Jesus im Grenzland
Predigt am 13. September 2009 zu Lukas 17,11-19
11 Auf seinem Weg nach Jerusalem zog Jesus durch das Grenzgebiet von Samarien und Galiläa. 12 Kurz vor einem Dorf kamen ihm zehn Aussätzige entgegen; sie blieben in einigem Abstand stehen 13 und riefen laut: »Jesus, Meister, hab Erbarmen mit uns!« 14 Jesus sah sie an und sagte zu ihnen: »Geht und zeigt euch den Priestern!« Auf dem Weg dorthin wurden sie gesund. 15 Einer von ihnen kam zurück, als er sah, dass er geheilt war. Er pries Gott mit lauter Stimme, 16 warf sich vor Jesu Füßen nieder und dankte ihm. Dieser Mann war ein Samaritaner. 17 Jesus aber sagte: »Sind denn nicht alle zehn gesund geworden? Wo sind die anderen neun? 18 Ist es keinem außer diesem Fremden in den Sinn gekommen, zurückzukehren und Gott die Ehre zu geben?« 19 Dann sagte er zu dem Mann: »Steh auf, du kannst gehen! Dein Glaube hat dich gerettet.«
Jesus ist im Grenzgebiet unterwegs. Zwischen Galiläa und Samarien zieht er entlang, mitten in einem Gemisch von Völkern, Kulturen und Religionen. Da gibt es die Samaritaner, die ein reduziertes Judentum leben, nur mit den 5 Büchern Mose, aber ohne die Propheten. Es hat viel Streit und auch Kämpfe gegeben zwischen Juden und Samaritanern.
Galiläa war aus Jerusalemer Sicht auch so ein fragwürdiges Grenzland. Die griechisch-hellenistischen Einflüsse sind da stark. In Sepphoris, keine sechs Kilometer von Nazareth, gab es ein Theater mit 5000 Plätzen, in dem vermutlich – in Ermangelung anderer Stoffe – griechische Stücke gespielt wurden. Politisch war es ein Durcheinander von verschiedenen Herrschaften, Volksgruppen, Interessen. So ein Mischmasch geht oft mit besonderer Kreativität einher – nichts ist selbstverständlich. Jeder muss sehen, wie er sich sein Lebenspuzzle zusammensetzt. Von Jerusalem aus gesehen war es fragwürdige Provinz. Man könnte es aber genauso auch als weltoffen, pluralistisch und multikulturell bezeichnen.
In diesem Grenzgebiet leben Aussätzige. Aussatz war eine damals unheilbare Krankheit, bei der nach und nach der Körper bei lebendigem Leibe verfault. Wer diese ansteckende Krankheit hatte, wurde aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Er stand außerhalb von allem und gehörte nirgendwo hin. In diesem Niemandsland der Aussätzigen leben auch Juden und Samaritaner zusammen.
Schon in dem Grenzgebiet von Samarien und Galiläa taugen die herkömmlichen Unterscheidungen nicht. Wer ist da Grieche, Jude, Samaritaner? Das mischt sich alles. Bei den Aussätzigen geht es erst recht quer zu allen Einteilungen. Der Aussatz hält sich an keine Landesgrenzen und befällt alle Religionen.
In dieses Grenzgebiet geht Jesus mitten hinein. Er hat keine Angst davor. Vielleicht ist es für ihn ja sogar eine passende Umgebung? Er ist oft dahin gegangen, wo es keine klaren Ordnungen gab: raus aus den Synagogen ans Seeufer, oder in menschenleere Gegenden. Wo die gewohnten Ordnungen ihre Kraft verloren haben, da ist mehr Spielraum für die Menschen, um Neues auszuprobieren. Und da ist dann auch mehr Spielraum für die neue Welt Gottes, die Jesus mitbringt.
Immerhin ist ja bei den Aussätzigen schon eine Gemeinschaft über die Grenzen zwischen Juden und Samaritanern hinweg möglich. Die stehen so weit draußen, außerhalb aller Ordnungen, da werden diese Unterschiede unwichtig. Wichtiger ist, dass sie irgendwie zusammenhalten müssen.
Das ist doch beeindruckend, wie mitten in diesem Elend trennende Unterschiede zwischen den Menschen unwichtig werden. Die sind ein Luxus für Leute, denen es besser geht. Alles Elend und jedes Dunkel der Welt bietet auch die Möglichkeit, dass Menschen zueinander finden, die sonst gar nichts miteinander zu tun hätten.
Denken Sie an die vielen Menschen, die massiv aus ihrem Lebensweg herausgerissen worden sind, durch eine Krankheit oder eine Sucht, die ihr Leben durcheinander gebracht hat, durch einen Schicksalsschlag, der alle Planungen über den Haufen geworfen hat. Vielleicht gehören Sie sogar selbst dazu. Und wie oft erzählen Menschen dann später: da habe ich das Leben mit ganz anderen Augen gesehen. Da habe ich gemerkt, wer meine wahren Freunde sind. Da bin ich nachdenklicher geworden. Da habe ich verstanden, was wirklich zählt.
Und diese Aussätzigen, die völlig aus allem herausgefallen sind, die erleben in diesem Niemandsland die größte Chance von allen, dass nämlich Jesus in ihren Horizont tritt. Sogar bis zu ihnen hat sich herumgesprochen, dass da einer ist, der Heilung verbreitet. Je dringender man Hilfe braucht, um so besser wird auch das Gespür dafür, was einem helfen kann. Und dann stehen sie da in einigem Abstand, wie es Aussätzigen vorgeschrieben ist, und rufen: Hilf uns! Hab Erbarmen mit uns!
Und Jesus macht es anders als sonst: er berührt sie nicht, wie er es in anderen Geschichten mit Aussätzigen tut, sondern er sagt nur: geht zu den Priestern. Die Priester waren damals für die Diagnose des Aussatzes zuständig und hatten dafür auch sinnvolle Diagnosekriterien. Wenn die Priester grünes Licht gaben, dann durften die Kranken wieder zurück in die Welt der Gesunden, es war alles wieder gut.
Aber das ist natürlich auch ein Glaubensakt, sich mit Wunden und Geschwüren auf den Weg zu machen. Nur weil da so einer aus der Ferne ihnen das gesagt hat. Aber sie haben ja nichts mehr zu verlieren, sie gehen los, und beim Gehen merken sie, dass sie geheilt werden.
Das ist ganz häufig so, dass Gottes Wirken und das Handeln der Menschen so heilvoll verquickt sind. Sie sind so ineinander verknäult, dass man gar nicht genau sagen kann: was ist da menschlich und was ist göttlich? Gott ruft, Menschen folgen ihm, und damit schaffen sie einen Raum, in dem er noch mehr wirken kann, und das stärkt wieder den Glauben, und dadurch handeln Menschen entschiedener und schaffen noch mehr Raum für Gottes Handeln, und Gott kann noch deutlicher sein Wort in diese Welt hineinsprechen. Das ist ein dynamischer Prozess, der sich ausweitet und immer größere Kreise zieht – oder jedenfalls ziehen sollte.
Denn irgendwie klemmt da was, und Jesus zeigt, dass er es gemerkt hat. Einer von den 10, als er fühlt, dass er gesund ist, kehrt sofort um und schreit und ruft und preist Gott und freut sich hemmungslos, dass er gesund ist. Und es ist deutlich, dass er kapiert hat, wo seine Heilung herkommt: er preist Gott, er hat hinter dieser Lebenswende den Urheber entdeckt, den lebendigen Gott, und die ganze Welt sieht für ihn anders aus. Nicht nur sein eigenes Leben hat sich drastisch verändert, nein, alles erscheint jetzt in einem anderen Licht, weil er verstanden hat: Gott ist da, und er bewegt diese Welt. Das ändert alles.
Wir haben gestern hier im Ü10 – Gottesdienst auch eine Heilungsgeschichte Jesu als Theaterszene nachgespielt, und da fing die Kranke hinterher richtig zu tanzen an vor Freude, dass sie geheilt war. Ich kann das gar nicht nachmachen, sonst würde ich es Ihnen jetzt zeigen. So muss auch der geheilte Aussätzige geplatzt sein vor Freude, dass er das erlebt hat. Und Jesus bestätigt es ihm und sagt: ja, und es war dein Glaube, von dem alles abhing.
Aber da stellt sich eben noch die andere Frage: wieso kommt nur einer zurück? Wieso hat nur einer wirklich verstanden, dass jetzt alles anders ist? Kaum sind die 10 geheilt, da greifen schon wieder die alten Unterschiede zwischen Juden und Samaritanern, die im Elend bedeutungslos waren. Die einen gehen zurück in einigermaßen geordnete Lebensverhältnisse, in ihre Familien, auch zurück in eine Gedankenwelt, die jetzt wieder in sich stimmig ist. Die Juden haben wahrscheinlich im Tempel die vorgesehenen Dankopfer für ihre Heilung gebracht. Da hatten einen Rahmen, wie man mit so etwas umgeht. Und dadurch war dann alles wieder an seinem Platz, alles richtig eingeordnet in die richtige Schublade, und sie haben diesen Einbruch Gottes in unsere Lebenswelt nicht wirklich realisiert.
Der andere, der Samaritaner, der hat anscheinend kein so klares System, in das er auch ungewöhnliche Ereignisse integrieren kann. Der bleibt auch nach seiner Heilung offen für dies Ungewöhnliche, das ihm passiert ist, es hat ihn viel ungeschützter getroffen, und deshalb hat er wirklich verstanden, was ihm geschehen ist.
Ich habe vorhin von Menschen erzählt, die durch eine Krankheit oder einen Schicksalsschlag aus der Bahn geworfen worden sind. Und für viele ist das oft mit ganz neuen Erfahrungen verbunden, mit neuen Entdeckungen und Begegnungen. Die Welt bekommt ein anderes Gesicht. Aber wenn sie dann diesen Schicksalsschlag überwunden haben, dann machen sie nach kurzer Zeit so weiter wie vorher, vielleicht ein bisschen nachdenklicher, ein wenig echter und etwas freundlicher und gelassener, aber im Prinzip geht es weiter wie vorher.
Und stehen eben auch die 10 Aussätzigen vor der Entscheidung: werden sie jetzt so schnell wie möglich wieder zurückgehen in ihre alten Ordnungen? Werden sie jetzt so schnell wie möglich all diese ungewöhnlichen Erfahrungen vergessen? Oder werden sie von jetzt ab ihr ganzes Leben im Licht dieses Erlebnisses sehen? Anscheinend sind bei den 9, die auf Nimmerwiedersehen verschwunden sind, die Bande von Religion, Familie, Heimat und Normalität so stark, dass sie sofort dieses außergewöhnliche Erlebnis verschlucken. Alles wird sofort in die behäbige Normalität eingeebnet.
Eigentlich kann man das kaum glauben, aber das ist die Erfahrung, die Jesus wieder und wieder machen musste: die Menschen kamen von weither, um sich heilen zu lassen, es war immer wieder ein riesiges Gedränge, aber nur wenige haben danach gefragt, was eigentlich dahinter steckt. Nur wenige haben sich selbst eingelassen auf diesen dynamischen Prozess, durch den Gottes Reich sich über die ganze Erde ausbreitet. Immerhin waren es genug, um die damals bekannte Welt zu erreichen. Aber immer noch fragt Jesus: wo sind die anderen?
Ich glaube, dass die meisten Menschen irgendwann einmal an irgendeinem Punkt etwas erlebt haben mit dem lebendigen Gott. Wenn man lange genug nachfragt, dann erinnern sich die Älteren an Kriegserlebnisse und die Jüngeren an die Geburt eines Kindes, die ein ganz besonderes Ereignis war und noch andere an einen Augenblick der Traurigkeit, in dem sie unerwartet getröstet worden sind, und noch vieles andere. Ja, es gibt bis heute auch Heilungen. Aber bis heute senkt sich dann die erstickende Decke der Normalität darüber, die erstickende Decke der gewohnten Gedanken, und aus vielen Gründen bleiben die Menschen dann nicht bei dem Ungewöhnlichen, was sie da einen Augenblick lang erlebt haben. Es wird eingewalzt auf das gewohnte Niveau.
Es sind oft die Grenzgänger, bei denen das anders ist, diejenigen, die nicht so leicht zurückkönnen in die gewohnten Gleise. Da, wo das Gehäuse des Lebens nicht so fest und sicher ist, da hat Gott größere Chancen. Es geht nicht um Dankbarkeit – Dankbarkeit ist eine ganz verdruckste Kiste, vollgestopft mit Schuldgefühlen und Ansprüchen, wer wem eigentlich dankbarer sein müsste. Für viele kannst du eigentlich nie dankbar genug sein, deshalb gibt es unter Menschen so viel Streit und Ärger wegen Dankbarkeitserwartungen – lassen wir Gott lieber damit in Ruhe. Dankbarkeit funktioniert ja bei den Aussätzigen nicht – wer nicht verstanden hat, dass Gott jetzt ganz neue Möglichkeiten in der Welt schafft, der wird auch nicht durch Dankbarkeit dahin kommen. Diese Geschichte wäre auf dem falschen Gleis, wenn wir jetzt den netten Schluss ziehen würden, dass wir alle dankbarer sein müssten. Das ist nicht der Punkt.
Sondern es geht darum, dass wir es realisieren, wenn uns der lebendige Gott begegnet ist, dass wir zugreifen, wenn sein Leben unser Leben berührt. Es geht darum, dass wir uns in den Prozess hineinziehen lassen, durch den Gott die Erde heilt. Es ist gut für uns, wenn wir von diesem Prozess berührt werden. Es ist viel besser für uns, wenn wir aktiv an diesem Prozess teilnehmen.