Kleine Zeiten voller Hoffnung
Predigt am 5. Dezember 2010 (2. Advent) zu Jesaja 63,15 – 64,3
63,15 Blick vom Himmel herab und sieh her von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist dein leidenschaftlicher Eifer und deine Macht, dein großes Mitleid und dein Erbarmen? Halte dich nicht von uns fern! 16 Du bist doch unser Vater; denn Abraham weiß nichts von uns, Israel will uns nicht kennen. Du, Herr, bist unser Vater, «Unser Erlöser von jeher» wirst du genannt. 17 Warum lässt du uns, Herr, von deinen Wegen abirren und machst unser Herz hart, sodass wir dich nicht mehr fürchten? Kehre zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Eigentum sind. 18 Erst vor kurzem haben unsere Feinde dein heiliges Volk vertrieben; dein Heiligtum haben sie zertreten. 19 Uns geht es, als wärest du nie unser Herrscher gewesen, als wären wir nicht nach deinem Namen benannt. Reiß doch den Himmel auf und komm herab, sodass die Berge zittern vor dir. 64 1 Komm wie ein Feuer, das Reisig entzündet, wie ein Feuer, das Wasser zum Sieden bringt. Mach deinen Feinden deinen Namen bekannt, sodass die Völker zittern vor dir, 2 wenn du schreckliche und nie erwartete Taten vollbringst. [Komm herab, sodass die Berge zittern vor dir.] 3 Seit Menschengedenken hat man noch nie vernommen, kein Ohr hat gehört, kein Auge gesehen, dass es einen Gott gibt außer dir, der denen Gutes tut, die auf ihn hoffen.
Man hat den Eindruck: wenn es um Gott geht, wiederholt sich nichts so beständig wie der Satz: Früher war alles besser! Ja, früher, als die Menschen noch mehr geglaubt haben oder vielleicht auch nur: leichtgläubiger waren; früher, als die Weihnachtsbäume noch viel grüner waren und nicht so schief gewachsen wie heute; früher, als die Augen der Kinder noch so richtig leuchteten zum Weihnachtsfest; früher, als die Menschen noch in Scharen zur Kirche kamen; früher, als es viel mehr Gemeinschaft gab, funktionierende Dorfgemeinschaften, heile Familien, und die Kirche mitten im Dorf.
Und dann liest oder hört man so einen Text und merkt, dass sie auch schon vor 2500 Jahren gesagt haben: ja, wenn es doch wieder so wie früher wäre! Wenn es doch wieder so wäre wie in den großen Zeiten, als der Tempel noch stand, als die Menschen von überallher kamen, um in Jerusalem Gottes Feste zu feiern, als es ganz deutlich war: du bist unser Gott und wir sind dein Volk. Oder die großen Zeiten, als alles begann, als Abraham aufbrach in das verheißene Land, als Jakob mit Gott gekämpft hat und aus seinen Söhnen das Volk Israel wurde – all das liegt so weit zurück, das es schon fast nicht mehr wahr ist.
So ist das mit den großen Zeiten: die liegen immer schon so weit zurück, dass wir nur noch das Große und Begeisternde sehen und nicht die Mühe, sie sie auch damals hatten, den Sand, der auch damals im Getriebe steckte, die Enge und Bedrücktheit, die auch damals schon Menschen belastete. All diese kleinen Momente der Banalität und der täglichen Mühsal, die werden im Rückblick überstrahlt von ein paar entscheidenden Momenten, wo etwas gelungen ist, wo Vertrauen bestätigt worden ist, wo Menschen und Gott für eine kurze Zeit wirklich Hand in Hand gegangen sind.
Die wenigsten Menschen leben in großen Zeiten, und wenn doch, dann erleben sie es meistens gar nicht so, und erst im Rückblick enthüllt sich, dass da etwas Großes und Entscheidendes passiert ist.
Und auch die Zeit, als diese Bibelverse aufgeschrieben worden sind, das ist eine kümmerliche und dürftige Zeit gewesen. Die großen Tage Jerusalems lagen weit zurück: die Zeit, in der die Krieger Davids von Sieg zu Sieg gingen, die Zeit, als Menschen von weither kamen, um den Glanz Salomos zu erleben; die prächtigen Gottesdienste im Tempel mit den unzähligen Priestern und Sängern. Jetzt war die Stadt erobert und der Tempel zerstört, das Volk desorientiert, die Stimmen der Priester und Sänger verstummt.
Was noch geblieben war, das war so eine Art von Klageprozessionen, wo sie in den Trümmern des zerstörten Tempels standen und Gott ihre Not sagten. Aber der Himmel blieb verschlossen, es war, als ob ihre Worte von den tiefhängenden Wolken verschluckt würden.
Und wahrscheinlich hat keiner von ihnen damals geahnt, dass ihre Worte eines Tages in der Bibel stehen würden und noch nach 2500 Jahren gehört werden und bedacht werden. Warum ist das so gekommen? Weil Gott mitten in diesen dürftigen, mageren Zeiten etwas ganz Neues und Großes vorbereitet hat. In Wirklichkeit war das nicht die Zeit des wehmütigen Zurückschauens auf etwas Vergangenes, sondern es war die Zeit der Vorbereitung auf etwas noch viel Größeres, auf Jesus. Am Ende so einer langen Periode von gewöhnlichen Jahren ist er geboren worden. Und deshalb müssen wir uns nicht grämen, wenn wir wie viele andere nur die Nachgeborenen sind, die die großen Zeiten nur vom Hörensagen kennen. Über den ganz normalen Zeiten voller Mühe, voller Sorge und Desorientierung liegt eine große Hoffnung: es sind die Zeiten, in denen Gott im Verborgenen etwas vorbereitet. Es sind die Zeiten, in denen er uns die alten Dinge wegnimmt, damit er uns Neues und Größeres geben kann. Es sind die Zeiten, wo wir trotz allem dabei sein können.
Und dieses Neue und Größere beginnt verrückter Weise in der Klage der Menschen, in ihrer Trauer um ihren Verlust: wir sind so verirrt, so desorientiert, wir sind wie Leute geworden, mit denen du nie etwas zu tun hattest. Unsere ganze große Vergangenheit ist wie durchgestrichen und abgeschnitten. Aber aus dieser Trauer erhebt sich die Sehnsucht: Komm, Gott! Zerreiß den Himmel, dass er uns nicht mehr von dir trennt, brich hindurch durch die ganze Barriere aus Schuld und Vorwürfen und Unglück, komm herab und zünde dein Feuer an, tu das, was keiner erwartet hat, lass die Menschen von neuem deine Realität merken, sei wieder unser Gott wie in den alten Tagen, ja, sei mehr als das!
Es ist diese verrückte Hoffnung, die der kostbare Ertrag solcher mühsamer Zeiten ist. Wenn Menschen trotz all der Dürftigkeit festhalten an der Hoffnung und an der Sehnsucht und sich nicht mit billigem Trost zufrieden geben, das bringt Gott in Bewegung. Damit kann er etwas machen. Das ist in seinen Augen möglicherweise hoffnungsvoller als die Begeisterung der Menschen über die Pracht eines großartigen Tempels, die immer in Gefahr steht, dass man die Pracht vergöttert und Gott vergisst.
Wer in dürftigen Zeiten gelernt hat, trotzdem an Gott festzuhalten, dem kann Gott auch die großen Zeiten anvertrauen. Wer sich seiner eigenen Armut bewusst geworden ist, wer so deutlich erlebt hat, dass Gott ihm fehlt, wer so deutlich gespürt hat, dass wir ohne Gott verloren sind wie ein Fisch im Sand und eine Möwe mit veröltem Gefieder, bei dem ist die Gefahr nicht so groß, dass er übermütig wird, wenn Gott tatsächlich wieder die Welt bewegt. Wer unter Gottes Abwesenheit wirklich gelitten hat, der wird sich nicht so schnell ans Weihnachtsgeschäft verlieren und Gott vergessen.
Es gibt auch aus unserer Zeit solche Texte, in denen sich das Wissen um unsere Armut und unsere Dürftigkeit mischt mit einer ganz beharrlichen Hoffnung, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist und dass wir nicht in einer Zeit des Niedergangs leben, sondern in einer Zeit der verborgenen Vorbereitung, in der Gott die Grundlagen für einen Neubeginn legt.
1944, im letzten Jahr des 2. Weltkrieges, zwischen Bombenangriffen und Durchhaltepropaganda, hat Dietrich Bonhoeffer solche Worte geschrieben, die voll von verborgener Hoffnung sind. Er saß damals im Gestapogefängnis, er hatte nur noch ein Jahr zu leben, dann haben sie ihn noch kurz vor Kriegsende umgebracht. Aber das war die Zeit, wo er seine klarsten und hellsichtigsten Gedanken hatte. Es war die Zeit, in der Texte entstanden sind wie das Lied »Von guten Mächten wunderbar geborgen«, das bis heute immer noch bekannter wird. In dieser Zeit hat er sich auch Rechenschaft gegeben über den Zustand des Christentums.
Man muss daran denken, dass Bonhoeffer noch vor dem ersten Weltkrieg geboren ist und die Zeit erlebt hat, an die wir heute denken, wenn von der »guten alten Zeit« die Rede ist, die Zeit der Petroleumlampen, in der die Oldtimer-Autos modern waren und der Kaiser regierte; die Zeit, in der die Gesellschaft selbstverständlich christlich geprägt schien. Und dann sitzt er vierzig Jahre später im Gefängnis, erlebt ohne Bunker Bombenangriffe, bei denen das ganze Gebäude erschüttert wird, tröstet die Mitgefangenen, wird auch für die Wärter eine Autorität, zu der sie kommen, wenn sie Rat brauchen, kämpft in Gestapo-Verhören um sein Leben und schreibt Freunden geheime Briefe, die auf abenteuerlichen Wegen nach draußen geschmuggelt werden. Und unter diesen Texten finden sich auch die folgenden Zeilen über das Verstummen der christlichen Tradition, mit der er aufgewachsen ist:
»… auch wir selbst sind wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen. … In den überlieferten Worten und Handlungen ahnen wir etwas ganz Neues und Umwälzendes, ohne es noch fassen und aussprechen zu können. … Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur noch in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neu geboren werden aus diesem Beten und diesem Tun.«
Das Alte ist vergangen und kraftlos; das Neue ist noch nicht da, und Bonhoeffer kann nur ahnen, dass da etwas Neues und Umwälzendes kommen wird, und dass Jesus Christus wieder neu geboren werden muss in seiner Christenheit. Vielleicht sind es die Gefängnisse und die anderen Orte ganz unten, wo Menschen zu Propheten werden können und etwas von Gott wahrnehmen, wovon man in gesicherten und stabilen Verhältnissen auch Jahrzehnte später noch keine Ahnung hat.
Es liegt eine große Verheißung darauf, wenn Menschen solche Zeiten aushalten, wo das Alte keine Kraft mehr hat und das Neue noch nicht erschienen ist. Solche Momente »dazwischen« können Jahre und Jahrzehnte und Jahrhunderte dauern. In Israel hat dieses Dazwischen 500 Jahre gedauert, bis dann Jesus kam und Gott etwas Neues getan hat, was vorher noch keiner gesehen oder gehört hatte.
In solchen Zeiten kommt es darauf an, trotzdem beharrlich an Gott fest zu halten. Dann werden auch in den Zeiten dazwischen die Dinge geschehen, die Ausstrahlung haben. Vielleicht reicht die Ausstrahlung nicht so weit, wie wir uns das wünschen würden; aber es kann ja sein, dass wir selbst uns trotzdem mindestens so geborgen fühlen wie die Menschen in den großen Zeiten. Es kann ja sein, dass wir in Wirklichkeit mindestens so privilegiert sind, weil wir bei den ersten Keimen des Neuen dabei waren – wer will das messen? Hat Bonhoeffer geahnt, dass seine schnell hingeschriebenen Zeilen noch Jahrzehnte später Menschen inspirieren und trösten würden?
Einmal will ich jedenfalls heute diesen Satz sagen, der meistens so ein Klischee ist: Gottes Wege sind unergründlich – er allein übersieht das ganze Geflecht der menschlichen Wege und Gedanken, und wir sehen immer nur ein paar Fäden.
Aber es reicht zu wissen, dass Gott treu ist, dass es richtig ist, an seine Treue zu appellieren, und dass Menschen, die hartnäckig um sein Eingreifen bitten, sein Herz bewegen. Uns soll der wehmütige Blick zurück verwandelt werden in das hoffnungsvolle Ausschauen nach vorn, wo etwas ganz Neues kommt, das wir noch nicht kennen, das anders wird, als wir es erwarten würden. Das ist Advent: Jesus Christus kommt, er pocht an die Türen dieser Welt, und gesegnet sind die, die es schon früh hören. Als Gott die Vögel schuf, da hatte er vorher schon den Himmel geschaffen, in dem sie Raum haben. Als er die Landtiere schuf, da hatte er vorher schon das grüne Gras geschaffen, von dem sie sich ernähren. Wenn er in den Herzen von Menschen seine Sehnsucht wachsen lässt, die Sehnsucht nach einer Welt voller Freude und Heilung, wo Mensch und Gott miteinander leben, dann hat er vorher schon eine Welt geschaffen, die zu dieser Hoffnung passt.