Nicht die Beutementalität
Predigt am 29. März 2009 zu Philipper 2,5-11
5 Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: 6 Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, 7 sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. 8 Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. 9 Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, 10 dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, 11 und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.
Was ist das Muster hinter dieser alternativen Lebensweise, die Jesus in der Bergpredigt beschreibt? Welche Logik steckt hinter diese Umwertung aller Werte, die Jesus hier beschreibt?
Barmherzig zu sein, Frieden zu stiften, sanftmütig zu sein, reinen Herzens zu sein, Leid zu tregen, egal, ob es das eigenen ist oder das anderer, und arm zu sein auf eine vom Heiligen Geist geleitete Weise – das sind nicht gerade die vorherrschenden Ideale unter den Menschen. Und trotzdem macht es normalerweise schon einen ziemlichen Eindruck, wenn man einem Menschen begegnet, der sich nach dieser Logik verhält. Deswegen ist der Gruppe von Ü10, die die Präsentation zusammengestellt hat, gleich Mutter Teresa eingefallen. Es ist eigentlich schade, dass wir, wenn es um Beispiele geht, immer gleich auf diese paar Leitfiguren kommen wie Mutter Teresa oder Dietrich Bonhoeffer oder Franz von Assisi. Vielleicht lieght es ja daran, dass es gar nicht so viele gibt, die das praktiziert haben. Aber wenn es dann mal einer gemacht hat, dann hat das weit gestrahlt.
Ich hätte aber noch eine andere Vermutung: wir bemerken es vielleicht ja auch gar nicht so, wenn dieses Muster Jesus unter uns im Nahbereich Wirkung entfaltet. Deshalb fand ich an dem Stück, das die Theatergruppe von Ü10 hier vorhin gezeigt hat, so gut, dass es wirklich im normalen Lebensumfeld angesiedelt war.
Ich halte die beiden Verhaltensweisen, die man da sehen konnte, für ziemlich realistisch: das gibt es, dass man den kleinen Bruder wegschickt und sagt: hau ab, wir wollen dich nicht dabei haben. Na, und der lässt sich eben nicht so einfach zur Seite schieben, sondern er kommt zurück und macht ihnen das Spiel kaputt. Und wenn sie ihn dann erst recht wegschicken, dann kommt ein aggressiver Unterton in ihren Umgang, der schließlich auch ihnen das Miteinander kaputt macht.
Aber es gibt eben genauso auch die andere Version, dass einer sagt: ach, lass ihn doch mitspielen. Wir müssen ihn nicht rausschicken, auch wenn wir die Größeren sind und es eigentlich könnten. Das gibt es wirklich beides. Und auch in solchen Entscheidungen zeigt sich das Muster der Bergpredigt, nur fällt es da nicht so auf, weil uns das doch ein ganzes Stück vertraut ist. Wenn Kinder oder Jugendlich oder auch Erwachsene sich so verhalten, wie im zweiten Beispiel vorhin, dann denken sie normalerweise nicht: »Also, das ist jetzt Seligpreisung 3: Selig sind die Sanftmütigen.« Sondern sie tun es einfach.
Unsere Kultur und unsere Denkweise sind nämlich immer noch ziemlich stark von Mustern geprägt, die im Denken Jesu ihre Wurzel haben. Es gibt nicht nur eine wie Mutter Teresa, die sehr pointiert und deutlich diese andere Denkweise verkörpert, sondern es gibt auch viele andere Menschen, die ganz unauffällig hier und da mal, ohne sich groß was dabei zu denken, eine Entscheidung treffen, die von dieser Jesu Denken inspiriert ist: dass man nicht rücksichtslos seine Macht ausspielt, dass man Solidarität übt, dass man zu denen, die auf der Schattenseite der Gesellschaft stehen, nicht sagt: selbst schuld! Es gibt viel mehr von diesen alltäglichen Entscheidungen für Jesus und sein Denken, als wir uns normalerweise klar machen.
Aber wir brauchen auch die öffentlichen, eindrucksvollen Beispiele, weil sie in Klarheit vor Augen führen, worum es geht. Bei uns spielt sich das ja eher im Grau des Alltags ab, wo nicht gleich einer mit der Kamera danebensteht und es für die Abendnachrichten abfilmt.
Wir brauchen die sichtbaren, großen Beispiele auch deshalb, weil diese Denkart Jesu nicht unumstritten ist. Man kann sogar sagen, dass es zur Zeit einen richtigen Kampf darum gibt, ob seine Logik auch weiterhin noch im Denken der Menschen drin bleiben soll, oder ob der Egoismus und die Gier nach Besitz, Ruhm und Macht, also die Beutementalität, nicht wieder viel stärker zum Leitbild werden soll.
Mindestens in den höheren Etagen der Gesellschaft hat es da in den letzten 20 oder 30 Jahren ja schon eine deutliche Verschiebung gegeben, weg von Leuten, die noch eine gewisse Verantwortung in ihrer Position gespürt haben, eine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft und den ihnen anvertrauten Menschen, hin zu einer nimm-was-du-kriegen-kannst-Mentalität. Es gibt natürlich auch immer noch die anderen, die sich nicht an kurzfristigen Kurssprüngen und Bonuspaketen orientieren, aber das Leitbild hat sich verschoben. Und die Finanz- und Wirtschaftskrise ist die deutlichste Folge davon.
Deswegen ist die Zeit gekommen, wo es nicht mehr reicht, irgendwie und spontan sich von diesen Werten Jesu beeinflussen zu lassen, sondern wir müssen das wieder klar kriegen, worum es geht und was die Alternativen sind. Mir ist das nämlich so richtig klar geworden in der Gegenüberstellung der Versuchung Jesu in der Wüste mit der Bergpredigt. Jesus geht ja in die Wüste und lässt sich vom Teufel auf die Probe stellen – wer vor vier Wochen hier war, erinnert sich vielleicht noch daran, wie wir darüber nachgedacht haben. Jesus setzt sich auseinander mit den Versuchungen von Geld, Ruhm und Macht, die ja auch vorhin in der Präsentation so plastisch bebildert waren. Und in der Versuchungsgeschichte wird sichtbar, dass es da jedes Mal darum geht, dass einer sein Leben selbst in die Hand nimmt und sagt: wenn ich nicht zusehe, dass ich mein Teil abbekomme, dann gehe ich leer aus. Gott ist weit weg, ich muss selbst sehen, dass ich zu meinem Recht komme. Ich brauche Reichtum, Ruhm und Macht, sonst bin ich am Ende der Dumme. Und Jesu sagt dazu »Nein«, weil er mit der Realität Gottes rechnet und am Ende behält er recht, weil die Engel kommen und ihn versorgen, und statt der scheinbaren Sicherheit, die ihm der Satan vorher zu seinen Bedingungen angeboten hatte, kriegt er etwas viel Besseres.
Das steht im Matthäusevangelium in Kapitel vier. Und dann kommt er zurück aus der Wüste und gleich im nächsten Kapitel folgt die Bergpredigt mit den Seligpreisungen, wo Jesu dann im Grunde sagt: ich gratuliere jedem, der sich von diesen teuflischen Versuchungen nicht einfangen lässt, sondern der nach Gottes Logik, nach Gottes Regeln lebt. Und dann beschreibt er das: er beschreibt Menschen, die nicht mit aller Gewalt für sich selbst sorgen, sondern darauf vertrauen, dass Gott für uns sorgt, und dass diese Welt immer noch die gute Schöpfung ist, und dass wir arm sein können, weil Gott uns beschenken wird, und dass wir sanftmütig sein können, weil Gott uns unser Recht schaffen wird, und dass wir uns vor Leid nicht fürchten müssen, weil es Ströme der Heilung gibt, die im Verborgenen diese Welt erfüllen, und es ist viel wichtiger, sich für diese Heilungsströme zu öffnen, als Leid um jeden Preis zu vermeiden, denn das geht sowieso nicht.
Jesus beschreibt Menschen, deren sehnlichster Wunsch es ist, dass Gerechtigkeit auf der Erde herrscht, die darunter leiden, dass es so viel Selbstsucht und Unrecht gibt, und er sagt: ja, wer so denkt und fühlt, der macht es richtig, auch wenn es manchmal weh tut, aber am Ende wird dieser Wunsch erfüllt werden, weil es Gottes Wunsch ist. Und er preist die Barmherzigen, weil wir uns mit jeder barmherzigen Tat für die göttliche Barmherzigkeit öffnen (und mit jeder selbstsüchtigen Tat verschließen wir unseren Zugang zu Gottes Liebe ein wenig mehr).
Wenn Jesus solche Menschen beschreibt, dann redet er von seinen eigenen Erfahrungen. Das ist ja die Art, wie er immer gelebt hat. Er war auf geistlich erwartungsvolle Weise arm, er war sanftmütig, er hat einen Frieden um sich verbreitet, der die Menschen geheilt hat, die müde und verletzt waren vom ständigen Kämpfen um ihren Platz im Leben. Und er ist am Ende um der Gerechtigkeit willen verfolgt worden, und ihn hat diese Art zu leben ans Kreuz gebracht. Die Leidensgeschichte Jesu ist deshalb so wichtig, weil da seine Lebensart sozusagen voll da ist. Er hat schon immer so gelebt, aber an seinem Tod werden die vollen Konsequenzen deutlich, erst da wird das ganze Bild sichtbar. Da wird diese Muster auf die Spitze getrieben: es ist der Test, ob das Muster der Bergpredigt auch unter den Bedingungen von Folter und Tod noch tragfähig ist.
Und Jesus gibt am Ende seines irdischen Lebens tatsächlich sein Schicksal ganz in Gottes Hände, er wehrt sich nicht, er kämpft nicht, er flieht nicht, sondern er lässt es alles mit sich machen, und mit seinem letzten Atemzug ruft er zu Gott und legt sein Schicksal in Gottes Hände. Und dann steht der Ausgang bis zum dritten Tag auf der Kippe, bis schließlich klar ist: ja, Gott hat ihn auferweckt, ja, das Muster der Bergpredigt hat tatsächlich auch in dieser Extremsituation funktioniert.
Und von diesem großen weltentscheidenden Augenblick fällt nun das Licht auf all die vielen kleinen Augenblicke und Entscheidungen, wo wir uns entscheiden, ob wir unser Leben vorsorglich selbst sichern und verteidigen sollen oder ob wir von den Segensströmen und Heilungskräften Gottes her denken und leben wollen. Vom Sterben und Auferstehen Jesu her werden auch die kleinen und großen Alltagssituationen her beleuchtet, wo wir freundlich und solidarisch und geduldig und liebevoll bleiben und andere mitspielen lassen und Gesetze beschließen, die auch den Schwachen Raum zum Leben geben und Regeln aufstellen, damit die mit der Ellbogenmentalität nicht hemmungslos für sich selbst sorgen können. Von dieser Situation des Kreuzes und der Auferstehung her bekommt all das Sinn, weil sich da gezeigt hat, dass Jesu Weg realistisch ist. Und die anderen Wege führen nur in Streit und Zerstörung, im Großen wie im Kleinen.
Jahre später hat Paulus etwas über Jesus geschrieben, was so klingt, als ob er eine Zusammenfassung der Bergpredigt geben wollte. Und er hat das nicht als eine steile theologische Abhandlung geschrieben, sondern als eine Anleitung für die kleinen Fragen des Miteinanderlebens. Im Philipperbrief heißt es:
5 Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: 6 Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, 7 sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
Paulus sagt: Wenn einer ein Recht gehabt hätte, göttliche Vollmacht zu verlangen, dann war das Jesus. Wir sind alle zum Bilde Gottes geschaffen worden, aber wer haben dieses Bild verloren. Jesus hat immer diese Gottesebenbildlichkeit behalten, aber er hat das nicht festgehalten wie eine Beute, von der man sagt: das habe ich mir jetzt ergattert, das gebe ich nicht mehr her! Alle Dinge, die man mit Gewalt erkämpft hat, die verteidigt man auch mit Gewalt. Aber so war Jesus nicht, sondern, um mit Paulus fortzufahren:
8 Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. 9 Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist.
Jesus hat nicht auf Ehre und Macht bestanden, sondern war bereit, den untersten, den schlimmsten Platz einzunehmen. Und gerade deshalb hat Gott ihm dann alles andere dazugegeben: er hat ihm die ganze Macht gegeben und einen Namen, der jetzt schon weltbekannt ist und eines Tages in aller Munde sein wird. Daran sehen wir heute schon, dass die Beutementalität zukunftsmäßig verloren hat.