Lebendige Reben, lebendige Worte
Predigt am 03. Mai 2009 zu Johannes 15,1-8
1 »Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weinbauer. 2 Jede Rebe an mir, die nicht Frucht trägt, schneidet er ab; eine Rebe aber, die Frucht trägt, schneidet er zurück; so reinigt er sie, damit sie noch mehr Frucht hervorbringt. 3 Ihr seid schon rein; ihr seid es aufgrund des Wortes, das ich euch verkündet habe. 4 Bleibt in mir, und ich werde in euch bleiben. Eine Rebe kann nicht aus sich selbst heraus Frucht hervorbringen; sie muss am Weinstock bleiben. Genauso wenig könnt ihr Frucht hervorbringen, wenn ihr nicht in mir bleibt. 5 Ich bin der Weinstock, und ihr seid die Reben. Wenn jemand in mir bleibt und ich in ihm bleibe, trägt er reiche Frucht; ohne mich könnt ihr nichts tun. 6 Wenn jemand nicht in mir bleibt, geht es ihm wie der ´unfruchtbaren` Rebe: Er wird weggeworfen und verdorrt. Die verdorrten Reben werden zusammengelesen und ins Feuer geworfen, wo sie verbrennen. 7 Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, könnt ihr bitten, um was ihr wollt: Eure Bitte wird erfüllt werden. 8 Dadurch, dass ihr reiche Frucht tragt und euch als meine Jünger erweist, wird die Herrlichkeit meines Vaters offenbart.«
Jesus spricht davon, dass das eigentliche Wesen seiner Jünger in der Verbindung mit ihm besteht. Und er benutzt das Bild eines Weinstocks und seiner Ranken, der Reben.
Wir hatten früher am Pfarrhaus einen Weinstock. Leider hat er es nicht überstanden, als vor ein paar Jahren die Wand neu verputzt wurde. Aber deswegen habe ich noch gut die Weinranken vor Augen. Es war nur eine einzige Pflanze, aber sie hat mit ihren vielen Ranken und Blättern die ganze Rückwand des Pfarrhauses bedeckt. Das war schön anzusehen, wenn das Haus im Sommer von einem grünen Kleid bedeckt war. Wein treibt unendlich lange Reben, wenn man ihn lässt, und ganz am Ende sitzen dann die Weintrauben mit den saftigen Früchten. Die Verbindung bis zur Wurzel kann man nur sehr mühsam zurückverfolgen, das ist manchmal eine ziemlich lange Strecke, aber am Ende gibt es doch eine Verbindung von den Weintrauben bis zum holzigen Weinstock und zur Wurzel, eben die Reben.
Durch die langen Reben fließt viel Saft. Wein braucht viel Wasser, damit am Ende die saftigen Trauben alle prall gefüllt sind und man sie ernten und Wein daraus pressen kann. Wein ist ja überhaupt eine sehr erfreuliche Pflanze, weil die Weintrauben sowieso schon gut schmecken, und in flüssigem Zustand noch einmal ganz besondere Wirkung entfalten. Deshalb ist der Wein schon immer ein Symbol für Freude, Genuss und Festlichkeit gewesen. »Der Wein erfreut des Menschen Herz« heißt es in den Psalmen.
Jesus nimmt dieses Bild und bezieht es auf sich. Wein ist ein Symbol, ein Zeichen, er erinnert uns an unsere Berufung zur Freude, zur Sorglosigkeit, zu einem beschwingten Leben der Leichtigkeit und Festlichkeit. Der Wein ist eine Erinnerung an etwas Umfassenderes, Größeres, Stärkeres. Uns ist ja klar, dass wir uns mit einer Flasche Wein für 4,95 € nicht die Garantie für Glück und Freude ins Haus holen, und auch teurere Sorten sind keine solche Garantie. Auch da kann der Katzenjammer folgen. Aber der Wein ist die Erinnerung und der Wegweiser zu dieser größeren Wirklichkeit der Freude und des Festes, und Jesus sagt: das bin ich. Bei mir ist die volle Realität zu finden, die Menschen mit mehr oder weniger Erfolg im Wein suchen: die Beschwingtheit und Freude, die Leichtigkeit, die man entwickelt, wenn man das Leben als ein großes Fest anzusehen gelernt hat.
Wenn Jesus sein Verhältnis zu seinen Jüngern in diesem Bild des Weinstocks beschreibt, dann hat das von vornherein den Beiklang der Freude und des Festes. Die Gemeinde ist eine Gemeinschaft der Freude, alles hat eine Beimischung von Hoffnung, Erwartung und Fröhlichkeit. Die Gemeinde ist dafür da, dass das Leben den Glanz zurückbekommt, der ihm bei der Schöpfung verliehen wurde, und der verloren ging, als Menschen sich von Gott abwandten.
Denn Menschen sind nicht als autarke, selbstgenügsame Wesen geschaffen. Niemand ist eine Insel, die ohne Kontakt nach draußen in Isolation existiert. Wir sind eher so etwas wie ein Knoten in einem Netzwerk von Beziehungen. Wir leben von dem Segen, der von Gott her durch die ganze Schöpfung strömt. Als Menschen sich von Gott abwandten, da rissen viele Verbindungen ab, da trocknete dieser breite Segensstrom aus, nicht völlig, sonst könnten wir gar nicht leben, aber doch so sehr, dass wir alle immer das Gefühl haben, dass wir zu wenig haben: zu wenig Leben, zu wenig Glück, zu wenig Zeit, zu wenig Freude.
Und Jesus sagt nun über seine Jünger, dass sie in einer Verbindung zu ihm existieren, durch die dieser Segen wieder ungebremst fließen kann. Der Lebenssaft kommt zu ihnen, so wie die Weintrauben aus der Verbindung mit dem Weinstock ihren Saft und ihr Aroma bekommen.
Verstehen Sie, da steckt eine Vorstellung dahinter, was eigentlich den Kern eines Menschen ausmacht. Man kann den Kern eines Menschen nicht so finden, wie man einen Nusskern findet. Ein Mensch ist keine Nuss, wo man die Schale abmacht, das Äußere, was nicht so ganz zu ihm gehört, und dann kommt man zum Eigentlichen, seinem Wesen, dem Kern, und den nimmt man und sagt: ah, da ist er ja! So funktioniert das nicht. Das merken Sie daran, dass der gleiche Mensch ganz anders sein kann, je nachdem, mit wem er zusammen ist. Deshalb fragen sich z.B. Eltern: wieso benimmt unser Kind sich bei anderen Leuten so viel besser, ist freundlich und höflich, aber bei uns schmeißt es die Sachen in die Ecke und mault nur, wenn wir was fragen.
Eben deshalb, weil für das, was wir sind, Beziehungen eine so große Rolle spielen. Denken Sie daran, wir sind eher wie ein Knoten in einem Netzwerk. Und so sagt Jesus: ihr, meine Jünger, könnt deshalb das neue Leben der Freude verbreiten, weil ihr mit mir verbunden seid, und wenn ihr das nicht mehr seid, dann habt ihr keinen Nachschub mehr, so wie eine Rebe die Trauben nicht mehr mit Saft versorgen kann, wenn sie mit dem anderen Ende keinen Kontakt zum Weinstock hat.
Hier beschreibt Jesus das Geheimnis der Ausstrahlung der Jünger und der Gemeinde: in ihnen ist etwas, was nicht aus ihnen stammt, sondern aus Gott. So wie der Saft für die Trauben nicht in den Reben seinen Ursprung hat. Und er beschreibt das bemerkenswerter Weise mit einem organischen Bild. Es ist nicht diese juristische Vorstellung von Vorschrift und Ausführung: wir haben bestimmte Regeln, und an die müssen wir uns halten, und dann tun wir gute Taten. Sondern da wächst eine Verbindung, da strömt etwas, es ist alles nicht 100 Prozent exakt, aber trotzdem sehr zuverlässig.
Jesus redet davon, dass diese Verbindung seine Worte durch seine Worte hergestellt wird, die in Menschen lebendig werden. Man muss sich daran erinnern, dass es in Jesu Zeit noch keinen Buchdruck gab und auch handgeschriebene Bücher waren etwas Seltenes und Kostbares. Das gibt eine andere Vorstellung davon, was ein Wort ist. Wenn wir heute definieren sollten, was ein Wort ist, dann würden wir wahrscheinlich sagen: hier, diese vier oder dreiundzwanzig Buchstaben auf dem Papier, das ist ein Wort. Damals war ein Wort der Klang einer Stimme. Das ist ein großer Unterschied. Wir können heute ein Buch zuklappen und in den Schrank stellen, und dann klingen die Worte nicht mehr, obwohl sie noch da sind. Bei uns können Worte Staub ansetzen. Damals ging das nicht. Es gab im Alltag keine von Menschen getrennten Worte. Entweder haben Worte geklungen und waren lebendig, sie lebten in einer Gemeinschaft, wo sie immer neu ausgesprochen und weitergegeben wurden, oder sie gerieten in Vergessenheit. Nur sehr selten hat man sie aufgeschrieben, und wenn man gelesen hat, dann hat man laut gelesen, nicht leise, so dass ein Wort immer mit einem Klang verbunden war. Worte waren immer lebendige Worte, mit einem Menschen und seiner Stimme verbunden, anders gab es sie nicht.
Erst wenn wir uns das klar machen, dann können wir ahnen, was Jesus meint, wenn er sagt, dass seine Worte in uns bleiben sollen. Sie sollen in uns leben, sie sollen den Klang seiner Stimme in uns bewahren, als ein lebendiges, klingendes persönliches Wort. Wir haben versucht, aus der Bibel ein Buch mit Lehrsätzen zu machen, die man auslegen und interpretieren kann, und das funktioniert auch ein ganzes Stück weit, weil die Bibel eben auch vernünftig und einheitlich ist und eine innere Logik hat. Aber eigentlich und zuerst sind die Worte Jesu klingende, hörbare Worte, eine persönliche Anrede, ein Klang, der in Menschen Resonanz finden, in ihnen weiterklingen und mit ihnen durch die Welt gehen sollen. Es sind Worte, die wir in uns aufnehmen und uns zu eigen machen sollen, und die doch nicht unsere Worte sind, sondern die Worte Jesus bleiben, durch die er in uns und an uns arbeitet. Diese Worte Jesu, die in uns leben, die bringen in unserem Leben etwas hervor. Und unsere Aufgabe ist es, ihnen dafür freie Bahn zu geben.
Daher kommt dann auch die Verheißung, dass alle unsere Bitten erhört werden: wenn Jesu Worte in uns lebendig sind, dann sind auch unsere Bitten in Übereinstimmung mit Gottes Willen, und er antwortet von seiner Seite aus auf die Bitten, die mit seinem Wunsch nach einer gesegneten Erde zusammenstimmen, weil sie ein Widerhall der lebendigen Worte Jesu sind.
Das ist die Sache, die Jesus mit dem Bild vom Weinstock und den Reben beschreibt. Deshalb ist ein Christentum so trocken und wirkungslos, wenn es aus dem Anwenden von Regeln und Geboten und dem Wiederholen von Wahrheiten besteht. Das ist, wie wenn einer statt Wein zu trinken ein Buch über Weinanbau liest.
Und davon redet Jesus auch, dass es unfruchtbare Reben gibt, die keine Trauben bringen. Und was macht der Winzer damit? Er schneidet sie ab, damit sie den fruchtbaren Reben nicht die Kraft rauben. Menschen, die die Verbindung zu Jesus nicht halten, und die Jesu Worten nicht den Raum und die Aufmerksamkeit geben, die hält Gott nicht endlos fest, sondern er sorgt dafür, dass sie den Kontakt zu seinem neuen Leben bei den Jüngern und Jüngerinnen Jesu irgendwann verlieren. Er kann nicht zulassen, dass die ganze Gemeinde ihre Aufgabe schlecht erfüllt, weil zuviel Kraft in unfruchtbaren Ranken verplempert wird.
Jesus sagt, wir sollen in ihm bleiben. Das heißt, wir sollen dafür sorgen, dass seine Worte in uns sich auch tatsächlich entfalten können. Sie sind ja da, aber sie können ihre Wirkung nicht tun, wenn wir ihnen innerlich und äußerlich keinen Raum geben.
Sie brauchen nämlich einerseits unsere Aufmerksamkeit. Es ist unsere Entscheidung, wohin wir unsere Aufmerksamkeit richten. Es gibt heute so viel Dinge, die laut nach unserer Aufmerksamkeit schreien, dass es schon einen wirklichen Kampf bedeutet, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die leise, sanfte Stimme Jesu richten wollen. Jesus schreit nämlich nicht. Und zusätzlich leben wir dauernd in der Vergangenheit oder in der Zukunft, während Gott und das Leben und das Glück in der Gegenwart auf uns warten. Wir sind immer weniger gewohnt, anderen zuzuhören und denken eher darüber nach, was wir selbst sagen wollen. Ich habe neulich etwas von einem Kinderpsychiater gelesen, der schreibt: ich erlebe inzwischen Kinder, die einen anderen Menschen kaum noch wahrnehmen und auf ihn eingehen können, sie haben das einfach nicht gelernt.
Also, es erfordert einen bewussten Willensakt, der möglichst von Übung gestützt sein sollte, die Aufmerksamkeit auf die Worte Jesu in uns zu richten. Es erfordert eine Entscheidung, dafür Zeit einzusetzen. Zeit, um unter Menschen zu sein, Teil einer Gemeinschaft zu sein, in deren Mund die Worte Jesu lebendig werden. Und es erfordert noch einmal Raum, diesen lebendigen Worten dann auch Raum in der Außenwelt zu geben, wo sie Frucht tragen. Denn alles, was keine Aufmerksamkeit bekommt und alles, was keinen Raum zur Verwirklichung bekommt, wird schwächer und weniger. Wir aber sollen in der Fülle leben. In unserer Mitte soll eine Quelle sein, aus der unaufhörlich Segen und Freude und Leichtigkeit in die Welt strömt.