Aber auch dort in China gibt es Christen, die die ganze Zeit der Unterdrückung nicht nur überstanden haben, sondern dabei immer mehr geworden sind. In unscheinbaren Netzwerken von Hausgemeinden organisiert, beraten von Leuten, die keine andere Autorität haben als ihre persönliche Bewährung und Integrität. Inzwischen überlegen sie dort, ob sie nicht Missionare in die islamischen Länder schicken sollen. Denn sie sagen: wir wissen, wie man in Verfolgung überlebt. Uns wird man auch nicht nachsagen, dass wir die Vertreter einer mächtigen imperialistischen Kirche sind. Wir haben ganz andere Möglichkeiten als das westliche Christentum. Das ist die Macht des Unscheinbaren, die wie ein Sauerteig die Welt durchdringt.
Und diese Art von Macht passt überhaupt viel besser dazu, wie Gott die Welt eingerichtet hat. Natürlich sind militärische und finanzielle Macht nicht wirkungslos. Aber sie machen blind für die tieferen Zusammenhänge, die langfristig viel stärkere Auswirkungen haben. Der wirkliche Kampf geht um die menschlichen Herzen. Wenn in den Herzen von Menschen erst die Wahrheit aufgeleuchtet ist, dann kann die mit äußerer Macht kaum noch ausgerottet werden.
Wir haben in der vergangenen Woche erlebt, wie eine einzige Rede eines amerikanischen Präsidenten in Kairo an die islamische Welt mehr Hoffnungsvolles in Bewegung bringen kann als viele militärische und politische Winkelzüge in vielen Jahren zuvor. Natürlich sagen jetzt kluge Kommentatoren: diesen Worten müssen aber Taten folgen, und das kann die mühsame Arbeit der Politik nicht ersetzen, und welchen Plan hat Obama eigentlich? Und das sind ja alles richtige Gedanken. Aber Fakt ist, dass Obama etwas verstanden hat, von dem sein so schrecklich christlicher Vorgänger keinen blassen Schimmer hatte: dass man Menschen zwar mit äußerer Macht überwältigen kann, dass aber daraus kein Friede entsteht.
So lange Menschen das Gefühl haben, nicht respektiert zu werden, vom Tisch gewischt zu werden, mit billiger Propaganda abgespeist zu werden, keine Chance zu haben, so lange werden sie Sympathien für Terroristen und Fanatiker und Verrückte haben, die ihnen wenigstens ein bisschen Macht versprechen. Menschen wollen nicht überwältigt, sondern gewonnen werden, auch wenn sie das selbst oft nicht klar verstehen oder zum Ausdruck bringen können. Aber wenn dann einer kommt und sie so anspricht, dann bewegt sich etwas.
Klar, das kann natürlich auch besonders raffinierte Rhetorik sein, ein Trick, um die Menschen mit schönen Worten zu füttern, denen keine Taten folgen. Aber selbst wenn das nur ein rhetorischer Trick ist: bei uns hat keiner solche Tricks drauf. Von unseren Promis jeder Art kann das keiner. Um das zu sagen, was Obama in seinen Reden sagt, braucht man eine Tiefe, die hier bei uns eine Rarität ist. Bei uns denken sie alle, dass man die Leute mit ein paar Euro mehr Rente oder ein paar Prozent weniger Steuern kriegt, oder auch mit ein bisschen Angstmache. Aber das unterschätzt die menschlichen Herzen total, mit ihrem ganzen Potential an Hoffnung und Verletztheit, an Begeisterungsfähigkeit und Angst, und mit ihrem Wunsch, auch mal die Wahrheit zu hören und nicht immer nur Propaganda.
Wo hat Obama gelernt, Menschen anders anzusprechen? Ich glaube, das hat auch zu tun mit seiner Zeit als Sozialarbeiter in den heruntergekommenen Stadtvierteln von Chicago, wo er mit Kirchengemeinden Sozialprogramme aufgebaut hat. Mitten in diesen chaotischen und verfallenden Quartieren, wo Armut und Perspektivlosigkeit und Sucht herrschen, hat er es offensichtlich geschafft, mit Menschen so zu reden, dass sie wieder Hoffnung und Zukunft finden konnten. Am Ende hat er eine Kampagne organisiert, durch die sich 150.000 Afroamerikaner in die Wählerlisten eintrugen und so politisch mitbestimmen konnten. Wer so was kann, der kann auch Präsident der USA werden. Aber dazwischen liegen fast 20 Jahre. So lange braucht das manchmal.
Und so hat sich auch dort in der Unscheinbarkeit amerikanischer Verfallsgebiete etwas vorbereitet, was heute zu den wenigen Lichtblicken in der Weltpolitik gehört. Klar, wir wissen nicht, wie das ausgeht, aber ich weiß von niemandem in der Politik, der mehr Kenntnis von menschlichen Herzen erkennen lässt.
Wenn aber einstweilen bei uns die meisten Medien-Promis kaum begreifen, warum der amerikanische Präsident so viel bewegen kann, so lasst wenigstens uns verstehen, dass der Schlüssel zur Welt da verborgen ist, wo ihn nur wenige vermuten: in der Unscheinbarkeit menschlicher Herzen, die auf die Wahrheit reagieren, die Gott schon von Anfang an in sie hineingelegt hat. Diese Wahrheit ist oft fast ganz verschüttet von Angst und Stolz und Lüge und Arroganz und anderem, sie ist eingemauert hinter dicken Wänden, mit denen wir uns gegen unseren Schmerz und unsere Verletzlichkeit abschirmen wollen, sie ist verzerrt und verdreht und missbraucht worden. Aber diese Verbindung zur göttlichen Wahrheit ist unausrottbar, weil Gott sie in unsere Herzen geschrieben hat, als er uns schuf. Und weil Jesus diese Wahrheit verkörpert, deshalb kann er Menschen gewinnen auf eine Weise wie niemand sonst.
Und die Frage an uns ist, ob wir alles daransetzen, um diese Wahrheit in unserem Herzen zurückzugewinnen und sie zu hegen und zu pflegen und diese Quelle des Lebens wieder strömen zu lassen. Ob wir bereit sind, darauf unsere ganze Aufmerksamkeit zu richten. Es sind ja nicht nur unsere Politiker und Kommentatoren und Promis, die so wenig Tiefe haben, die so abhängig sind davon, was die Umfragen über sie sagen und wieviel Redezeit ihnen zugestanden wird. Es sind ja auch all die ganz normalen Menschen, die das Gespür verloren haben für diese verborgene unscheinbare Macht in den eigenen Herzen.
Man kann vermuten, dass das bei uns in Deutschland damit zusammenhängt, dass unter dem Hitlerregime auch das Dunkelste und Schwärzeste in den Menschenherzen mobilisiert worden ist, und dann hat man nach dem Krieg erstmal Beton drübergekippt und sich lieber mit »Schaffe, schaffe, Häusle baue« auf die Außenwelt orientiert. Aber auf die Dauer kann man auch die Außenwelt nicht kennen, wenn man sich selbst nicht kennt und kaum noch Zeit hat, um Jesus aufzusuchen, der in unserem Herzen zu uns sprechen will.
Und so muss sich das wirkliche Leben unter uns viel zu oft begnügen mit den Ritzen und Spalten, wie eine Blume, die nur schwer zwischen den Felsen Wurzeln schlagen kann. Mitten zwischen gefüllten Terminkalendern und Wichtigkeiten, die viel heller strahlen, zwischen Fernsehshows und Friseurterminen und Sitzungen und Straßefegen wächst dennoch das neue Leben, das Gott mit Jesus unter uns gesandt hat. Aber es könnte uns ganz anders beflügeln, wenn es den Raum bekommen würde, den es braucht. Wenn wenigstens einige verstehen, dass da die Kraft verborgen ist, die dringend gebraucht wird, um die Dunkelheiten im Kleinen wie im Großen hell zu machen und Leben wachsen zu lassen. Wenn wir uns nicht blenden ließen von so vielen anderen Dingen, die sich unheimlich wichtig geben und doch nicht das bewirken können, was die unscheinbare Wahrheit Gottes bewirkt, wenn sie in unserem Herzen zum Leben erwacht.
Das Evangelium sagt uns, dass da der Schlüssel liegt. Die Geschichte des Volkes Gottes zeigt uns, dass Gott durch das zuerst Unscheinbare seine großen Taten tut. Bis heute ist das so.