Das Ende heiliger Orte
Predigt am 3. Januar 2016 zu Johannes 1,43-51
43 Am Tag darauf wollte Jesus nach Galiläa aufbrechen; da traf er Philippus. Und Jesus sagte zu ihm: Folge mir nach! 44 Philippus war aus Betsaida, dem Heimatort des Andreas und Petrus. 45 Philippus traf Natanaël und sagte zu ihm: Wir haben den gefunden, über den Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben: Jesus aus Nazaret, den Sohn Josefs. 46 Da sagte Natanaël zu ihm: Aus Nazaret? Kann von dort etwas Gutes kommen? Philippus antwortete: Komm und sieh!
47 Jesus sah Natanaël auf sich zukommen und sagte über ihn: Da kommt ein echter Israelit, ein Mann ohne Falschheit. 48 Natanaël fragte ihn: Woher kennst du mich? Jesus antwortete ihm: Schon bevor dich Philippus rief, habe ich dich unter dem Feigenbaum gesehen. 49 Natanaël antwortete ihm: Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König von Israel!
50 Jesus antwortete ihm: Du glaubst, weil ich dir sagte, dass ich dich unter dem Feigenbaum sah? Du wirst noch Größeres sehen. 51 Und er sprach zu ihm: Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn.
Wer im Alten Testament zu Hause ist, der hört sofort, auf welche Geschichte Jesus mit seinem letzten Satz anspielt: es ist die Geschichte von Jakob, der auf der Flucht vor seinem Bruder Esau unterwegs an einer Stelle rastet, wo sich eine Verbindung zwischen Himmel und Erde befindet. Jakob ist ein trickreicher Charakter gewesen, er war immer am Kämpfen und Tricksen, aber wie das so geht: er hat sich selbst öfter mal ausgetrickst. Bei seinem Bruder Esau hatte er den Bogen überspannt, und dummerweise war Esau stärker als Jakob, so dass dem nur die Flucht blieb.
Die Entdeckung eines heiligen Ortes
Und da irgendwo in der Einöde legt er sich schlafen, ein Mann, der nirgendwo hingehört, rausgefallen aus der schützenden Gemeinschaft der Familie (und andere Gemeinschaften gab es damals nicht), ganz auf sich allein gestellt. Gott hat ihn vorbereitet, hat ihm alles aus der Hand geschlagen, und jetzt ist der Moment gekommen für Gottes ersten großen Eingriff in sein Leben. Im Schlaf sieht er, wie die Engel Gottes auf einer Leiter oder einer Treppe oder Rampe zwischen Himmel und Erde hin und her gehen und so die Verbindung zwischen den beiden Seiten der Schöpfung herstellen. Und dann wacht Jakob auf und sagt: du meine Güte, das ja ist das Tor des Himmels, und ich habe mich hier ahnungslos schlafen gelegt! Und er markiert diese Stelle als einen heiligen Ort, und da ist später dann das Heiligtum von Bethel entstanden.
So haben Menschen immer nach heiligen Orten gesucht. Sie haben die Plätze markiert, wo sie meinten, so etwas wie Magie zu spüren, und dann haben sie dort ihre Tempel und Kirchen gebaut, um an diesen Stellen darauf zu warten, dass sich von Neuem die Verbindung auftut zwischen Himmel und Erde. Manchmal sind dann dort ganze Wallfahrtsorte entstanden, die auch ökonomisch ein Erfolg waren, mit allem unheiligen Treiben, was damit verbunden ist, manchmal haben da nur Einzelne Gott gesucht und gelegentlich wohl auch gefunden.
Jesus greift diese alte Geschichte auf, die Geschichte davon, wie Jakob auf so eine Verbindung von Himmel und Erde stößt, und er sagt seinen künftigen Jüngern: ihr seid an der richtigen Stelle, aber es geht um keinen bestimmten geografischen Ort, sondern ich bin die Stelle, wo Himmel und Erde zueinander kommen.
Keine heiligen Orte mehr nötig
Wenn man das zu Ende denkt, dann ist völlig klar, dass Jesus erhebliche Probleme mit jeder Art von Tempel bekommen musste. Wenn wirklich ein Mensch der Ort ist, wo sich Himmel und Erde begegnen, dann werden alle Tempel dieser Welt bedeutungslos. Es gibt dann keine Heiligen Orte mehr. Deswegen haben die ersten Christen keine Tempel oder Kirchen gebaut, und die Menschen, die auf traditionelle Art religiös waren, haben sie für Atheisten gehalten. Jesus brauchte keine Heiligen Orte, sondern er machte jeden Ort heilig, an den er kam. Deshalb geht er in die Randbezirke Israels, nach Galiläa, das von Jerusalem aus gesehen schon halb heidnisches Gebiet ist, wo sich Judentum und die heidnische Welt schon gefährlich nahe kommen. Aber Jesus hat damit keine Probleme: wo er ist, da ist das Zentrum, er macht jeden Ort zum Zentrum.
Später hat er seinen Jüngern das Abendmahl geschenkt als Ort, wo er präsent ist, und auch das konnte überall sein, in jedem Haus, auf jeder Waldlichtung. Viel später, als die Christen zahlreich geworden waren, haben sie auch wieder Heilige Orte gebaut, Kirchen und Klöster; das war so eine Art Kompromiss mit dem geistlichen Entwicklungsstand der Mehrzahl, aber ich habe den Eindruck, dass es kein guter Kompromiss war. Auch wenn wir heute manchmal wieder Kirchen und Glocken und Orgeln und anderes weihen (und unsere katholischen Freude sind da ja noch mit mehr Überzeugung dabei als wir Protestanten), irgendwie wissen wir doch alle, dass es nicht an Heiligen Orten und Geräten hängt. Wir weihen und ehren manchmal noch, weil es sich feierlich anfühlt und einem dann möglicherweise Schauer den Rücken runtergehen, aber so richtig glauben, dass die Beziehung zu Gott entscheidend vom richtigen Ort abhängt, das tut eigentlich kaum noch einer.
Jesus hat gesiegt – teilweise jedenfalls
Und das gilt erstaunlicherweise nicht nur im christlichen Bereich, sondern fast überall. Auch wo die Menschen religiöser sind als bei uns in Westeuropa, da geht doch die Überzeugung zurück, dass es wirklich entscheidend von Heiligen Orten oder Zeremonien abhängt, dass die unsichtbaren Mächte uns wohlgesonnen sind. An dieser Stelle hat sich Jesus – eigentlich weltweit – durchgesetzt. Was damals eine frevlerische Minderheitenposition war, das ist durch die Jahrhunderte hindurch heute zum Mainstream geworden.
Allerdings eben nur in der negativen Variante, dass nichts mehr auf der Welt wirklich heilig ist. Der positive Kern davon, dass Jesus der heilige Ort ist, die Gegenwart Gottes unter den Menschen, das Tor zur unsichtbaren Welt, diese positive Mitte ist leider längst nicht so verbreitet. Aber das ist die entscheidende Botschaft: Gott konzentriert sich in einem Menschen.
Heilige Orte waren immer nur ein Hinweis auf die verborgene Seite der Welt: da gibt es etwas Rätselhaftes, etwas Heiliges und Unfassbares, wir kennen es nicht genau, aber wir verderben es besser nicht mit ihm. Stattdessen zu sagen: nichts ist heilig, die Welt ist ein Selbstbedienungsladen, und an der Kasse sitzt in Wirklichkeit niemand, das macht die Sache nicht besser. Herrenlose Selbstbedienungsläden ziehen nur Plünderer an.
Wie Gott wirklich ist
In Wirklichkeit brauchen wir die Hinweise auf die verborgene Seite der Welt deshalb nicht mehr, weil der Heilige Gott kein Rätsel mehr ist. Er hat sich in Jesus offengelegt, er hat gezeigt, worum es wirklich geht. Es geht um Gerechtigkeit, es geht um Liebe, nicht nur zu den eigenen Leuten, sondern Liebe zu den Fremden und sogar zu den Feinden. Es geht um den verborgenen Segen in der Welt. Es geht um den Gott, der an unserer Seite ist, und wir sollen wie er an der Seite aller Geschöpfe sein. Gottes Geheimnis ist die Solidarität, seine Treue zur Schöpfung, mit der er sogar an den dunkelsten Orten der Welt präsent ist, da, wo wir um keinen Preis sein möchten, das Kreuz ist das zusammenfassenden Symbol dafür. Der wahre und lebendige Gott hält es aus an den Orten voller Schmerz, an den Orten voll Unsicherheit, er hört die Menschen an, wenn sie von ihren Schmerzen und Ängsten reden, er leidet mit allen Verwundeten und Verletzten, so heilt er das Unglück, und er sucht Menschen, die es ihm nach tun, jedenfalls, so weit unsere Kräfte reichen. Und er sorgt dafür, dass die Kräfte seiner Leute weiter reichen, als wir denken.
Moderne Menschen haben aufgehört an Heilige Orte zu glauben, aber das heißt längst nicht, dass sie davon barmherziger und solidarischer geworden sind. Früher bauten Menschen Heilige Orte, die sie mit Mauern gegen die böse Welt schützen wollten. Heute sehnen sich Menschen nach Mauern, weil sie glauben, so könnten sie sich das Unglück vom Leibe halten. Heute glauben Menschen, sie hätten ein Recht darauf, von all dem Unglück in der Welt unbehelligt zu bleiben, ein Recht darauf, die ersten und Einzigen im Supermarkt zu sein. Und gerade so werden sie sich nicht retten, weil der wahre Gott alle Schutzmauern einreißt. Wir können der Finsternis dieser Welt mit Solidarität begegnen und sie so überwinden, aber wir können das Unglück auf die Dauer nicht von uns fernhalten. Vor Jesus konnte man das noch nicht wissen, aber jetzt kann sich keiner mehr darüber täuschen, wenn er seine Integrität bewahren will.
Menschen mit Liebe zur Wahrheit
Deswegen sagt Jesus über den zweifelnden Nathanael: das ist ein wahrer Israelit, an dem kein Falsch ist. Nathanael ist anfangs skeptisch, ob aus dem Nachbarkaff irgendwas Gutes kommen kann. Aber er ist so beweglich und ehrlich, dass er seine Meinung ändert, als er Jesus erlebt. An Nathanael ist kein Falsch, keine Selbsttäuschung. Wenn du die Wahrheit wirklich suchst, dann kannst du deine Meinung ändern. Wenn du dich vor der Wahrheit schützen willst, dann bleibst du starr bei dem, was du schon immer gemeint hast, und irgendein dummes Argument dafür findet sich immer.
Auch der kleine Jesus hat noch an den Tempel geglaubt – wir haben es vorhin in der Lesung gehört (Lukas 2,41-52). Er wollte die Wahrheit verstehen und hat darüber auch seine Eltern vergessen. Er hat die Wahrheit zuerst bei den Priestern gesucht, die später seine größten Feinde werden sollten. Kein Problem! Du kannst anfangen wo du willst; wenn du ohne Falsch bist, wenn du ehrlich nach der Wahrheit suchst, wirst du sie finden. Sie ist in der Welt. Gott hat sich offengelegt. Er ist menschlich – in dem doppelten Sinn, dass er Mensch geworden ist, und dass er barmherzig mit den Menschen umgeht.
Manchmal gelingt es
Mit Jesus hat sich etwas Grundlegendes in der Welt geändert, und keiner bleibt davon unberührt. Die Einen ziehen daraus den Schluss, dass nichts mehr heilig ist und versuchen, ihr Glück im Plündern des Selbstbedienungsladens zu finden. Die anderen versuchen nachzubuchstabieren, was Gott über sich enthüllt hat.
Und dann und wann gelingt es, dass wir mitten in der Finsternis dieser Welt die Engel sehen, die den Segen Gottes dahin bringen, wohin der Menschensohn vorangegangen ist und seine Jünger ihm mit Furcht und Zittern folgen. Dann und wann gelingt es, dass Frieden und Versöhnung aufleuchtet und Menschen heilt, denen Schlimmes angetan worden ist. Dann und wann gelingt es, dass die göttliche Solidarität uns so ergreift, dass wir die Mauern hinter uns lassen und uns dem Unglück stellen mit keiner anderen Sicherheit als den Spuren Jesu, die uns den Weg weisen. Manchmal gelingt es, dass wir unsere Integrität behalten und auf Argumente hören, auch wenn sie gegen uns sprechen. Dann und wann gelingt es, dass wir den neutralen Platz unter dem Feigenbaum aufgeben und mit Jesus aufbrechen in die Randzonen, wo es unübersichtlich und unvorhersehbar wird. Manchmal gelingt es, dass an den Küchentischen Heiliges geredet wird und nicht nur Banales. Manchmal gelingt es, dass Menschen auch im Supermarkt dankbar werden, die Scherben wegräumen und sogar bezahlen, obwohl keiner an der Kasse zu sehen ist.
Manchmal gelingt es Gott, dass er auf einen Menschen mit Auferstehung antworten kann. Und weil er Gott ist, deshalb wird es ihm gelingen, die Welt aufzuerwecken, so dass sie voll von seiner Heiligkeit ist, so dass da nicht mehr gekauft und bezahlt wird, sondern die Engel uns versorgen und der Menschensohn mit vielen Brüdern und Schwestern die neue Welt regiert.