Chaotische, lebensfeindliche Energie
Predigt am 3. November 2019 zu Psalm 74,1-23
Gott, warum verstößest du uns für immer*
und bist so zornig über die Schafe deiner Weide?
2 Gedenke an deine Gemeinde, die du vorzeiten erworben/
und dir zum Erbteil erlöst hast,*
an den Berg Zion, auf dem du wohnest.
3 Richte doch deine Schritte zu dem,/
was so lange wüste liegt.*
Der Feind hat alles verheert im Heiligtum.
4 Deine Widersacher brüllen in deinem Hause*
und stellen ihre Banner auf als Zeichen des Sieges.
5 Hoch sieht man Äxte sich heben wie im Dickicht des Waldes.*
6 Sie zerschlagen all sein Schnitzwerk mit Beilen und Hacken.
7 Sie verbrennen dein Heiligtum,*
bis auf den Grund entweihen sie die Wohnung deines Namens.
8 Sie sprechen in ihrem Herzen: /
Lasst uns sie allesamt unterdrücken!*
Sie verbrennen alle Gotteshäuser im Lande.
9 Unsere Zeichen sehen wir nicht, /
kein Prophet ist mehr da,*
und keiner ist bei uns, der wüsste, wie lange.
10 Ach, Gott, wie lange soll der Widersacher schmähen*
und der Feind deinen Namen immerfort lästern?
11 Warum ziehst du deine Hand zurück?*
Nimm deine Rechte aus dem Gewand und mach ein Ende!
12 Gott ist ja mein König von alters her,*
der alle Hilfe tut, die auf Erden geschieht.
13 Du hast das Meer aufgewühlt durch deine Kraft,*
zerschmettert die Köpfe der Drachen über den Wassern.
14 Du hast die Köpfe des Leviatan zerschlagen*
und ihn zum Fraß gegeben dem wilden Getier.
15 Du hast Quellen und Bäche hervorbrechen lassen*
und ließest starke Ströme versiegen.
16 Dein ist der Tag, dein auch die Nacht;*
du hast Gestirn und Sonne die Bahn gegeben.
17 Du hast allem Land seine Grenze gesetzt;*
Sommer und Winter hast du gemacht.
18 So gedenke doch, dass der Feind den HERRN schmäht*
und ein törichtes Volk deinen Namen lästert.
19 Gib deine Taube nicht den Tieren preis;*
das Leben deiner Elenden vergiss nicht für immer.
20 Schau auf den Bund;*
denn die dunklen Winkel des Landes sind Stätten voller Gewalt.
21 Lass den Geringen nicht beschämt davongehen,*
lass die Armen und Elenden rühmen deinen Namen.
22 Mach dich auf, Gott, und führe deine Sache;*
gedenke an die Schmach, die dir täglich von den Toren widerfährt.
23 Vergiss nicht das Geschrei deiner Feinde;*
das Toben deiner Widersacher wird je länger, je größer.
Dieser Psalm atmet immer noch den Schrecken über die blinde Zerstörungswut, mit der Feinde den Tempel Gottes bis auf die Grundmauern vernichtet haben. Und in dieser brutalen Lust zur Zerstörung spürt der Psalmdichter eine noch viel tiefere, ältere Chaosmacht, die von Gott einstmals besiegt worden ist, aber jetzt schon wieder ihr Haupt erhebt. Und er ruft nach Gott, damit er diesen Mächten des Unheils von Neuem entgegen tritt.
Wut auf die Gotteshäuser
Ich vermute, dass der Psalm die Bilder von der Zerstörung des Tempels durch die Babylonier 587 v. Chr. vor Augen hat. Ganz sicher ist das nicht; der Tempel von Jerusalem ist nicht nur einmal zerstört worden. Und wir heute sollten genauso die Bilder von den brennenden Synagogen aus dem Jahr 1938 im Kopf haben, als die Nazis die jüdischen Gotteshäuser in Deutschland zerschlugen und schändeten. In dieser Woche, am kommenden Samstag, jährt sich wieder der 9. November, der Tag, an dem im Deutschland Adolf Hitlers die Synagogen brannten. Mutige Christen haben sich damals an den 8. Vers aus diesem 74. Psalm erinnert, wo es heißt: »Sie verbrennen alle Gotteshäuser im Land.« Ganz Mutige haben damals am Sonntag danach über diesen Vers gepredigt, aber es waren wenige, und sie haben manchmal teuer dafür bezahlen müssen. Und wenige Kluge haben geahnt, dass es nicht ungestraft bleiben würde, wenn man Feuer an die Stätten Gottes legt. Wenige Jahre später brannten dann im Krieg ganze deutsche Städte.
Viele Jahrhunderte liegen zwischen 587 vor Christus und 1938 nach Christus, aber da zieht sich eine Wut auf die Gotteshäuser durch die Jahrhunderte, gegen die schon der Psalm sich keinen anderen Rat wusste, als Gott anzurufen, damit er endlich seine Sache selbst in die Hand nimmt. Damit Gott der Zerstörung, der Dummheit und der Barbarei in den Weg tritt.
Im Psalm sind immer noch die Bilder der Verwüstung präsent: wie die Horden der feindlichen Soldaten durch den Tempel trampeln; wie sie herumbrüllen an der Stätte des Gebets, wo sonst konzentriertes Schweigen herrscht. Wie sie mit Äxten und Hacken auf die kostbaren Schnitzereien aus Elfenbein und Gold einschlagen, als ob sie im Wald Holz schlagen würden. Wie sie ihre Fahnen dort im Tempel aufstellen, um zu signalisieren: wir haben gewonnen, und jetzt rotten wir diesen Gottesunsinn aus, ein für allemal!
Klage um die Zerstörungen
Diese rohe Lust an der Zerstörung haben nicht erst die Nazis mit ihren SA-Leuten praktiziert; da waren sie nur auf den Spuren vieler anderer unterwegs, die ihre Unsicherheit und Haltlosigkeit mit brutaler Macht zu überdecken versuchen. Auch 587 vor Christus fühlte sich anscheinend der babylonische Mob um so stärker, je lauter er gröhlen konnte, und je hemmungsloser er die jahrhundertealten Zeugnisse von Anbetung und Schönheit kaputtschlagen konnte. Sich selbst und anderen Stärke vorzumachen, indem man möglichst viel Kostbares zerstört, das ist ein armseliges, kaputtes Geschäft.
Aber wer das mit ansehen muss, den begleiten diese Bilder. Der wird sie nicht mehr los, vielleicht ein Leben lang. Er begegnet da der schrecklichen Möglichkeit des Chaos, des Verschwindens aller Verlässlichkeit, des Zusammenbruchs der Ordnungen, die uns bis dahin am Leben gehalten haben. Denkt an die zerbombten deutschen Städte am Ende des zweiten Weltkriegs, denkt an die Bilder von den zerschossenen Straßenzügen in Syrien, wo alles in Trümmer gegangen ist, was Menschen aufgebaut und geschmückt haben, ihre ganze Lebenswelt. Wenn man einmal davor gestanden hat, vergisst man solche Bilder nicht mehr.
Deshalb haben sie nach der Zerstörung Jerusalems dort Klagegottesdienste gehalten, um mit den Bildern und dem Grauen nicht allein zu sein. Sie haben all das zu Gott gebracht, damit es vielleicht doch irgendwann noch einmal heil werden könnte in ihnen. Und wahrscheinlich ist unser Psalm in solchen Trauergottesdiensten gebetet worden, wo sie zu Gott gerufen haben und gefragt haben: wie lange noch? Wie lange soll das jetzt noch weiter so gehen? Wann machst du dem ein Ende, Gott? Wie lange wirst du zulassen, dass noch immer mehr solcher Bilder entstehen und die Zerstörer sich bestätigt fühlen in ihrem Glauben, dass Gott sowieso nur ein Papiertiger ist? Wie lange müssen wir, deine Gemeinde, noch dastehen als die Deppen, als die Traumtänzer und weltfremden Looser, die immer noch nicht aufgehört haben, ihr Herz an diesen rätselhaften Gott zu hängen, der es irgendwie geschafft hat, uns mit seiner Liebe zum Leben zu infizieren?
Ein Hymnus von der Urzeit sagt, wie es ist
Aber dann hören wir mitten in diesem Klagepsalm (v. 12-17) ein Lied, einen alten Hymnus über Gott, der einstmals die Chaosdrachen und die Urmonster besiegt hat, als er die Welt erschuf. Gott musste gegen diese lebensfeindlichen Mächte antreten, um einen geordneten Freiraum zu erkämpfen, wo Leben möglich ist.
Das klingt für unsere neuzeitlichen Ohren erst einmal nach wirren Mythen aus der Zeit, als die Menschen noch keine moderne Wissenschaft kannten. Aber gerade die moderne Wissenschaft hat uns gezeigt, wie schmal diese kritische Überlebenszone ist, die wir bewohnen. Nur wenige Kilometer dick ist die Zone des Lebens, unsere Heimat, die der Menschheit anvertraut ist. Nach kosmischen Maßstäben ist das ein Nichts. Darüber beginnt schon der eiseskalte tödliche Weltraum. Alles andere als selbstverständlich ist es, dass es überhaupt solch eine Lebensinsel gibt. Es ist eine kosmische Anomalie. Die Menschen in der Antike kannten vielleicht noch nicht die Details, die uns die Wissenschaft inzwischen geliefert hat, aber sie verstanden sehr richtig, dass wir hier in einer äußerst zerbrechlichen Situation leben, die auch ganz anders sein könnte. Und sie haben sich das im Bild von den besiegten Chaos-Untieren erzählt.
Erhebe dich, Gott!
Und wenn dann das Chaos in Gestalt roher Zerstörungslust wieder in ihr Leben einbricht, dann erinnern sie sich bei ihren Klagegottesdiensten zwischen den Trümmern daran, dass Gott schon ganz am Anfang einmal die Chaosmächte besiegt hat. Und sie rufen ihn an und sagen: Du bist es doch, der das schon einmal geschafft hat. Und jetzt streck deine starke Hand aus, lass dir das nicht länger gefallen! Erhebe dich und tritt den Barbaren entgegen! Denen geht es doch am Ende gar nicht um uns. Es sind deine Feinde, die jetzt wieder das Haupt erheben. Sie wollen deinen Namen auf der Erde auslöschen, sie wollen alles zerstören, was an dich erinnern könnte. Sie wollen den Widerstand auslöschen, den du dem Todeschaos entgegen gesetzt hast.
So fundamental hat diese Erfahrung der Zerstörung die Menschen erschüttert, dass sie zurückgehen müssen bis an den Anfang der Schöpfung, um etwas zu finden, was sie den Todesmächten entgegensetzen können. Sie machen sich fest bei dem Gott, der schon einmal stärker war als die Mächte der Verwirrung, bei dem Gott, der uns als seine Gemeinde beruft, als sein lebendiges Zeichen auf Erden. Ohne ihn werden wir zerbrechen an den Drohbildern der Verheerung.
Denn, liebe Freunde, das sind doch nicht die irrationalen Ängste unaufgeklärter Vormenschen. Das sind doch die ganz realen Bedrohungen, von denen wir heute alle wissen, auch wenn wir nicht so gern dran denken. Dass unsere kritische Überlebenszone inzwischen durch unsere Art zu leben aufs heftigste bedroht ist, das ist kein Mythos, sondern wissenschaftlich belegte Erkenntnis. Wie genau die Überhitzung der Atmosphäre uns treffen wird, das ist noch nicht wirklich vorhersagbar, aber dass da etwas wirklich Schreckliches auf uns zukommt, das traut sich inzwischen wohl kaum noch einer zu leugnen.
Es kommt alles aus derselben Quelle
Die Chaosdrachen erheben wieder ihr Haupt, sie haben sich eingeschlichen in menschliche Köpfe und Herzen, sie haben uns überredet, die Zerstörung unserer Lebenszone selbst in die Hand zu nehmen. Manchmal zeigen sie sich unverhüllt, wenn Synagogen brennen oder Städte zu Trümmern gebombt werden, wenn Menschen in den dunklen Verliesen und Folterkellern zerbrochen werden. Aber vor allem haben die Todesmächte sich eingeschlichen in unsere tägliche Lebenspraxis, in unsere Art, die Gesellschaft zu organisieren, die unsere Erde ruiniert. Dort, im Alltag von Politik und Wirtschaften, sind sie schwerer zu erkennen, wir können lange die Augen davor verschließen.
Aber wir sollen wissen, dass dahinter immer noch diese Lust an der Zerstörung steht, der Hass auf den Gott, dessen Liebe zum Leben so groß war, dass er in den Kampf gegen die Todesmächte zog: ganz am Anfang, als er die Welt schuf, später, als er in Jesus Christus den Tod besiegte, und jetzt in der Kraft des Heiligen Geistes, wenn er uns daran erinnert, dass die Welt zum guten gemeinsamen Leben geschaffen ist und nicht zum Kampf aller gegen alle. Die Welt funktioniert einfach nicht ohne Menschen, die Solidarität üben und mutig handeln, weil sie ihre Zuflucht bei Gott haben.
All diese Bedrohungen des Lebens und alle Bedrohungen der Zeichen für den lebendigen Gott auf Erden, die gehören zusammen. Es ist immer die gleiche lebensfeindliche Energie, die Menschen zu ihren Werkzeugen machen will: durch primitive Freude am Schadenstiften ebenso wie durch hochkomplizierte Gedankengänge, die unsere Solidarität mit den Schwächsten untergraben. Es ist immer der gleiche Hass auf den Vater des Lebens, der die Liebe, die Solidarität aller Geschöpfe, in die Fundamente seiner Schöpfung eingeschrieben hat. Diese Welt funktioniert einfach nicht ohne die Liebe zu allen Geschöpfen und zwischen ihnen. Aber genau dieses Wissen soll ausgelöscht und zum Schweigen gebracht werden, bis die Erde wieder so unbewohnbar ist wie der Mond.
Gott schützt seine Sache
Der Psalm aus dem Klagegottesdienst zwischen Trümmern endet mit einem Ruf: Erhebe dich Gott! Lass nicht zu, dass deine Feinde triumphieren! Das war damals die Hoffnung, und das bleibt sie bis heute. Am Ende ist es Gottes eigene Sache, und er wird seine Sache zu verteidigen wissen. Schlimm nur, wenn Glaubende daraus folgern, auf sie käme es nicht an. Im Gegenteil! Gott will seine Sache mit uns und durch uns verteidigen. Aber wenn wir nicht dabei sind, dann wird er sich auch Menschen erwecken, mit denen keiner von uns gerechnet hat.
Gott ist unsere Hoffnung, damals wie heute. Wir wissen nicht, wie er seine geliebte Welt rettet. Wir haben auch keine Garantie dafür, dass wir dabei unbeschadet bleiben. Aber wir halten fest an ihm, so wie diese Menschen damals zwischen den Trümmern in ihrem Psalm nach ihm gerufen haben und sich nicht davon abbringen ließen, seine Gemeinde zu sein.
Es muss auf Erden diese Zeichen für Gott geben: den Tempel, Jesus, die Menschen, die er sich als seine Leute erweckt, die Schrift, die Gotteshäuser, den Ruhetag und noch manches mehr. Und es muss die geben, die unablässig nach ihm rufen, weil sie wissen, dass wir nur mit ihm Schutz haben gegen die Mächte der Verheerung im Großen wie im Kleinen.