Zonen ohne Misstrauen
Predigt am 20. Juni 2010 zu Lukas 15,11-32
1 Es nahten sich Jesus aber allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. 2 Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen. 3 Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach:
11 Ein Mensch hatte zwei Söhne. 12 Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie. 13 Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen. 14 Als er nun all das Seine verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land und er fing an zu darben 15 und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. 16 Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm. 17 Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! 18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. 19 Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner!
20 Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn; er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn. 21 Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße. 22 Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße 23 und bringt das gemästete Kalb und schlachtet’s; lasst uns essen und fröhlich sein! 24 Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.
25 Aber der ältere Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen 26 und rief zu sich einen der Knechte und fragte, was das wäre. 27 Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wieder hat. 28 Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn.
29 Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre. 30 Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet. 31 Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein. 32 Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.
Irgendwas muss in dieser Familie schief gelaufen sein. Der eine Sohn bricht aus und verbrennt in seinem Wunsch nach einem tollen Leben jede Menge Geld; der andere Sohn bleibt brav zu Hause, ist aber irgendwie voller Groll und Missmut, und das kommt erst raus, als der Vater so überraschend großzügig zu dem Ausreißer ist. Beide haben ein schiefes Bild von ihrem Vater: der eine glaubt, dass er in der Nähe des Vaters nicht auf seine Kosten kommt, weil der Vater zu streng zu ihm ist; und der andere glaubt, dass er ungerecht behandelt wird, aber weil der Vater zu seinem Bruder zu großzügig ist.
Das ist eins der bekanntesten Bilder, mit denen Jesus die Menschenwelt beschreibt: eine Familie, in der es katastrophal schief läuft. Eine Familie, in der Misstrauen herrscht. Wir erfahren nicht, wie es dazu gekommen ist. Aber wenn wir im Verlauf der Geschichte sehen, wie der Vater mit dieser Situation umgeht, dann kann es an ihm eigentlich nicht gelegen haben. Hat vielleicht die Mutter das Problem produziert? Oder jemand aus der Dienerschaft? Wir erfahren es nicht. Und das ist auch in Wirklichkeit so: wenn Misstrauen sich erstmal ausgebreitet hat, dann ist es wahnsinnig ansteckend, und man kann schwer sagen, wo es hergekommen ist.
Schon bei Adam und Eva im Paradies war das so. Auf einmal war die Schlange da und steckte sie an mit dem Gedanken: Das Beste, nämlich die Frucht vom Baum der Erkenntnis, gönnt Gott euch nicht. Die will er ganz allein haben. Und da dachten die Menschen: dann müssen wir uns die selbst holen. Und da fing es an, dass die Welt aus dem Gleis gelaufen ist.
Und so misstrauen in dieser Familie, von der Jesus erzählt, die beiden Brüder ihrem Vater und einander. Sie glauben, dass sie zu kurz kommen, wenn sie nicht für sich selbst sorgen. Dieses Misstrauen steckt in jedem von uns: wenn ich nicht zugreife, wenn ich nicht auf meinem Recht bestehe, dann komme ich nicht auf meine Kosten. Irgendwer meint es nicht gut mit mir, und deswegen muss ich das selbst in die Hand nehmen. Denken Sie mal daran, wie tief betroffen Menschen sind, wenn sie das Gefühl haben, dass andere mehr bekommen oder besser behandelt werden.
Und so sagt sich der jüngere Sohn: ich will was vom Leben haben, es ist kurz genug, es ist meine einzige und letzte Gelegenheit, und so düst er mit dem Geld des Vaters durch die Welt, feiert Parties und kauft sich Freunde auf Zeit. Und erst als ihm der Treibstoff ausgeht, also das Geld, da fängt er an nachzudenken. Erst als er sein Leben gegen die Wand gefahren hat und heulend in einem stinkenden Schweinestall sitzt, mit knurrendem Magen, da merkt er, dass die Welt nach Regeln funktioniert, die man vielleicht eine Zeit lang außer Kraft setzen kann, aber nicht auf Dauer. Auf einmal ist er da angekommen, wo er nie hin wollte, nämlich auf dem Boden der Realität. Und das Schöne ist, dass genau da die Heilung beginnt. Ihm ist das Schlimmste passiert, was ihm passieren konnte, das, was er immer vermeiden wollte. Ohne Geld sein, Hunger haben, Dreckarbeit machen müssen, keiner, der ihn beachtet, keiner, der ihm bestätigt, wie toll er ist. Aber da fängt sein neues Leben an. Endlich stellt er sich der Realität. Aber die ist viel besser, als er je geahnt hat. Jetzt ist sein Herz so aufgeweicht, dass er seinem Vater tatsächlich begegnen kann, dass er realisieren kann: der mag mich ja wirklich.
Vielleicht haben Sie das mal erlebt: wenn es einem so richtig schlecht geht, wenn man angefressen ist von Schwierigkeiten und Sorgen, dann kommt irgendwann der Punkt, wo man so richtig dankbar ist auch für ganz kleine Freundlichkeiten. Da tut einem schon ein freundlicher Blick wohl, den man in besseren Zeiten kaum wahrgenommen hätte. Und so steht der Sohn mit leeren Händen da: sein Erbrecht, auf das er sich immer berufen hat, hat er ja schon bekommen, er realisiert, dass er überhaupt kein Recht mehr auf irgendetwas hat. Und da merkt er zum ersten Mal, wie es ist, wenn einer einen mag, einfach so.
Verstehen Sie: Liebe fängt erst da an, wo keiner verpflichtet ist, gut zu uns zu sein. Noch nicht mal mit einer korrekten Entschuldigung hat man ein Recht auf Liebe. Es gibt kein Recht auf Liebe. Und was man sich erkaufen oder erpressen kann, das ist ja keine Liebe. Und erst jetzt, als der Jungen keinen Euro mehr hat, um sich Scheinliebe zu erkaufen, und keinen Rechtstitel mehr, um sie einzufordern, da gibt es die Chance, dass er wirkliche Liebe kennen lernt.
Und nun sagt diese Geschichte ja nicht nur etwas über den Zustand der Menschheit, sondern auch darüber, wie Gott mit uns umgeht. Über die Art, wie Gott uns liebt. In dem Gleichnis steht der Vater ja für Gott. Und was macht er? Er lässt dem Sohn seinen Willen. Schweigend zahlt er ihm das Geld aus, schweigend lässt er ihn gehen. Er weiß vermutlich, dass das nicht gut gehen kann, er riskiert es, dass er sein Kind am Ende vielleicht nur im Sarg zurückbekommt. Aber er weiß auch, dass es nicht anders geht.
Gott hat keine Freude daran, Menschen auf dem Boden der Realität aufprallen zu lassen, aber er liebt uns viel zu sehr, um uns das zu ersparen. Wir denken: da müsste doch irgendeine Sicherung eingebaut sein, aber die ist nicht da. Die einzige Sicherung ist die Erinnerung an seine Heimat, die der Sohn in seinem Herzen trägt, und die auf den Moment wartet, wo sie vielleicht wieder eine Chance hat, gehört zu werden.
Wir alle tragen tief verborgen in uns eine Erinnerung an eine Heimat, eine Ahnung von dem Gott, der uns ins Leben gerufen hat, eine verschüttete Sehnsucht danach, heil zu sein und versöhnt mit unserem Ursprung. Aber dann kommen wir in diese Welt hinein, und es gibt so viele Gelegenheiten, vorsichtig zu werden, schlechte Erfahrungen zu machen, vom Virus des Misstrauens angesteckt zu werden, und wir legen uns Schutzschichten zu, weil wir nicht schon wieder verletzt werden wollen. Verletzte Menschen verletzen wiederum andere, und so geht das Spiel immer weiter.
Und so wächst eine ganze Kultur, die von Misstrauen verseucht ist. 90 Prozent der Bürokratie, über die wir alle stöhnen, ist Misstrauensmanagement. Da wird überwacht, dass sich bloß keiner mehr unter den Nagel reißt, als ihm zusteht. Am Ende misstraut jeder dem andren. Ein Berater, der in verfahrenen Situationen in Betriebe geholt wird, sagt: mein Job ist es, mit den Betroffenen Regeln auszuhandeln, die es ihnen erlauben, sich so zu verhalten, als ob sie sich gegenseitig vertrauen würden. Wo sich erstmal das Klima des Misstrauens eingeschlichen hat, da gedeiht nichts mehr, da gibt es ganz viele Reibungsverluste, da gehen Menschen regelrecht kaputt. Und die Ahnung davon, dass die Welt gut geschaffen ist, und dass der Schöpfer ein zuverlässiger Freund des Lebens und der Menschen ist, wird zugemüllt unter immer mächtigeren Schichten von Misstrauensablagerungen.
Und man kann ja noch nicht einmal sagen: wirf deine Vorsicht über Bord und vertrau einfach! Das ist kein guter Rat. Misstrauen ist ja durchaus berechtigt. Verlass dich mal auf das Versprechen einer Hotline, wenn die sagen: Kein Problem, ihr Telefonanschluss wird nächste Woche gelegt! Wir überweisen das Geld sofort! Morgen kommt der Techniker vorbei! Jesus selbst hat sich vor manchen Leuten gehütet, weil er die Menschen kannte und wusste, was ihre Gedanken waren. Die Welt ist kein Ponyhof. Wenn man sich über jede Lüge aufregen würde, da käme man von der Palme gar nicht mehr runter. Jesus hat sich dauernd in vermintem Gelände bewegt, wo überall Fallen lauerten.
Auch diese Geschichte hat er ja erzählt, um eine unübersichtliche, vergiftete Situation zu klären. Er lässt sich von Zöllnern einladen, also von raffgierigen Typen, die mit ihrer Gier Existenzen zerstören und gewissenlos andere über den Tisch ziehen. Leute, die heute Bankenkrisen vom Zaun brechen. Denen widmet er seine Zeit und Aufmerksamkeit. Und dann stehen da andere und sagen: mit solchen Leuten gibst du dich ab! Weißt du nicht, was die jeden Tag anrichten? Bist du blind?
Natürlich kennt Jesus die genau. Aber er geht in vermintes Gelände aller Art, um die Sprengsätze zu entschärfen und Vertrauen neu aufzubauen. In der Geschichte vom verlorenen Sohn beschreibt er sich selbst und das, was er im Auftrag Gottes tut: er arbeitet daran, Menschen herauszuholen aus dieser Verblendung, wo jeder glaubt, er sei verraten und verkauft und müsse sich auf eigene Faust seinen Platz an der Sonne sichern. Er arbeitet am Kern des Misstrauens, dem Misstrauen gegen Gott. Das ist nämlich die Grundvermutung hinter aller Skepsis: dass Gott nicht auf unserer Seite steht, dass er uns nichts gönnt.
Ich habe gerade von einem Kollegen so eine nette Geschichte gehört, wie er vor einer Taufe mit den Eltern spricht. Und die sagen: wir wollen, dass unser Kind evangelisch getauft wird, wir haben uns neulich eine katholische Taufe angesehen, das hat uns gar nicht gefallen, da ging es dauernd um Gott, bei den Evangelischen ist das zum Glück ja nicht so, und wir möchten, dass unser Kind im Mittelpunkt steht und nicht Gott.
Hm. Ein tolles Lob für uns Evangelische.
Aber es geht mir nicht um Konfessionen, sondern um diese argwöhnische Vermutung: Gott ist ein Konkurrent, und wenn er zu wichtig wird, dann fallen wir Menschen hinten runter. Jesus will mit der Geschichte von dem Vater, der seinem Sohn entgegenläuft und ihm um den Hals fällt, zeigen: Gott geht es tatsächlich um uns. Er feiert ein Fest, weil einer zurückkommt und jetzt wirklich das Leben gefunden hat. Gott ist tatsächlich an unserer Seite. Er ist nicht interessiert an den Entschuldigungen und Reuebekundungen, die sich der Sohn schon zurechtgelegt hat. All diese ganzen Dinger, um die sich Menschen zanken, ob man sich schon ausreichend entschuldigt hat und ob das demütig genug war und so weiter, damit kann er nichts anfangen. Er schaut nach vorn und nicht nach hinten, in eine Zukunft voller Vertrauen und Freude, die er mit seinen Menschen gestalten will. Und da sind die Banker eingeladen und die Besserwisser und wir anständigen Menschen sowieso.
Jesus hat mitten zwischen Gier, Polemik und Unrecht Zonen des Vertrauens geschaffen, wo Menschen wieder lernen können, wie sich Leben anfühlt, das nicht von Neid und Misstrauen geprägt ist. Orte, wo Menschen aufblühen können. Kostbare Räume, in denen wir uns neu verankern können in der Güte des Schöpfers, von der wir auch in einer ausgebeuteten und missbrauchten Welt immer noch leben.
Zum Schluss, wie könnte es anders sein, eine Erinnerung an Dietrich Bonhoeffer. Mitten in der Nazizeit, wo jeder ein Informant der Gestapo sein konnte, schreibt er einem Freund so ungefähr: wir Leute aus dem Widerstand gegen Hitler haben lernen müssen, einerseits misstrauisch zu sein und uns vor vertrauensseligen Worten zu hüten. Aber andererseits haben wir gelernt, uns den verlässlichen Freunden ganz anzuvertrauen, uns denen ganz in die Hände zu geben, und wir haben dabei die Erfahrung eines kostbaren Vertrauens gemacht. Und der Schlimmste von allen ist, wer Misstrauen sät und dieses kostbare Vertrauen zerstört.
Kostbares Vertrauen. Nicht nur in Zeiten einer Terrorherrschaft ist das kostbar. Der jüngere Sohn in der Geschichte musste erst hart auf der Realität aufschlagen bevor er verstehen konnte, wie lebenswichtig das ist. Wer angefangen hat zu glauben, dass Gott tatsächlich auf unserer Seite stehen könnte, dass er wirklich unser bester Verbündeter ist, der muss nicht mehr versuchen, so viel wie möglich aus dem Leben herauszuholen. Er muss sich auch nicht über das Unrecht empören. Er kann statt dessen damit anfangen, vertrauenswürdiger Teil in einer Zone des Vertrauens zu sein. Teil des Aufbruchs Gottes zu sein, der nicht ruhen wird, bis die ganze Welt wie der verlorenen Sohn zurückgekehrt ist zum verlorenen Ursprung.