Der Segen aller Segen
Predigt am 7. Juni 2020 zu 4. Mose 6,22-27
22 Und der HERR redete mit Mose und sprach:
23 Sage Aaron und seinen Söhnen und sprich: So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet:
24 Der HERR segne dich und behüte dich;
25 der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig;
26 der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.
27 So sollen sie meinen Namen auf die Israeliten legen, dass ich sie segne.
Das ist der Segen, der bei uns, aber auch in den meisten anderen Gemeinden die Gottesdienste beschließt. Er ist direkt aus den Anweisungen für die Priester in Israel übernommen, aus dem Alten Testament. Bis heute sprechen ihn auch die Rabbiner nur, wenn sie aus einer Priesterfamilie kommen. Und deswegen sieht man auf Grabsteinen von Angehörigen jüdischer Priesterfamilien bis heute das Symbol der segnenden Hände.
Gottes Lebenskraft sichtbar werden lassen
D.h., in dieser Geste der erhobenen Hände wird die zentrale Aufgabe der Priester sichtbar: sie sollen die Güte des lebendigen Gottes sichtbar werden lassen und auf konkrete Menschen konzentrieren. Wir leben alle Tag für Tag von der Lebenskraft, die Gott in seine Schöpfung hinein verströmt; sie umgibt uns wie uns die Luft umgibt oder wie das Wasser den Fisch umgibt. Aber weil Gottes Leben uns immer umgibt und durchströmt, deswegen nehmen wir sie in den meisten Augenblicken ebensowenig wahr wie die Luft, die wir atmen. Aber die Priester sollen diese Lebenskraft Gottes mit ihrer Segensgeste sichtbar werden lassen, damit wir sie wahrnehmen.
Gleichzeitig konzentriert das auch den Segen auf einen Menschen oder auf eine Gruppe von Menschen. Das, was sowieso immer gültig ist, muss trotzdem immer mal wieder ausgesprochen werden, damit es seine Kraft behält oder neue Kraft bekommt. Deswegen feiern wir alle möglichen Gedenk- und Geburtstage, Jubiläen und Feste. Menschen umgeben uns jeden Tag, wir lieben sie oder auch nicht, aber am Geburtstag wird die Beziehung zu diesem Menschen thematisiert, und wir nehmen von neuem wahr, dass er oder sie Teil unseres Lebens ist. Auch selbstverständliche Wahrheiten müssen immer mal wieder ausgesprochen werden, damit sie ihre Kraft behalten.
Und so ist es auch mit dem Segen: wir werden durch Worte und Gesten an das Leben erinnert, das in uns lebt und von Gott kommt. Und dann kräftigt es uns auch wirklich neu und begleitet uns und legt einen Glanz auf das Leben. Im Lauf der Zeit legt sich wieder Staub auf den Glanz, er verliert allmählich seine Strahlkraft, bis er am nächsten Sonntag erneuert wird.
Es geht um Fülle
Das ist keine Zauberei und erst recht kein Ersatz für die Krankenversicherung, aber du gehst anders durchs Leben, wenn du mit Gottes Segen in deine Woche gehst. Der Gottesdienst mit seinen Worten und Liedern und Gebeten soll dich wieder öffnen für die Dimension Gottes, und im Segen wird das dann alles zusammengefasst, so dass es mitgeht in die kommenden Tage.
So, wie es hier zusammenfassend heißt:
Der Priester »legt den Namen Gottes auf die« Angehörigen des Gottesvolkes. Das ist richtig konkret, fast körperlich gedacht: hier, ich lege jetzt diesen Namen Gottes auf euch, die Erinnerung an ihn, die ganze Geschichte, die ihr mit ihm habt, all das, was wir über ihn wissen, und dass ihr mit ihm verbunden seid: diese Wirklichkeit begleitet euch, und dann kommt Gott und gibt in euer Leben hinein seinen Segen, seine Fülle, seinen Reichtum, seine heilende Kraft, seinen Schutz, seine Dynamik, seine Fantasie und Inspiration, das Gelingen eurer Arbeit, die guten Zufälle, mit denen man gar nicht gerechnet hat, die Momente der Freude, die den Tag hell machen, die Freundlichkeit von Menschen und die eigene gute Laune, die Zuversicht, dass wir unser Leben bewältigen können, eine gewisse Leichtigkeit, die uns den täglichen Ärger nicht so schwer nehmen lässt, Freude an Schönheit und Gelingen, und Zufriedenheit mit dem, was man hat.
Berechnen funktioniert nicht
Und wenn jetzt einer wissen möchte, ob der Segen einfach nur unsere Stimmung aufhellt oder ob sich die Verhältnisse auch wirklich ändern, dann kann ich nur sagen: keiner kann das wirklich auseinanderhalten. Du kannst nicht testweise denselben Tag einmal mit und einmal ohne Segen erleben. Mit unserem Leben können wir nicht experimentieren. Es hat zwar jemand mal nachgerechnet, dass das Wetter an Sonntagen im Durchschnitt besser ist als an den anderen Wochentagen – aber was soll das schon beweisen?
Wir können manches plausibel machen; Gedanken über den Segen sind nicht unvernünftig. Aber bei allen wichtigen Dingen im Leben funktioniert Berechnen und Beweisen einfach nicht. Wir haben nur die alten Worte und die alte Geste und das alte Versprechen Gottes, dass er darauf antworten wird.
Eine Geste mit Geschichte
Wenn Sie übrigens noch einmal auf die segnenden Hände auf diesem Grabstein schauen – ich weiß nicht, ob man von hinten sehen kann, dass die Finger da zwischen Mittelfinger und Ringfinger auseinander gespreizt sind. Ich kriege das gar nicht richtig hin, das muss man lange üben, und in meiner Ausbildung kam das leider nicht vor.
Aber wenn wir jetzt StarTrek-Fans unter uns haben, dann ist denen schon längst klar geworden, dass das auch der Vulkanier-Gruß ist, den wir vor allem von Mister Spock kennen. Den gibt es inzwischen sogar als Computersymbol – hier sehen sie es. Und diese Übereinstimmung ist kein Zufall, denn sie haben bei der Planung der Filme tatsächlich diese jüdische Segensgeste kopiert.
Klare Struktur
Aber nun hängt die Wirksamkeit des Segens natürlich nicht von zwei gespreizten Fingern ab. Wichtiger sind die Worte, die dazu gesprochen werden und uns sagen, worum es geht. Und das ist nicht so einfach, weil die Übersetzung Probleme macht. Man versteht zwar den Sinn, das ist nicht das Problem. Aber es ist schwierig, treffende deutsche Worte zu finden, die den Sinn prägnant und rhythmisch wiedergeben. Deshalb haben Sie den Segen wahrscheinlich schon in mehreren leicht unterschiedlichen Fassungen gehört. Jeder Kollege, jede Kollegin hat da meist eine leicht abgewandelte Version.
24 Der HERR segne dich und behüte dich;
25 der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig;
26 der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.
Der Segen ist klar aufgebaut: drei Zeilen, alle fangen mit »Der HERR« an, und dann folgen jeweils zwei Wünsche oder Aufforderungen: der Herr möge dich a) segnen und b) behüten. »Segnen« ist das Positive, »Behüten« ist der Schutz vor Negativem. So sind es in jedem der drei Sätze zwei verschiedene Wünsche, die sich ergänzen.
Ein strahlender Blick
In der zweiten Zeile geht es um das »leuchtende Antlitz«. Wenn jemand sein Angesicht über mir oder auf mich hin leuchten lässt, dann ist damit der strahlende Blick gemeint, den jemand auf mich wirft, wenn er sich an mir freut. Vielleicht kennst du das, dass jemand einen strahlenden Blick auf dich wirft, und du denkst: was ist denn mit dem los? Wieso guckt die mich so an? Ich war jetzt schon so lange nicht beim Friseur wegen Corona, an mir ist wirklich nichts Besonders zu sehen!
Aber da scheint sich doch jemand zu freuen, dass er oder sie dich sieht. Das gibt es doch gelegentlich, und das kann viel Freude in den Tag bringen. Und so wird in diesem Segen davon gesprochen, dass auch Gott mit solch einem strahlenden Blick auf uns schauen möge und an uns Freude hat.
Manche Leute haben eher das Gefühl, dass Gott meistens kritisch auf sie schaut, so wie es ja tatsächlich genügend Menschen gibt, denen man schon ansieht, dass sie in Gedanken dauernd notieren, worüber sie demnächst mal meckern oder klagen können. Sie kennen sicher auch solche Menschen – oder sind vielleicht selbst so jemand. Aber Gott ist nicht so, das muss man auseinanderhalten. Gott will sich an uns freuen und hat hier den Priestern sagen lassen, was sie den Menschen wünschen sollen, dass er es tun möge.
Eine komplizierte Konstruktion
Das ist eine ganz komplizierte Konstruktion: wer segnet, der wünscht einem anderen, dass Gott ihn freundlich ansehen möge. Aber diesen Wunsch hat Gott ihm sozusagen in den Mund gelegt, und deshalb ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Gott diesen Wunsch auch erfüllen wird. Aber wünschen muss man es einem anderen trotzdem, und der sollte es natürlich auch selbst wollen und dann auch bemerken. Ein ganz kompliziertes Hin und Her.
Beim Segnen greifen Gottes Tun und menschliches Tun ineinander, sie sind miteinander verschränkt, jeder muss seinen Teil tun, damit es klappt. Aber man kann es ganz schwer aufdröseln und fein säuberlich auf die Akteure verteilen. Und weil Gott und Menschen frei sind, deshalb hat keiner allein die Kontrolle darüber. Trotzdem ist das Ganze umgriffen und getragen von Gottes Treue, seiner Macht und seiner Verheißung. Wer gesegnet wird, sollte nicht auf den schauen, der die Segensgeste vollzieht, sondern auf Gott, der sozusagen dahinter steht. Am Segen wird besonders deutlich, dass Gott und Menschen zusammenarbeiten und es keine klare Abgrenzung gibt zwischen dem, was der Eine tut und was die anderen tun.
Wenn also Gott sein Angesicht voll Freude über uns leuchten lässt, dann wird er auch mit seiner Gnade bei uns präsent sein. Gnade ist ein Wort für die überraschenden Geschenke, die Gott in unser Leben legt; die unerwartete Hilfe, die gerade im richtigen Moment kommt; die ungeahnte Seite an mir, von der ich gar nichts wusste, die Gott jetzt aber aus mit herauslockt. Das alles möge geschehen, sagt der Segen.
Angeschaut werden
Und dann noch einmal das Angesicht Gottes, das er auf mich hebt – also: er schaut mich an. Menschen brauchen es, dass sie angesehen und wahrgenommen werden. Neugeborene Babies brauchen es, dass sie angeschaut werden, weil sie nur so lernen, dass es sie gibt. Das Ich eines Menschen wird zum Leben erweckt, weil ein Du es anschaut. Kennen Sie das, wenn man in die Augen eines Babies schaut und zum ersten Mal sieht: ja, da ist jetzt jemand! Da ist jemand zu Hause, er schaut aus dem Fenster (nämlich den Augen), sie schaut zurück! Aber das geht nur, wenn das Kind zuerst selbst angeschaut wurde. Und es ist für ein Kind auch später schwer zu ertragen, wenn seine Eltern oder andere es nicht sehen, wenn sie es übersehen, oder quasi durch es hindurchschauen. Auch wenn wir erwachsen sind, ist es schlimm, nicht bemerkt zu werden. Für manche ist das so schlimm, dass sie dauernd vorn stehen wollen, um gesehen zu werden. Oder sie glauben nur, dass es sie gibt, wenn Fotos von ihnen im Internet stehen. Gott aber, so sagt es der Segen, möge uns nicht ignorieren. Das gleicht viel aus.
Schalom
Und zu diesem allen kommt am Ende der Frieden, auf Hebräisch »Schalom«. Wir wissen, dass Krieg das Schlimmste ist, was Menschen passieren kann. Krieg macht alles kaputt: Häuser und Städte, Leben und Gesundheit, Ernährung und Versorgung, aber auch Vertrauen, Wahrheit und Gerechtigkeit. Nichts Schlimmeres kann man Menschen antun, als sie in einen Krieg zu stürzen.
Deswegen steht Schalom, Frieden, für all das, was ein Krieg kaputt macht. Frieden ist die ganze Fülle des Lebens, das Gedeihen und Aufblühen. Frieden umgreift alles andere Gute, an das wir schon gedacht haben. Im Gruß »Schalom – Salam aleichem – Friede sei mit dir« ist alles zusammengefasst. Mehr und Besseres kann man einem Menschen nicht wünschen.
Gott will es uns geben. Darum sollen wir ihn füreinander bitten. Und wir sollen es uns gegenseitig zusprechen, damit es Wirklichkeit werde.