Beten mit vorformulierten Gebeten
Predigt am 19. Juli 2009 zu Matthäus 6,5-13 (Predigtreihe Beten 1)
5 Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. 6 Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten. 7 Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. 8 Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet. 9 Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt.10 Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. 11 Unser tägliches Brot gib uns heute. 12 Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. 13 Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. [Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.]
Vielleicht wundert sich mancher, wie ich darauf komme, diese Reihe mit dem Thema der vorformulierten Gebete zu beginnen. Aber wenn wir genau hinschauen, dann merken wir: die vorformulierten Gebete spielen eine viel größere Rolle, als man auf den ersten Blick meint.
Sehr viele Menschen haben ihre ersten Gebetserfahrungen mit vorformulierten Kindergebeten gemacht. Das kommt Kindern sehr entgegen, denn Kinder mögen es ja gern, wenn sich Dinge wiederholen. Kinderbücher kann man immer wieder vorlesen, und wehe, man verändert ein Wort dabei! Wiederholungen geben Kindern Sicherheit, und so finden sie es gar nicht merkwürdig, wenn jemand jeden Abend z.B. folgendes mit ihnen betet:
Abends will ich schlafen gehn,
vierzehn Engel um mich stehn:
zwei zu meinen Häupten,
zwei zu meinen Füssen,
zwei zu meiner Rechten,
zwei zu meiner Linken,
zweie, die mich decken,
zweie, die mich wecken,
zweie, die mich weisen
zu Himmels Paradeisen!
Das stammt übrigens aus der Kinderoper »Hänsel und Gretel«. Daran sieht man, dass Kindergebete normalerweise nicht von Kindern stammen, sondern von Erwachsenen, die sich vorgestellt haben, dass Kinder so beten könnten. Und das sind auch oft nicht die Eltern, sondern diese Gebete stehen erst in Büchern und gehen dann in die mündliche Tradition ein. Das ist ja auch schwierig: für Kinder, die ganz anders denken und erleben als Erwachsene, einen Text zu formulieren, den sie sich zu eigen machen können. Da braucht man viel Intuition und auch Respekt vor den Kindern. Denn mit solchen Gebeten formt man ja das Bild der Kinder von Gott. Das wirkt vielleicht für ein ganzes Leben, auch wenn man es oft vergisst, sobald man älter ist. Oder dieses hier:
Müde bin ich, geh zur Ruh,
schließe meine Äuglein zu.
Vater, lass die Augen dein
Über meinem Bette sein.
Das hat meine Mutter mit mir viele Jahre gebetet. Irgendwann, als ich älter wurde, hörte das auf, aber später habe ich entdeckt, dass diese regelmäßige Übung tatsächlich viel Geborgenheit in mein Leben und meine Seele hinein transportiert hat.
Ich vermute, dass vielleicht meine Mutter selbst dieses Gebet von ihrer Mutter gelernt hat und dass vielleicht in vielen Familien so Gebete durch die Generationen weitergegeben werden. Oder es sind die Großmütter, die so etwas an ihre Enkel weitergeben. Ich habe oft Erwachsene nach solchen Erinnerungen gefragt, und ich habe den Eindruck, dass etwa die Hälfte aller Erwachsenen von solchen Gebetserfahrungen berichten können, wobei ich nicht gefragt habe, ob das immer vorformulierte oder auch freie Gebete gewesen sind. Aber in jedem Fall ist das für Kinder ganz wichtig, dass auf diese Weise Gott in ihrem Tagesablauf vorkommt. Kinder lernen ja nicht theoretisch, sondern durch Mitmachen und Nachvollziehen. Sie machen etwas äußerlich mit und geben ihm innerlich eine Bedeutung. Und das ist überhaupt die Funktion von vorformulierten Gebeten: sie sind ein Anstoß, sich innerlich für eine Wirklichkeit zu öffnen, die in dem Gebet mehr oder weniger gut beschrieben ist.
Auch in der Anfangszeit des Christentums in unserem Land wurden viele feste Gebetstexte benutzt, weil die Menschen noch viel zu wenig von dem Glauben wussten, in den sie da hineingetauft worden waren. Die wären überhaupt nicht in der Lage gewesen, mit eigenen Formulierungen zu beten. Bonifatius z.B. klagt immer wieder darüber, dass es so viele ungebildete Priester gebe, die noch nicht mal die lateinischen Worte der Messe richtig aufsagen konnten, geschweige denn sie verstanden. Das war sozusagen die Phase der Kindergebete für ein ganzes Land!
Als ich größer war, gab es dann Religionslehrer und Religionslehrerinnen und es gab Konfirmandenunterricht, und da ging es oft darum, vorformulierte Texte auswendig zu lernen, allerdings weniger Gebete, sondern eher Lieder oder Bibelverse. Wenn man heute Menschen nach ihrem Konfirmandenunterricht früher befragt, dann hat da immer ganz viel Auswendiglernen dazugehört. Ich weiß noch, dass viele von unseren Lehrern im Krieg gewesen waren, und sie redeten manchmal davon, wie wichtig es sei, in gefährlichen Situationen auf auswendig gelernte Verse zurückgreifen zu können. Im Schützengraben oder im Bunker, wenn die Bomben fielen und es krachte und rumste, da habe mancher auf einmal wieder das Beten gelernt! Und so wollten sie uns so etwas wie eine eiserne Ration von Texten mitgeben für solche Situationen.
Für uns Schüler, die in der Nachkriegszeit aufgewachsen waren, war das irgendwie eine fremde Welt, obwohl der Krieg erst zwanzig Jahre zurücklag. Und es wäre ja schlimm, wenn der christliche Glaube wirklich nur etwas für Krieg und Gefahrensituationen wäre und im ruhigen Alltag anscheinend keine Bedeutung entfalten könnte. Im Rückblick habe ich gedacht, es wäre auch besser gewesen, wenn wenigstens einige von unseren Lehrern in Gefahr geraten wären, weil sie gegen Hitlers Krieg waren, und nicht, weil sie für ihn in den Krieg zogen. Über Gebete gegen ein tyrannisches Regime hat uns damals keiner etwas erzählt.
Trotzdem stimmt es natürlich, dass Menschen unter Druck manchmal nur auf vorformulierte Gebete zurückgreifen können, weil sie selbst so aufgeregt und nervös und voller Angst oder bedrückt sind, dass sie selbst nichts formulieren können. Das eindrucksvollste Beispiel dafür ist Jesus, als er sterben musste. Am Kreuz, kurz vor seinem Tod, benutzte er die Worte des 22. Psalms, um auszusprechen, was er selbst nicht mehr formulieren konnte: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«.
Und ebenso ist es mit Menschen, die so sehr gestresst oder sonstwie in Gedanken sind, dass sie sich überhaupt nicht auf das Beten konzentrieren können. Ihr Kopf fühlt sich an wie ein großer Baum, in dem eine Horde Affen von Ast zu Ast tobt. Mit vorformulierten Gebeten können sie wenigstens eine gewisse Konzentration erreichen, und dann irgendwann finden sie vielleicht zu eigenen Worten.
Das ist übrigens die Funktionsweise bei all solchen vorformulierten, äußeren Texten: sie sollen uns an eine Wirklichkeit so nahe heranführen, wie es nur geht, damit wir dann selbst innerlich in diese Wirklichkeit eintreten. Sie sollen den Weg bahnen, sie sollen einen Raum aufschließen, sie sollen eine Art Landkarte sein, an der wir uns orientieren, wenn wir auf eigene Entdeckungsreisen gehen. Vorformulierte Gebete können den Blick weiten, damit wir nicht nur wie mit einem Tunnelblick auf das schauen, was uns am meisten beeindruckt oder bedrückt, und dann immer nur sagen: bitte, bitte, Gott, hilf mir, mach das weg! Sondern gute Gebetstexte öffnen unsere Augen für die größere Wirklichkeit Gottes, die weiter ist als unsere Sorgen und Ängste reichen.
Ein Beispiel dafür sind die irischen Segensworte. Nicht umsonst sind die bei vielen Menschen beliebt. Wir haben ja im Oktober 2006 einen Besonderen Gottesdienst über das irische Christentum gemacht, und bis heute gehört die Seite dieses Gottesdienstes auf der Gemeindehomepage im Internet zu den Seiten, die am häufigsten aufgerufen werden. Da landen Menschen, weil sie bei Google nach irischen Segensworten gesucht haben. Eines der bekanntesten ist sicher dieser Reisesegen:
Möge dein Weg dir freundlich entgegenkommen,
möge der Wind dir den Rücken stärken.
Möge die Sonne dein Gesicht erhellen
und der Regen um dich her die Felder tränken.
Und bis wir beide, du und ich, uns wiedersehen,
möge Gott dich schützend in seiner Hand halten.
Man merkt richtig, wie sich der Blick weitet und hier auf einmal nicht mehr nur die Abschiedssituation präsent ist, sondern wie der Blick sich weitet und die Schöpfung und der Schöpfer mit hineinkommen, und in diesem größeren Rahmen ist dann auch der Schmerz und die Sorge des Abschiedes nicht mehr so überwältigend.
Das ist überhaupt der Sinn aller vorformulierten Gebete: dass wir über den Augenblick und unseren augenblicklichen Horizont hinausgehoben werden und alles in einem weiteren Horizont sehen. Und dass wir uns dann diesen Horizont zu eigen machen und in ihm selbst weiterbeten, mit unseren eigenen Worten.
Zwei Gefahren haben die vorformulierten Gebete aber auch:
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Jesus hat davor gewarnt, aus dem Beten eine äußerliche Sache zu machen, mit der man vielleicht sogar noch angibt. An einer anderen Stelle (Mk. 12,40) sagt er sogar ausdrücklich, dass diejenigen, die Witwen und Waisen um ihre Häuser bringen, das dann auch noch mit langen Gebeten bemänteln. Gerade vorformulierte Gebete, Gebetszeiten und Liturgien sind immer in der Gefahr, dass Menschen annehmen, es ginge einfach um die korrekte Wiederholung der heiligen Formulierungen. Man kann dicke Bücher darüber schreiben, wie man sich richtig und würdig verhält und wie die richtigen Formulierungen sind und wie man das auch alles gekonnt aufführt. Und dann kommen die großen Meister des Gebets und sagen: ja, das ist alles so lieblos gestaltet, und es muss richtig gut gestaltet werden, da muss man mehr Mühe drauf verwenden. In Wirklichkeit sind das alles aber mehr Sprungbretter, die einem eine Starthilfe geben sollen, damit wir dann selbst weiterbeten mit unseren eigenen Worten und unseren eigenen Anliegen. Deshalb gibt es bei uns im Gottesdienst beim Gebet immer eine Zeit der Stille, damit jeder Gelegenheit hat für seine eigenen Worte. Wir stehen jeder selbst vor Gott und können uns nicht hinter irgendwelchen heiligen Traditionen und Formulierungen verstecken. Sonst wird aus dem Beten ein Plappern, wie Jesus es sagt, äußere Worte, die weder unser Herz noch Gott erreichen. Deswegen sagt Jesus: geh in dein Kämmerlein, wo du allein bist, wo keiner darauf achtet, ob du die korrekten Worte benutzt, und da sprich ganz allein mit ihm und so, wie es dir selbst auf dem Herzen liegt.
Und dann gibt er seinen Jüngern das Vaterunser, und die Betonung liegt darauf, dass das zwar ein vorformuliertes Gebet ist, aber ein kurzes, in dem nur das Wichtigste auftaucht, ohne lange Formeln. Aber es ist ein ausbaufähiges Gebet, in das man seine ganze persönliche Situation hineinlegen kann, und das trotzdem mit dem großen Weg Gottes beginnt, in den wir uns hineinstellen. -
Die zweite Gefahr bei den vorformulierten Gebeten ist, dass sie uns auf eine falsche Spur setzen können und es uns schwer machen können, in die Wirklichkeit Gottes zu finden. Es gibt eben auch kitschige Gebete; es gibt Gebete, die einen fertig machen, weil da dauernd davon gesprochen wird, wie schlecht und unfähig und schuldig wir sind; es gibt diese hochkultivierten sprachlich wertvollen Gebete, die nur mühsam eine geistliche Wüste verdecken; es gibt belehrende Gebete, die eigentlich eine Predigt sind, und eine langweilige dazu; ganz zu schweigen von all den schrecklichen Gebeten, wo um den Sieg im Kriege und für die Gesundheit des Führers gebetet worden ist. Gerade in Zeiten, wo die Kirche nicht so gut drauf ist, können Gebete aus der Tradition es uns ersparen, etwas Neues zu wagen und falsche Wege zu verlassen.
Ich denke, dass es gut ist, wenn wir selbst für uns ein paar feste Formulierungen haben, und da ist es eigentlich egal, ob wir die irgendwo gelesen haben, oder ob wir sie von einem anderen gelernt haben oder ob sie unsere eigenen Formulierungen sind, oder ein Mix aus allem. Hauptsache, es sind unsere Formulierungen, und wir haben das Gefühl, sie stimmen. Man muss die auch nicht aufschreiben, obwohl das auch manchmal nicht schlecht ist. Man sollte immer mal wieder überprüfen, ob sie noch passen und sie dann auch mal wieder ändern, wenn wir merken, dass wir Neues über Gott gelernt haben. Aber es sollten Formulierungen sein, die uns etwas Richtiges und Gutes über Gott sagen und uns so helfen, einen Zugang zu Gott selbst und zu seiner Wirklichkeit zu finden.
Das ist ein allgemein menschlicher Mechanismus: wenn wir Worte hören, die eine Wirklichkeit gut beschreiben, dann werden wir oft in diese Wirklichkeit hineingezogen: wenn ich ein trauriges Lied höre, werde ich möglicherweise melancholisch. Ein fröhlicher Film heitert mich auf. Wer bei einer Hochzeit hört, wie Menschen von der Liebe sprechen, schaut vielleicht aufmerksamer die unverheirateten Gäste an, ob da auch für ihn jemand dabei ist. Und wenn ich jetzt davon spreche, wie ansteckend das Gähnen ist, könnte es sein, dass der eine oder andere von uns den unwiderstehlichen Drang verspürt jetzt, zu gähnen. Worte, die stark sind, übertragen Wirklichkeiten, sie ziehen uns in die Wirklichkeit hinein, die sie beschreiben, und so können uns auch vorformulierte Gebete in die Wirklichkeit Gottes hineinziehen. Wir können das nicht kontrollieren, wir haben es nicht in der Hand, aber nicht selten geschieht es.