Ein großes Volk voller Hoffnung
Predigt am 19. September 2010 zu Römer 4,16-25
16 Abraham ist unser aller Vater 17 – wie geschrieben steht (1.Mose 17,5): »Ich habe dich gesetzt zum Vater vieler Völker« – vor Gott, dem er geglaubt hat, der die Toten lebendig macht und ruft das, was nicht ist, dass es sei. 18 Er hat geglaubt auf Hoffnung, wo nichts zu hoffen war, dass er der Vater vieler Völker werde, wie zu ihm gesagt ist (1.Mose 15,5): »So zahlreich sollen deine Nachkommen sein.« 19 Und er wurde nicht schwach im Glauben, als er auf seinen eigenen Leib sah, der schon erstorben war, weil er fast hundertjährig war, und auf den erstorbenen Leib der Sara. 20 Denn er zweifelte nicht an der Verheißung Gottes durch Unglauben, sondern wurde stark im Glauben und gab Gott die Ehre 21 und wusste aufs allergewisseste: Was Gott verheißt, das kann er auch tun. 22 Darum ist es ihm auch »zur Gerechtigkeit gerechnet worden« (1.Mose 15,6). 23 Dass es ihm zugerechnet worden ist, ist aber nicht allein um seinetwillen geschrieben, 24 sondern auch um unsertwillen, denen es zugerechnet werden soll, wenn wir glauben an den, der unsern Herrn Jesus auferweckt hat von den Toten, 25 welcher ist um unsrer Sünden willen dahingegeben und um unsrer Rechtfertigung willen auferweckt.
Manchmal helfen uns sehr alte Geschichten, um eine Linie zu finden für die Gegenwart, in der wir leben. Der Apostel Paulus orientierte sich vor 2000 Jahren an einer Geschichte, die schon damals weit zurücklag. Es ist die Geschichte von Abraham, dem Stammvater des jüdischen Volkes. Sie steht im ersten Buch Mose, gleich am Anfang der Bibel, und auch in diesem Buch ziemlich weit vorn, gleich nach den Geschichten von der Schöpfung, der Sintflut und dem Turm zu Babel. Als die Welt geschaffen war und sich dann bald die ersten Menschen von Gott abgewandt hatten, als der erste Mord geschehen war und sich die ersten Gewaltherrscher gezeigt hatten, als schließlich die Menschheit begann, in Babylon die Stadt und damit die Zivilisation zu erfinden, da überlegte sich Gott, wie er darauf reagieren sollte, dass auf der Erde alles aus dem Ruder lief. Und seine Antwort war: er sprach zu Abraham. Das steht im 12. Kapitel des 1. Buches Mose. Gott sagte zu Abraham:
Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. 2 Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. 3 Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.
Das heißt, Gott ändert seine Strategie: Er versucht jetzt nicht mehr, die ganze Menschheit auf einmal anzusprechen, sondern er sucht sich einen Mann und seine Familie und richtet auf die seine ganze Aufmerksamkeit. Er will aus ihm ein großes Volk machen und will dadurch die ganze Menschheit erreichen.
Und das Tolle ist: Abraham macht mit. Das ist überhaupt nicht selbstverständlich. Er könnte auch sagen: das ist alles unrealistisch. Mein Netzwerk verlassen, in dem ich zu Hause bin, all meine Verwandten und Bekannten, in irgendein fremdes Land ziehen, in dem ich noch nie gewesen bin. Und dann noch: zu einem großen Volk werden. Wo meine Frau und ich sowieso schon Probleme haben, Kinder zu kriegen – bisher hat das noch nicht geklappt. Trotzdem – Abraham macht sich auf den Weg, und schließlich wohnt er im Land Israel. Aber Kinder hat er immer noch nicht.
Und dann schickt Gott ihn in einer Nacht nach draußen, raus aus dem Zelt unter den Sternenhimmel, und er sagt ihm: kannst du die Sterne zählen? Das kann kein Mensch, bis heute nicht, es sind einfach zu viele. Aber so zahlreich sollen einmal deine Nachkommen sein. Und dann kommt der entscheidende Satz: »Abraham glaubte dem HERRN und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit.« Das heißt, Abraham ließ sich ein auf die völlig unsichere Perspektive, die Gott ihm zeigte. Abraham rechnete damit, dass Gott das Unmögliche tun kann. Und in Gottes Augen wurde er dadurch zu einem Gerechten. Abraham hat auch viele Fehler gemacht, und das wird in der Bibel auch erzählt. Aber viel wichtiger war in Gottes Augen, dass er sich auf den Weg eingelassen hat, den Gott mit ihm gehen wollte, dass er Gottes Ruf vertraute, und entsprechend handelte.
Abraham vertraute darauf, dass Gott ihm das neue Land geben würde. Aber das reichte nicht, er musste auch losziehen, um es in Besitz zu nehmen. Abraham vertraute darauf, dass Gott ihm auch im Alter noch einen Sohn geben würde – und auch der kam nicht von allein, sondern auch dafür mussten Abraham und Sarah ja etwas tun; was man eben tun muss, wenn man ein Kind haben will. Aber da waren sie schon 90 und 100 Jahre alt. Und trotzdem bekamen sie dann endlich den seit Jahrzehnten angekündigten Sohn. Gott will mit uns zusammen etwas Unglaubliches erreichen; aber das geht nur, wenn wir auch mitmachen wollen.
Und beinahe zweitausend Jahre später nimmt Paulus diese alte Geschichte und sagt: schaut her, das ist Glaube. Diese Grundhaltung: ich rechne fest damit, dass Gott auch das Unmögliche erreichen kann, und ich mache mit. Ich verschließe die Augen nicht vor der Realität, aber ich verlasse mich drauf, dass Gott nicht an die Grenzen unserer Realität gebunden ist. Ich sehe die Realität, dass Menschen mit 100 Jahren normalerweise keine Kinder mehr kriegen, aber ich traue der Wirklichkeit Gottes mehr als unserer sogenannten Realität.
Und dann zieht Paulus eine Linie bis hin zu Jesus, der Tote auferweckt und den Gott selbst aus dem Tod auferweckt hat. Bei Abraham und bei Jesus geht es darum, dass neues Leben entsteht gegen alle Wahrscheinlichkeit. Abraham und Sara waren mit 90 und 100 Jahren sozusagen schon tot im Blick auf die Möglichkeit von Kindern. Sie hatten erstorbene Leiber, sagt Paulus. Lazarus lag schon vier Tage im Grab. Und Jesus selbst wurde zu Tode gequält am Kreuz, seine Freunde und seine Feinde waren überzeugt, dass seine Geschichte zu Ende war.
Aber jedes Mal hat Gott sich als der Stärkere erwiesen. Jedes Mal hat er den Tod überwunden und neues Leben entstehen lassen. Und jedes Mal ist daraus ein neues Volk entstanden, das Gott braucht, um die Welt wieder ins Lot zu bringen.
Gott macht also nicht irgendwelche Zauberkunststückchen, um zu zeigen, was er alles kann. Er zaubert nicht schnell mal ein Kaninchen aus dem Hut, um uns zu unterhalten. Sondern er überwindet den Tod. Er schafft neues Leben. Er ruft ein neues Volk ins Leben, um die Welt zu befreien aus der Sklaverei unter der Todesmacht.
Glauben heißt: dieses todüberwindende Leben Gottes als Grundlage für das eigene Leben nehmen. Mit Gottes Möglichkeiten rechnen. Sich nicht vom Tod einschüchtern lassen. Teil von Gottes Bewegung sein. Gott hält sich nicht an die Spielregeln, die unter Menschen »Realität« genannt werden. Gottes Wirklichkeit ist stärker, größer, lebendiger und erfreulicher. Wer hätte damit gerechnet, dass der 100 jährige Abraham noch Kinder bekommt? Wer hätte damit gerechnet, dass der tote Jesus noch eine Zukunft hat?
Aber beide, Abraham und Jesus haben sich auf Gottes Lebensmacht verlassen, und sind nicht enttäuscht worden. Und wir, sagt Paulus, wir tun jetzt das Gleiche, wir glauben auch an diesen Gott, der den Tod durch Leben überwindet. Und so wie Abraham nicht fehlerlos war, so sind wir auch nicht fehlerlos, aber das ist in Gottes Augen nicht das Entscheidende. Wenn wir Menschen sind, die sich von der Realität des Todes lösen lassen und an den Gott glauben, der die Toten lebendig macht und aus dem Nichts Neues schafft – wenn wir Menschen werden, die im entscheidenden Moment mit dieser Lebensmacht Gottes gehen, dann sind wir für Gott gerecht, er bestätigt uns, wir werden nicht blamiert dastehen.
Paulus zieht eine Linie über fast 2000 Jahre und sagt: seit Abraham ist das entscheidende nicht, dass du in jedem Punkt die richtige Entscheidung fällst und alles richtig machst. Die entscheidende Frage ist, ob du es schaffst, dich nicht von dem beeindrucken zu lassen, was sich Realität nennt, sondern ob dein Herz sich an die Lebensmöglichkeiten Gottes bindet. Das ist für Gott der Dreh- und Angelpunkt.
Und heute, noch einmal 2000 Jahre später, ist das immer noch die entscheidende Frage: willst du mit der Realität des Lebens rechnen? Mir ist das jetzt wieder so plastisch vor Augen gewesen, als wir hier über das Verhältnis von Menschen und Tieren geredet haben. Natürlich ging es dann irgendwann auch um die Frage der Massenviehhaltung, und an dem Punkt steht dann irgendwann immer einer auf und sagt: das ist ja alles schön und sympathisch, was Sie da sagen über die Würde der Tiere usw., aber ich muss doch auch einmal an die Realität erinnern. Und dann kommt etwas darüber, weshalb man sich dem Markt anpassen muss, weshalb es nicht anders geht und dass man mit Traumtänzerei nicht weiterkommt.
Und mich hat das erinnert an Zeiten, die lange zurückliegen, als überall in Deutschland Atomkraftwerke gebaut wurden und Leute sagten: das ist ja alles gut und schön, wenn ihr dagegen seid, aber man muss doch auch die Realität sehen. Ohne Atomstrom gehen wir wirtschaftlich den Bach runter, wollt ihr zurück in die Steinzeit?
Aber dann sind tatsächlich einige Leute hingegangen und haben gebastelt und getüftelt und haben Windräder gebaut, und haben an Sonnenkollektoren geschraubt, und irgendwann, auch nach vielen Rückschlägen, wurde daraus ein ganzer Wirtschaftszweig, der inzwischen Hunderttausende von Arbeitsplätzen geschaffen hat, und heute ist es überhaupt nicht mehr umstritten, dass wir ohne Atomstrom auskommen, die Frage ist nur noch, ab wann. Und als Traumtänzer entpuppen sich immer mehr diejenigen, die glauben, man könnte zehntausende Tonnen von tödlich strahlendem Müll für Hunderttausende von Jahren sicher verwahren.
Verstehen Sie, auch über Jahrtausende bleibt dieses Problem konstant: die Todesmächte haben immer die scheinbare Realität für sich. Die können immer darauf verweisen, dass die Welt nun mal so ist, wie sie ist, dass die Macht aus den Gewehren kommt, und dass keiner gegen den Markt ankommt. Und wer das Leben liebt, dem kann man immer sagen: du willst doch auch keine kalte Stube haben, und ihr esst doch auch alle das billige Fleisch, und es gibt keine Alternative.
Aber das Gute ist, dass es in Gottes Augen nicht darauf ankommt, ob wir uns immer korrekt ernährt haben oder wieviel wir auch zum CO² – Ausstoß beigetragen haben, so wichtig das auch ist, sondern es kommt darauf an, ob wir mit unserem Herzen an der Realität Gottes hängen. Ob wir seinem Leben vertrauen. Dann wird er auch mit unseren Fehlern und unserem Versagen fertig, wie er schon mit Abrahams Fehlern fertig geworden ist.
Nun sind diese Fragen von Energieversorgung und Massenviehhaltung jetzt vielleicht keine besonders frommen Themen. Aber die Frage, ob man sich mit 100 Jahren noch einmal aufrafft, miteinander zu schlafen, um ein Kind zu zeugen, ist ja auch nicht so besonders fromm. Und vor allem will Gott ja gar nicht mit irgendeiner frommen Sonderwelt zu tun haben, sondern mit der einen Welt, die er geschaffen und uns anvertraut hat, seiner Schöpfung, und er hat Abraham berufen, weil diese Welt nur wieder ins Lot zu bringen ist, wenn es Leute gibt, die sich eine ganz andere Realität wenigstens vorstellen können, die Wirklichkeit Gottes, die immer noch unser Leben trägt und inspiriert.
Wir haben uns in der modernen Neuzeit daran gewöhnt, dass Gott nur für die Innerlichkeit zuständig ist, und die Gestaltung der Außenwelt jenseits von Haus und Familie haben wir anderen Kräften überlassen. Dadurch ist der Glaube schwach geworden, weil er nicht richtig trainiert worden ist. Und jetzt funktioniert er noch nicht mal mehr in der Innerlichkeit richtig.
Aber Gott wollte ein Volk haben, das geübt darin ist, mit dem Unsichtbaren zu rechnen, mit der Realität, die Gott erst mit uns zusammen ins Leben rufen wird. Ein Volk mit der Fantasie der Liebe, Menschen, die alternativ denken können, die sich nicht einschüchtern lassen, wenn wieder mal einer aufsteht und sagt: »Das ist doch unrealistisch – wollt ihr zurück in die Steinzeit?« Wir müssen nicht fehlerlos sein, wir werden es auch gar nicht sein, aber Gott sagt Ja zu uns, wenn wir glauben – an ihn und seine Möglichkeiten, wenn wir offene Fenster haben für seine neue Welt, die schon begonnen hat, wenn wir uns aufmachen ins verheißene Land, wenn wir mit Jesus aufbrechen, wenn wir uns vom Tod und seinen Propagandisten nicht wirklich beeindrucken lassen.
Abraham hat gehofft, wo nichts zu hoffen war. Die Auferstehung Jesu hat diese Hoffnung endgültig bestätigt. Und wir sind berufen als das große Volk, das Gott schon vor sich sah, als er erst mit dem einen Abraham sprach. Ein großes Volk, das auch da von der Hoffnung lebt, wo es nach dem Urteil der »Realisten« nichts zu hoffen gibt, und das deshalb von Gott gerecht gesprochen wird.