Das Signal des Lammes
Predigt am 26. Juni 2016 zu Johannes 1,35-42
35 Am nächsten Tag stand Johannes abermals da und zwei seiner Jünger; 36 und als er Jesus vorübergehen sah, sprach er: Siehe, das ist Gottes Lamm!
37 Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach. 38 Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sprachen zu ihm: Rabbi – das heißt übersetzt: Meister -, wo ist deine Herberge? 39 Er sprach zu ihnen: Kommt und seht! Sie kamen und sahen’s und blieben diesen Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde.
40 Einer von den zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus nachgefolgt waren, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. 41 Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden, das heißt übersetzt: der Gesalbte. 42 Und er führte ihn zu Jesus. Als Jesus ihn sah, sprach er: Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du sollst Kephas heißen, das heißt übersetzt: Fels.
Sie haben vielleicht gemerkt, dass die Geschichten davon, wie Petrus zu einem Jünger Jesu wurde, bei Lukas und Johannes nicht deckungsgleich sind. Wahrscheinlich sind es zwei verschiedene Momentaufnahmen aus der ganzen Geschichte des Jüngers Petrus, und vielleicht kommt das, was Johannes hier erzählt, zeitlich gesehen vor dem, was wir vorhin in der Lesung aus dem Lukasevangelium (5,1-11) gehört haben.
Ein Blick mit Tiefenschärfe
Auf jeden Fall kann man hier den charakteristischen Stil des Johannesevangeliums beobachten: Johannes erzählt mehr mit Andeutungen, er interessiert sich für das, was im Hintergrund der Geschichte abläuft und versucht das in seiner Erzählung sichtbar zu machen. Anscheinend denkt er: die Geschichte davon, wie Jesus mit dem wunderbaren Fischzug Petrus überzeugt hat, die kennt doch sowieso jeder. Die muss ich nicht noch mal erzählen. Ich möchte aber zeigen, was da eigentlich in der Tiefe passiert, wenn Jesus Menschen gewinnt. Und das kann ich besser an einer anderen Episode aus der Frühzeit Jesu klar machen, und deshalb erzähle ich die.
Und so beginnt er mit der Vorgeschichte, mit Johannes dem Täufer. Und da wird sichtbar: schon eine ganze Zeit vorher sind Menschen in Bewegung gekommen. Irgendwie spüren sie, dass etwas in der Luft liegt. Johannes der Täufer holte die Menschen raus aus ihrem normalen Alltag, sie kamen zu ihm in die Wüste, in eine offene Situation, wo die normale Alltagsroutine außer Kraft gesetzt war. Es sind in der Regel Sondersituationen, wo Menschen auf Gott aufmerksam werden. Es ist, als ob das Auftauchen Jesu so eine Art Bugwelle vor sich her geschoben hat, eine vorlaufende Unruhe. Es gab schon vorher Erschütterungen, die kaum einer richtig einordnen konnte.
Aber Johannes der Täufer war ein prophetischer Mensch, und er hat gespürt, dass seine Bewegung nur der Anfang war, die Ouvertüre. In dem Moment, als er Jesus begegnet, da versteht er: jetzt erst geht es richtig los. Auch hier wieder der spezielle Stil des Evangelisten Johannes: er erzählt nicht davon, dass sein Namensvetter, Johannes der Täufer, damals Jesus getauft hat – auch da scheint er zu denken: das weiß doch sowieso jeder.
Jesus, das Lamm
Stattdessen redet er von dem, was er als das wirklich Große an Johannes dem Täufer empfindet: dass der Jesus nicht als Konkurrenten sieht, sondern bereitwillig zur Seite tritt und sogar seine Jünger auf ihn aufmerksam macht: »Das ist Gottes Lamm« sagt er und wiederholt damit, was er ein paar Verse zuvor ausführlicher gesagt hat (v. 29): »Siehe, das ist Gottes Lamm, das die Sünde der Welt trägt«.
Jesus, das Lamm: auch im Buch der Offenbarung ist uns diese Bezeichnung schon öfter begegnet. Das Lamm war sozusagen das klassische Opfertier, schon seit dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten, als sie aus der Sklaverei fliehen konnten und in einer bestimmten Situation das Blut geschlachteter Lämmer zu ihrem Schutz an die Türen gestrichen haben.
Ein merkwürdiger Brauch und seine innere Logik
Dieser antike Brauch, Tiere zu opfern, ist für uns heute etwas sehr Fremdes, und wir müssen uns erst wieder in seine Bedeutung hineindenken. Dieser Brauch sagt: es läuft etwas schief in der Welt, und wir müssen das irgendwie ausgleichen. Wir selbst sind ja nicht unschuldig daran, dass die Welt auf die falsche Spur geraten ist, und deshalb müssen wir etwas geben, um ein Gegengewicht zu schaffen. Vielleicht können wir es ja gar nicht wieder gut machen, aber so können wir wenigstens anerkennen, dass wir selbst ein Teil des Problems sind.
Wie gesagt, für uns ist das heute alles sehr fremd, aber vielleicht können wir verstehen, dass Menschen sich auf diese Weise darüber verständigt haben, dass: 1. die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte, und dass 2. die Ursache dafür nicht irgendwelche fiesen Aliens sind, sondern dass wir Menschen irgendwie daran schuld sind: dass wir das auf eine nicht völlig geklärte Weise verursacht haben. Und dass wir deshalb 3. etwas tun müssen, um den Schaden auszugleichen. Und das ist ja erstmal gut, wenn Menschen dafür ein Gespür entwickeln und nicht sagen: da kann ich nichts für, das waren die anderen.
Aber natürlich haben die Nachdenklicheren schon damals gewusst, dass es eine ziemlich unzureichende Strategie ist, mit dem Schlachten von Tieren die Welt retten zu wollen. Sie wussten, dass eigentlich wir Menschen und unser Einsatz gefordert sind, nur war unklar, wie das gehen könnte. Aber als Johannes Jesus sieht, wird ihm klar: das ist der Mensch, der im Auftrag Gottes die Aufgabe übernehmen wird, die durch geschlachtete Lämmer nicht wirklich gelöst werden kann: die Welt wieder aufs richtige Gleis zu bringen. Dieser Mensch wird freiwillig sein Leben und sein Sterben dafür einsetzen, dass die Welt zurückfindet zu ihrer Bestimmung, und durch ihn wird das gelingen.
Die Suche nach einem Schuldigen
Wenn man akzeptiert, dass Menschen den Karren in den Dreck gefahren haben (und ich vermute, dass die allermeisten von uns hier zustimmen würden), dann gibt es mindestens zwei verschiedene Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Die eine mögliche Reaktion besteht darin, sich einen Schuldigen zu suchen und zu sagen: der war es! Der ist böse! Wenn der bestraft oder beseitigt wird, dann wird alles wieder gut!
Und so machen das Menschen immer wieder: der Kevin ist schuld, der hat angefangen! Meine Eltern sind schuld, die haben mich so schlecht erzogen! Die Lehrer sind schuld, die haben mich nicht motiviert! Die Politiker sind schuld! Die Bürokraten von Brüssel sind schuld! Die Kapitalisten sind schuld! Die Flüchtlinge sind schuld! Der dekadente Westen ist schuld! Die Lügenpresse ist schuld!
Hitler hat gesagt: die Juden sind schuld! Vielleicht sind es aber auch die Rothaarigen oder die Drängler auf der Autobahn. Irgendwer muss einfach schuld sein. Und wenn wir alle gemeinsam gegen diese Verbrecher sind, das ist die Lösung. Und während man heftig über echte oder vermeintliche Verursacher des Übels nachdenkt, vermehrt man das Übel, indem man Vorwürfe, Feindschaft und Hass züchtet, und am Ende zündet irgendein verwirrter schwacher Geist Bomben oder schießt wild um sich.
Jesus: heilen statt beschuldigen
Jesus hat einen anderen Weg gewählt, und der steckt in dem Bild von dem Lamm, das die Sünde der Welt trägt. Jesus hat keine Schuldigen für das Übel gesucht, sondern er hat das Übel auf sich genommen, indem er es geheilt hat und am Ende selbst daran gestorben ist. Der Bruch, der durch die Welt geht, der wird nur geheilt, wenn Menschen dafür ihre Kraft und ihr Leben einsetzen. Nicht, wenn sie Schuldige suchen und angreifen.
Wenn du das Leid von Menschen oder von irgendeinem Geschöpf heilen willst, wenn du gegenüber der Zerrissenheit der Welt nicht tatenlos bleiben willst, dann kostet dich das Lebenskraft. Du musst Menschen zuhören, musst ihnen Zeit schenken, die dir selbst dann fehlt. Du musst dich auf ihre schlechten Erfahrungen einlassen, die dir sonst erspart blieben. Du musst manchmal Geld aufwenden, das du auch für anderes gut gebrauchen könntest. Du gerätst in Konflikte, die dir sonst erspart bleiben. Du lernst dunkle Seiten der Welt kennen: Gefängnisse, Krankenhäuser, Kriegsgebiete, Katastrophen, Familienverhältnisse, Schuldzusammenhänge, tragische Lebensläufe, von denen man eigentlich lieber gar nichts wissen möchte. Und manchmal wirst du sogar so hineingezogen, dass es an dir selbst Spuren hinterlässt: schlaflose Nächte, Alpträume, graue Haare, Verleumdungen, Angriffe und vielleicht sogar ein gewaltsamer Tod, wie ihn Jesu erlitten hat, weil er Heilung um sich herum verbreitete und damit die Finsternis dieser Welt bedrohte.
Ein hoffnungsvoller Weg
Das alles steckt drin in diesem Bild vom »Lamm Gottes«: Lieben statt beschuldigen. Eher Unheil auf sich nehmen, als es anderen bereiten. Versöhnen statt spalten. Solidarität statt Feindschaft. Feindesliebe statt Hass. Und weil Jesus diesen Weg konsequent zu Ende gegangen ist, bis zum bitteren Ende am Kreuz, deshalb wissen wir jetzt auch, dass das der hoffnungsvolle Weg ist. Über diesem Weg hat von Anfang an ein Glanz gelegen, der die Menschen angezogen hat, wo sie gesagt haben: wenigstens ein Stück dieses Weges möchte ich mitgehen. Und am Ende hat Gott Ja zu diesem Weg gesagt, als er Jesus aus dem Tod zurückholte in ein neues Leben. Nur so kann die Welt geheilt werden. Einer musste vorangehen, damit für alle ein Weg gebahnt wird. Viele sind ihn dann selbst auch gegangen und haben so Frieden gefunden, und jedes Mal konnte die Welt aufatmen.
Und schon am Anfang, damals bei Johannes dem Täufer, scheint so etwas wie Glanz und Hoffnung über dem Weg gelegen zu haben. Die beiden Jünger des Johannes ahnen etwas davon und wollen es verstehen. Dafür verlassen sie ihren bisherigen Lehrer und gehen mit Jesus. Aber das wird hier so erzählt, dass man merkt: das ist nicht selbstverständlich. Dafür muss einiges zusammen kommen.
Hinschauen und die Wahrheit suchen
Da ist zuerst Johannes selbst, der ihnen sagt: der ist es! Von allein hätten die beiden Jünger es wohl kaum gemerkt. Sie hätten sich unter den unzähligen Eindrücken, die auf uns alle täglich einstürmen, nicht ausgerechnet auf diesen einen Menschen konzentriert. Du brauchst in der Regel jemanden, der dir sagt: der ist es, der bringt die Lösung. Das ist nicht einer unter vielen, das ist Gottes entscheidender Beauftragter. Ganz viel an der Art, wie wir Kirche sind, ist eigentlich nur dafür da, diese Botschaft zu vermitteln: der ist das geheime Zentrum der Welt, hier lohnt es sich, näher hin zu schauen. Spezielle Formulierungen, Glaubensbekenntnisse, die ganzen Symbole, Gebäude, Lieder, Schmuck, die Existenz der Kirche überhaupt, das ist eigentlich alles ein Signal, das sagt: guck da genauer hin! Da liegt die Lösung!
Manche dieser Signale sind besser geeignet, manche weniger gut, und das ändert sich auch immer mal wieder, aber dazu müssen dann Menschen kommen, die sagen: ich will es wissen, ich will dem auf den Grund gehen. Die beiden Jünger investieren ihre Zeit, sie gehen mit Jesus mit, sie schauen sich alles gründlich an, und am Ende sind sie überzeugt: ja, der ist es! Es braucht Menschen, die sich nicht mit oberflächlichen Parolen zufrieden geben, sondern aufrichtig die Wahrheit wissen wollen. Leute zu irgendwelchen Bekenntnissen nötigen, das gibt es genug. Aber Jesus will Menschen, denen es um die Wahrheit geht. Die sollen nicht irgendein Pflichtzeugs machen. Nichts schadet einer Religion so sehr, wie wenn sie mit Zwang verbreitet wird. Dann kapieren die Leute nämlich, dass es nicht um die Wahrheit geht, sondern um Konformität. Und dann kriegt man Mitläufer, keine starken Menschen, die sich selbst damit verbinden.
An den Jüngern hier kann man sehen: sie sind aus sich selbst heraus überzeugt. Sonst würden sie nicht ganz von allein ihre Verwandten und Freunde mitbringen. Und so werden sie alle von Anfang an dabei sein, wenn die Geschichte vom Lamm Gottes unter den Menschen Fahrt aufnimmt. Ein neuer Weg ist in der Welt, und wem es um die Wahrheit geht, der kann hier fündig werden.
Worum also geht es dir, oder mir: wollen wir die Wahrheit wirklich kennen? Wollen wir auf eine Reise gehen, die uns aus dem standardisierten Trott heraus bringt, die uns nicht so lässt, wie wir sind, die uns und andere immun macht gegenüber dem Beschuldigen und Ablehnen, das die Welt nur immer mehr vergiftet? Eine Reise, die uns in Herausforderungen bringen wird, die wir vorher kaum geahnt haben, aber auch in ein Glück und eine Nähe Gottes, die wir vorher nicht für möglich gehalten hätten.