Reformation – Morgenlicht der Neuzeit
Besonderer Gottesdienst am 6. November 2016 mit Predigt zu Galater 5,1-6
Im Gottesdienst gab es zwei aufeinander bezogene inhaltliche Teile: eine Einführung in die Reformation im Kontext der Neuzeit und eine Predigt zu Galater 5,1-6. Beide werden hier gemeinsam veröffentlicht; im Gottesdienst waren sie getrennt und in andere Elemente liturgischer und musikalischer Art eingebettet.
Der Untertitel »Morgenlicht der Neuzeit« soll andeuten, dass die Reformation nicht ein isoliertes Ereignis war, so als ob Martin Luther sich einfach mal so ein paar Thesen ausgedacht hat, weil er nichts Besseres zu tun hatte und dann aus Versehen so einen Riesenumbruch angestoßen hat. In Wirklichkeit war das eine Zeit, die schon lange vorher voller gewaltiger Umbrüche war. Ganz viele wichtige Dinge geschahen in den Jahrzehnten vor der Reformation:
- Sechzig Jahre vorher wurde der Buchdruck erfunden. Der Ausstoß an lesbaren Texten explodierte. Solange Texte per Hand abgeschrieben wurden, waren Bücher selten und kostbar. Nur wenige konnten Bücher lesen. Aber jetzt gab es auf einmal viele Bücher in hohen Auflagen, es gab bedruckte Flugblätter in riesigen Stückzahlen. Auch Luthers Thesen und andere Schriften wurden gedruckt, am Ende hatten seine Werke eine Millionenauflage erreicht. Das bedeutet, dass viele Menschen begonnen hatten, an der gesellschaftlichen Diskussion teilzunehmen. Wer nicht lesen konnte, ließ sich die neuesten Produktionen vorlesen. Auf einmal bekamen auch die Menschen hinten in Posemuckelsdorf Anschluss an das, was vorher nur in kleinen gelehrten Kreisen diskutiert wurde. Der Horizont weitete sich gewaltig. Menschen lernten Gedanken kennen, denen sie sonst nie begegnet wären. Menschen verstanden nach und nach, dass es über eine Sache auch zwei Meinungen geben konnte. Der Horizont weitete sich noch in anderer Hinsicht:
- 25 Jahre vorher war Amerika entdeckt worden. Für die amerikanischen Ureinwohner war das tödlich. Sie wurden zu Millionen ausgerottet. Gigantische Mengen an Edelmetall, vor allem Silber, wurden aus der Neuen Welt nach Europa gebracht. Das kurbelte die Wirtschaft und den Handel an. Im Vergleich zu früheren Zeiten waren die Menschen wohlhabender; es stand mehr Geld zur Verfügung. Die Städte blühten auf. Auf einmal kam Europa ins Zentrum des Welthandels. Der spanische König ließ sich zum Deutschen Kaiser wählen – die nötigen Bestechungsgelder wurden mit amerikanischem Silber bezahlt.
- Finanziert wurde das Ganze von dem Augsburger Bankhaus der Fugger. Firmen wie die Fugger hatten ein weltweites Netz von Stützpunkten und beteiligten sich an Unternehmungen in Übersee. Sie wickelten auch die finanzielle Seite des Ablasshandels ab. Sie entwickelten Methoden, um alle Geschäftsvorgänge in einer einheitlichen Buchhaltung zu erfassen.
- In den Jahrzehnten vor der Reformation wurden in Deutschland viele Universitäten gegründet. Man brauchte Fachleute für die Verwaltung der Territorialstaaten. Man brauchte Theologen und Ärzte. Mehr Menschen konnten jetzt zum Nachdenken und Lehren freigestellt werden. Mit den Universitäten entstanden Orte, wo neue und ungewöhnliche Gedanken im Austausch der Gelehrten entwickelt werden konnten. Auch das kurfürstliche Sachsen leistete sich ab 1502 eine Landesuniversität in Wittenberg. Das war schon ziemlich spät im Vergleich zu anderen deutschen Territorien. Ab 1512 lehrte Luther dort Theologie.
- Damals hatten Gelehrte gerade einen neuen Zugang zu den alten Sprachen Griechisch und Hebräisch gefunden, so dass man die Bibel jetzt in der Originalsprache lesen konnte, nicht nur in lateinischer Übersetzung. Die ersten Bibeln in der Originalsprache erschienen im Druck. Man war nicht mehr auf die Vermittlung der Kirche angewiesen, wenn man sich Gedanken über Gott machen wollte.
Das alles zusammen sorgte dafür, dass der einzelne Mensch enorm gestärkt wurde. Seine Potentiale wurden sichtbar. Eine wachsende Schicht von Menschen hatte Zugang zu Wissen. Die Reformatoren forderten zur Einrichtung von Schulen auf, damit jeder die Bibel selbst lesen konnte. Immer mehr Menschen lernten es, sich ihre eigenen Gedanken zu machen. Ein neuer Menschentyp gewann an Boden: der Abenteurer, der ferne Länder erobert; der Kaufmann, der die Welt und seine Mitmenschen als Zahlen in seiner Buchhaltung sieht und kalkuliert; der Gelehrte, der mit anderen zusammen neue Gedankenwelten entwickelt – sie alle gehen ihre individuellen Lebenswege, die ihnen nicht mehr von der Tradition vorgegeben sind. Solche Menschen gab es natürlich schon immer, aber jetzt fangen sie an, den Ton in der Gesellschaft anzugeben.
Man kann das gut sehen an den vielen Porträts, die damals gemalt wurden. Im Mittelalter hat man Menschen ziemlich gleichförmig gemalt. Von vielen wichtigen Personen wissen wir deshalb heute nicht mehr, wie sie ausgesehen haben. Als man anfing, individuelle Menschen darzustellen, waren es zuerst nur Könige und andere Herrscher. Jetzt malte man auch normale Menschen, und auch Martin Luther ist ein paar Mal porträtiert worden. Solche Bilder zeigen, wie sehr man jetzt auf die ganz besondere Persönlichkeit eines Menschen achtete.
Auch in der Theologie rückte jetzt der Einzelne ins Zentrum des Nachdenkens. Nicht erst bei Luther. Früher hatte es gereicht, dass man wie alle andern zur Kirche gehörte, getauft war und die kirchlichen Vorschriften befolgte. Jetzt konnte ein Einzelner wie Luther, gestützt auf seine Bibellektüre, den Wahrheitsanspruch der Kirche in Frage stellen.
In diesem neuen Denken rückte die Frage in den Mittelpunkt, ob man wohl ganz persönlich so beschaffen war, dass man vor Gott bestehen konnte. Wie muss man denken, reden und handeln, um in Gottes Augen ok zu sein? Luther suchte nach einer Antwort auf diese Frage. Und weil er einer von diesen neu denkenden Menschen war, kam er mit den alten Antworten nicht mehr zurecht.
Er kam aber auch nicht mit den neuen Antworten zurecht: denn dass man durch den Ablass Gott in Finanzgeschäfte verwickelte, die dann von einem Bankhaus betreut werden konnten, das war auch ein Zeichen der neuen Zeit, aber kein gutes: da versuchte man, sein Verhältnis zu Gott, seine Sünden und Verdienste so zu verrechnen, wie sonst ein Kaufmann seine Verbindlichkeiten und Guthaben gegeneinander aufrechnet. Und Martin Luther spürte, dass man so nicht mit Gott umgehen könnte. Und dass Gott auch nicht mit uns so umgeht.
Im Übergang von einer Epoche zur anderen, am Anfang einer neuen Zeit hat Luther Gott neu entdeckt, so wie weder die alte noch die neue Zeit ihn kannte: als einen, der uns beschenkt, der über uns nicht Buch führt, der uns nicht als Geschäftsfälle führt, sondern uns liebt. Er entdeckt den Gott, der mit uns in Beziehung treten will und uns in Beziehungen mit anderen verbindet. Deswegen gehört Luther in diesen Aufbruch in die Neuzeit hinein, er gehört zu denen, die selber denken, die neue Wege gehen, aber er findet eine andere Lösung für die Fragen dieser Umbruchszeit.
Der neue Menschentyp, der damals sichtbar wurde, hat in den vergangenen fünf Jahrhunderten einen weltweiten Siegeszug angetreten. Damit sind aber auch seine Schattenseiten weltweit sichtbar geworden: sein unstillbarer Hunger nach Glück, nach Sinn, nach materiellen Gütern, der heute die ganze Erde zu verwüsten droht. Dieser Typ von Mensch ist ein Fass ohne Boden. Wenn wir heute auf die Reformation hören, dann suchen wir nach Alternativen, die damals schon formuliert wurden, als über der neuen Zeit noch der Zauber des Anfangs lag.
1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3 Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4 Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5 Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6 Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.
Der Galaterbrief ist Martin Luthers Lieblingsbuch in der Bibel gewesen. Dort hat er immer wieder den Ruf der Freiheit gehört. Dass Paulus im römischen Imperium ganz andere Probleme hatte als Martin Luther am Beginn der Neuzeit, das hat er nicht so genau auseinandergehalten. Es war die Lösung, die Freiheit des Evangeliums, um die es ihm ging. Die hat er bei Paulus, insbesondere im Galaterbrief, gefunden.
Worum es Paulus ging
Das Problem von Paulus war, dass es unter den Christen Vorstellungen gab, die darauf hinausliefen, die junge Christenheit in das System des römischen Imperiums einzugliedern. Das sollte dadurch geschehen, dass sie sich im Rahmen des jüdischen Gesetzes bewegten, das wiederum von den Römern akzeptiert war. Auf diese Weise hätte man elegant Konflikte mit dem römischen Staat vermieden.
Das ist ein bisschen ähnlich, wie wenn es heute in manchen Diktaturen staatlich kontrollierte Kirchen gibt, und du darfst nur in diesem Rahmen Christ sein. Wenn du dich einfach so zum Bibellesen triffst, ohne um Erlaubnis zu fragen, bekommst du Probleme.
So war das damals auch mit den frühen Christen. Sie stellten den gekreuzigten Christus in den Mittelpunkt, und der war von den Römern als Staatsfeind gekreuzigt worden. Aber auch die offiziellen Repräsentanten des Judentums hatten ihn abgelehnt. Hätten die Christen jetzt ihren Frieden mit den Herrschenden in Rom und Jerusalem gemacht, dann wäre dieser Stachel des Konflikts beseitigt worden. Dann hätte Jesus ja wohl gar nicht den Tod auf sich nehmen müssen?! Aber so wären sie Teil des Systems gewesen und nicht – wie Jesus – unabhängig und nur dem befreienden Gott verpflichtet.
Deswegen wehrt sich Paulus so sehr gegen die Festlegung der Christen auf das alttestamentliche Gesetz, obwohl er selbst total im Alten Testament verwurzelt ist. Lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! beschwört er die galatischen Christen. Wenn ihr euch jetzt wieder diesem System unterwerft, dann verliert ihr den gekreuzigten Jesus! Wenn man diesen Konflikt vermeiden möchte, dann vermeidet man auch Jesus. Paulus kennt den befreienden Gott Israels natürlich aus dem Alten Testament, aus Gesetz und Propheten, wie er es nennt, aber im real existierenden Gesetz Israels findet er ihn nicht wieder. Das real existierende offizielle Judentum seiner Zeit hat seinen Frieden mit dem Imperium gemacht, so wie das auch das offizielle Christentum leider oft genug getan hat. Gegen diesen faulen Frieden kämpft Paulus mit aller Kraft.
Glaube: Gott und Mensch vertrauensvoll verbündet
Martin Luther hat bei Paulus diesen systemsprengenden Ruf der Freiheit kennengelernt. Und er hat verstanden, dass wir mit dem Gott der Freiheit in einer vertrauensvollen Gemeinschaft leben sollen. Das ist ein persönliches Verhältnis der Liebe und des Vertrauens, da werden Gott und Menschen Verbündete, weil sie beide eine Welt wollen, die auf Beziehungen und Segen gegründet ist anstatt auf Macht und kalkulierende Abrechnung. Das Grundmodell für diese freundschaftliche Verbundenheit von Gott und Mensch ist Jesus. Jesus ist der neue Mensch, der lebt im Vertrauen auf Gott, in freier Solidarität mit den anderen Menschen und in Freundschaft mit der ganzen Schöpfung. Diese Art des Verhältnisses zu Gott nennt Luther »Glaube«, und wir müssen da immer den Klang von »Vertrauen« mithören. Wer im Glauben lebt, der lebt dann auch in Liebe zu den Menschen und zur Schöpfung.
Werke: eine Kur, die krank macht
Alles, was dieses vertrauensvolle Verhältnis zu Gott stört, läuft bei Luther unter dem Stichwort »Werke«. Wenn man keinen Glauben hat, kein Vertrauen zu Gott und in seine Welt, dann fängt man an, stattdessen auf religiöse Zeremonien zu vertrauen oder auch auf die modernere Kalkulation des Ablasses, der das gute Verhältnis zu Gott durch Geldzahlung sichern will. Das ist ganz ähnlich, wie wenn ein Mann und eine Frau sich ihrer Liebe nicht mehr sicher sind und dann gegenseitig Liebesbeweise einfordern. Aber so kann man kein Vertrauen schaffen, sondern im Gegenteil: man untergräbt so das Vertrauen endgültig. In der Liebe zu Menschen genauso wie im Glauben an Gott.
An diesem Punkt ist Luther sehr empfindlich. Als gebranntes Kind, der selbst lange Jahre auf fromme Werke wie Fasten und Buße gesetzt hat, erkennt er überall diesen Versuch, das Verhältnis zu Gott auf »Werke« zu gründen, auf berechenbare, klar definierte Vorschriften und Kalkulationen. Und wie wir alle, schießt er dann auch mal übers Ziel hinaus. Und seine Nachfolger haben es erst recht getan.
Das Schreckgespenst der »Werkgerechtigkeit«
Überall, wo sich nun der starke Mensch der Neuzeit zeigte, witterte man im lutherischen Milieu sofort »Werkgerechtigkeit«. Manchmal klingt das so, als ob es die höchste Form des Glaubens wäre, wenn man den ganzen Tag im Bett liegen bleibt und nichts tut, weil man dann ja garantiert keine eigenen Werke vollbringt. Dieses Misstrauen gegen die Werke ist ein bisschen so, wie wenn ein Mann seiner Frau Blumen mitbringt und sie denkt gleich: »hat er irgendwas angestellt?«, »will er irgendwas wiedergutmachen?«.
Aber das ist nicht der Punkt, wo man den starken Menschen der Neuzeit kritisch in Frage stellen müsste. Denn Gott hat uns ja wirklich zum tätigen Leben geschaffen. Er wollte, dass wir unser ganzes Potential entfalten und mit Gott zusammen die Welt gestalten. Das wusste Luther sehr gut. Stark zu sein und schöpferisch zu sein ist etwas Gutes. Das sollte man niemandem vorwerfen.
Die richtigen Fragen stellen
Den starken Menschen der modernen Zeit muss man stattdessen fragen, was er eigentlich bezweckt mit seiner unersättlichen Gier, mit seiner rastlosen Sucht, das Leben mit Erlebnissen und Highlights vollzustopfen, als ob es die allerletzte Gelegenheit wäre. Man muss ihn fragen, ob es ihn eigentlich glücklich macht, immer mehr herauszufallen aus der Verbundenheit mit anderen, mit der Schöpfung und mit Gott. Man muss ihn fragen, ob er wirklich die ganze Welt ausquetschen will, um möglichst viel an Genuss da heraus zu holen. Ob er wirklich wie ein einsamer Jäger auf Beute gehen will in Konkurrenz zu allen anderen. Diese Art von Werkgerechtigkeit kommt in unserer Zeit sehr deutlich an ihr Ende, weil der Planet das nicht mehr lange aushält.
Dafür brauchen wir tatsächlich eine neue Reformation, die die Impulse der ersten Reformation ebenso wie die befreienden Impulse der Bibel neu aufnimmt und noch einmal ganz anders zur Geltung bringt. Alle 500 Jahre ist das ja wohl mal dran. Die Neuzeit hat ihr unschuldiges Morgenlicht längst verloren, wenn es das je gegeben haben sollte. Es ist dringend nötig, dass Christen den Mut finden, die Fragen wirklich zu stellen, die schon lange dran sind.