Eine Gesamtsicht auf die Offenbarung

Predigt am 13. November 2016 über die Johannesoffenbarung (Predigtreihe Offenbarung 40)

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Wir schauen heute zurück auf die Offenbarung des Johannes. Seit Anfang 2014 haben wir sie Stück für Stück durchdacht. Und wir befinden uns damit in guter Gesellschaft. Die Offenbarung hat in der Kirchengeschichte eine große Rolle gespielt. Martin Luther z.B. ist ganz stark von ihr beeinflusst – wenn man ihn liest, dann merkt man, wie sehr er immer wieder auf die Sprache und Bilder der Offenbarung zurückgreift. Die haben Generationen von Christen angeleitet, das Ganze im Blick zu behalten und Worte dafür zu finden, sich nicht nur auf ihre private kleine Welt zurückzuziehen. Wer ein harmloses Christentum mit einem engen Horizont will, wo man sich nicht mit diesen ganzen komplizierten Fragen von Macht und Konflikt beschäftigen muss, der sollte die Offenbarung lieber ignorieren. Er muss dann allerdings auch ziemlich viel von Jesus ignorieren, z.B. den Text, den wir vorhin als Lesung gehört haben.

Und in unserer Gegenwart ist dieses letzte Buch der Bibel tatsächlich eher in den Hintergrund getreten. Im Plan der Predigttexte kommen an regulären Sonntagen gerade mal ein paar von den Sendschreiben aus den ersten drei Kapiteln vor, dann noch der neue Himmel und die neue Erde am Schluss, und das war es dann schon fast. Vor diesen ganzen komischen Sachen dazwischen behütet man die Gemeinden und die Prediger eher. Keine Monster, keine Erdbeben, keine Mörderheuschrecken. Dabei könnte man sagen: dieses letzte Buch der Bibel ist eigentlich die Leseanleitung für alles andere. Im letzten Buch der Bibel bekommen wir die Brille, mit der wir alles Frühere lesen sollen. Dazu greift die Offenbarung auf viele frühere biblische Schriften zurück, einschließlich des Alten Testaments, und entwickelt ihre Gedanken und Bilder weiter. Sie bündelt am Ende Linien, die sich durch die ganze Bibel ziehen.

Es ist ja schon bei Jesus so, dass er im Schnittpunkt vieler Traditionen des Alten Testaments steht. Das Alte Testament war seine Bibel, es hat den Boden vorbereitet, auf dem er gewirkt hat, es formuliert sozusagen die Frage, auf die er die Antwort ist. Ohne diese Frage versteht man die Antwort falsch.

Die Evangelien erzählen davon, wie Jesus gekommen ist als Antwort auf die offenen Fragen des Alten Testaments: wann wird Gott endlich wiederkommen und unter seinem Volk wohnen? Wie kann man als Volk Gottes leben in einer Welt, die von Macht und Gewalt geprägt ist? Und sie beschreiben den Weg, den Jesus mit seinem Leben und Sterben gebahnt hat. Die Apostelgeschichte und die Briefe sind Zeugnisse aus der unmittelbar folgenden Zeit, als die Nachfolger Jesu dann wirklich seinen Weg gegangen sind und merkten: das funktioniert, selbst in der multikulturellen Welt des römischen Kaiserreichs.

2016-11-13_offenbarung-gesamt-03Die Offenbarung schließlich schaut nach vorn: wie dieser Weg weiter geht und zu welchem Ziel er führt. Das ist natürlich eine anspruchsvolle Aufgabe, weil Prognosen immer eine heikle Sache sind – ganz besonders, wenn sie die Zukunft betreffen. Diese schwierige Aufgabe löst Johannes dadurch, dass er in Bildern spricht, und das macht die Offenbarung in unseren Ohren so merkwürdig. Wir sind diese Art zu reden nicht mehr gewohnt. Aber anders kann Johannes seine Botschaft nicht rüberbringen: es geht um den Sieg, den Jesus mit seiner Art zu leben und zu sterben in einem Menschenleben errungen hat. Der hat sich schon ausgedehnt in das Leben der ersten Nachfolger Jesu hinein. Wie wird es nun sein, wenn sich dieser Sieg so ausdehnt, dass er die ganze Welt erfasst? Wenn es nicht ein Fremdwort wäre, würde ich an dieser Stelle das Wort »implementieren« benutzen, mit dem man beschreibt, wie z.B. in einer Organisation eine Neuerung nach und nach überall eingeführt wird: der neue Weg Jesu wird weltweit »implementiert«. Und wie es in jeder Organisation Widerstände gibt, wenn man etwas ganz anders machen will, so gibt es auch in der ganzen Welt heftigen Widerstand gegen diese neue Art zu leben. Die Offenbarung möchte, dass wir die Konflikte und Erschütterungen verstehen, die daraus folgen.

2016-11-13_offenbarung-gesamt-04Für uns ist es aus verschiedenen Gründen nicht leicht, das zu verstehen. Eine Hauptschwierigkeit ist das Weltbild, das Johannes voraussetzt: er geht davon aus, dass die geschaffene Welt zwei Seiten hat, den Himmel und die Erde. Die Erde ist für uns sichtbar und erfahrbar, darauf haben wir Zugriff, aber der Himmel ist für uns normalerweise verborgen. Er ist der Teil der Schöpfung, den Gott als seine Wohnung vorgesehen hat. Dort haben auch Gottes Plan und seine Sehnsucht für die Welt ihre Heimat. Von dort aus werden unsere Gedanken und Träume beeinflusst, und das ist das entscheidende Einfallstor für Gott in unsere Welt. So wie die Welt als Ganzes einen Ort hat, den Gott als seine Wohnung vorgesehen hat, so haben auch wir Menschen eine verborgene Seite, wo Gott bei uns andockt und unsere Gedanken und Vorstellungen beeinflusst. Einen Ort, wo er wohnen will.

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Ich gebe zu, dass das erstens nicht einfach zu verstehen ist, und zweitens ich es auch noch nicht wirklich gut beschreiben kann, aber ohne diesen Background kann man die Offenbarung nicht verstehen. Eines Tages werden Himmel und Erde nicht mehr getrennt sein, dann wird Gott unter den Menschen wohnen, wie es in den letzten Kapiteln der Offenbarung beschrieben ist. Bis dahin öffnet sich nur in besonderen Augenblicken für uns eine Tür zur himmlischen Welt, wie z.B. in den Visionen des Johannes. Das heißt aber nicht, dass der Himmel bedeutungslos wäre: im Himmel werden die entscheidenden Weichen gestellt. Wenn z.B. der Satan aus dem Himmel geworfen wird, dann heißt das, dass wir seinen Verlockungen endlich etwas entgegenzusetzen haben, weil Jesus uns eine funktionierende Alternative gezeigt hat. 2016-11-13_offenbarung-gesamt-06Schon im Johannesevangelium sagt Jesus in dem Moment, als er endgültig auf das Kreuz zugeht: jetzt wird der Satan gestürzt. Erde und Himmel laufen parallel, die eine Seite beeinflusst die andere, auch wenn dazwischen für uns oft ein zeitlicher Abstand liegt.

Jetzt schauen wir uns mal die Offenbarung im Ganzen an: Wir haben da am Anfang sieben Briefe an sieben christliche Gemeinden, und wir haben am Ende die neue Welt Gottes. Beide Male wohnt Gott unter seinen Menschen, erst in seinen Gemeinden und dann in der ganzen Welt. Aber dazwischen liegt eine Konfliktzone.

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Und die Gemeinden brauchen Hilfe, damit sie in dieser unsicheren Zone die Orientierung behalten. Es wird kein Kampf sein, in dem die Seiten immer ganz klar sind. Die Mächte der Zerstörung wollen die Gemeinden auf ihre Seite ziehen, z.B. indem sie sie dazu bringen, ihren Frieden mit dem Imperium und seinen Göttern zu machen. Deswegen schreibt Jesus ihnen durch Johannes, dass sie sich nicht täuschen lassen sollen, sondern ein klares Urteil bewahren. Sie sollen verstehen, durchblicken, nicht auf Lügen und Täuschungen reinfallen. Und dazu enthüllt er ihnen das große Bild:

2016-11-13_offenbarung-gesamt-08Das beginnt mit einem Blick in den Himmel in den Kapitel 4-9: Dort bekommt Jesus – das Lamm – die versiegelte Schriftrolle mit dem geheimen Plan Gottes für die Welt ausgehändigt, um sie zu öffnen. Und jedes Mal, wenn er ein weiteres Siegel öffnet, gerät die Welt in Unruhe. Jesus hat in seinem Erdenleben viel Unruhe in die Welt gebracht, und das spiegelt sich in diesem Bild im Himmel.

2016-11-13_offenbarung-gesamt-09Und dann kommt der Moment, wo Johannes in Kapitel 10 gesagt bekommt: du musst noch einmal prophetisch reden. Es gibt einen zweiten Durchgang. Beim ersten Mal ist etwas noch nicht berücksichtigt worden. Und diesmal wird die Erde eine größere Rolle spielen. Und dann wird am Ende der Satan, der Drache, aus dem Himmel geworfen, parallel zum Erscheinen Jesu auf der Erde. Das geht zeitlich gesehen alles ziemlich drunter und drüber, es ist nicht chronologisch korrekt, aber der Sachzusammenhang ist klar: indem Jesus hier lebt und stirbt, wird dem Drachen die Grundlage seiner Herrschaft entzogen. Aber er ist noch nicht weg vom Fenster, auf der Erde treibt er sein Unwesen immer noch weiter.

2016-11-13_offenbarung-gesamt-10Davon handeln die Kapitel 13-16: der Drache schafft sich Helfershelfer, er lässt Monster über die Erde herfallen, die Gewaltsysteme, die Menschen bedrohen und zugleich faszinieren. Und er schafft sich Propagandisten, Ideologen, die ihn anpreisen. Aber im Lauf der Zeit werden diese Monster immer stärker erkennbar, sie enttarnen sich. Und zwar deswegen, weil es die Gemeinden Jesu gibt, und im Kontrast zu ihnen werden die Monster sozusagen bis zur Kenntlichkeit entstellt. Und jetzt kommen die Katastrophen immer weniger quasi mit der Gießkanne über die ganze Erde, sondern sie treffen immer gezielter die Handlanger des Bösen.

2016-11-13_offenbarung-gesamt-11Und in Kapitel 17-20 finden sie dann ihr Ende: Babylon, die Gewaltstadt, deren Verkörperung Rom die ganze Erde ausgebeutet hat, wird zerstört, und am Ende wird der Satan endgültig entsorgt.

2016-11-13_offenbarung-gesamt-12Schließlich endet die Offenbarung (und damit die ganze Bibel) in den letzten beiden Kapiteln mit dem Ausblick auf die Hochzeit von Himmel und Erde, wenn das neue Jerusalem vom Himmel auf die Erde kommt und Gott in der Mitte seiner Menschen in der Schöpfung wohnt.

Über so etwas kann man tatsächlich nur so reden, wie es die Offenbarung tut: in Bildern. Da muss etwas ausgedrückt werden, was wir noch nie erlebt haben. Etwas völlig Neues muss in alter Sprache ausgedrückt werden. Da kommen unsere Ausdrucksmöglichkeiten an ihre Grenzen. Und deswegen haben wir unsere Mühe mit diesen Bildern. In unserer faktengläubigen Zeit erst recht, weil wir poetische und literarische Texte nur schwer verstehen. 2016-11-13_offenbarung-gesamt-14Und weil wir alles am liebsten als Sachbuch verstehen, halten wir dann die Offenbarung für den Fahrplan des Weltuntergangs. Das ist aber unser Problem und nicht das der Offenbarung!

Die Offenbarung will aber nicht einen festen Ablauf beschreiben, weil Geschichte gerade nicht als eine Art Drehbuch Gottes vorher feststeht. Sondern die Weltgeschichte wird im Zusammenwirken von Gott und Menschen entwickelt. Das macht sie so riskant.

2016-11-13_offenbarung-gesamt-15Deswegen spielen auch die Gemeinden so eine große Rolle in der Offenbarung. Sie sind der Angelpunkt, um den es geht. Sie sollen Jesus widerspiegeln, ihn sozusagen vertreten. Wenn alle Welt der Lüge hinterher läuft, dann soll in den Gemeinden die Wahrheit lebendig sein. Und davon sollen wir uns weder durch Gewalt noch durch List abbringen lassen. Am Ende wird der Satan entsorgt werden, nicht die Christenheit und nicht Jesus.

Für uns bleibt die Frage, ob wir das annehmen, dass Gott uns eine entscheidende Rolle in seiner Geschichte mit der Welt zugedacht hat. Werden wir diese Rolle annehmen? Oder werden wir das in einer dummen Verzerrung christlicher Demut zurückweisen und sagen: ach nein, für uns ist das eine Nummer zu groß, du musst das machen Jesus!

Ja, Jesus hat das Entscheidende getan, er hat uns den neuen Weg gebracht, aber nicht, damit wir ihn staunend bewundern und anbeten. Das passiert auch, insbesondere im Himmel. Wir aber sollen den Weg vor allem gehen. Unter uns soll das Leben Jesu lebendig sein. Das ist unsere besondere Würde und Berufung. Daran hängt das Schicksal der Welt. Die Christenheit ist aus Gottes Sicht der Dreh- und Angelpunkt der Weltgeschichte. Die Offenbarung hat es uns so deutlich gesagt, wie man eine Botschaft über 2000 Jahre nur senden kann.

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