Sie wollen einfach kein freies Volk sein
Predigt am 21. Juni 2020 zu Psalm 81,1-17
2 Jubelt Gott zu, er ist unsere Stärke,*
jauchzt dem Gott Jakobs!
3 Stimmt an den Gesang, schlagt die Pauke,*
die liebliche Leier, dazu die Harfe!
4 Stoßt am Neumond ins Widderhorn,*
am Vollmond, zum Tag unsres Festes!
5 Denn das ist Satzung für Israel,*
Gebot des Gottes Jakobs.
6 Das hat er als Zeugnis für Josef erlassen,*
als er gegen Ägypten auszog.
Eine Stimme höre ich, die ich noch nie vernahm:/
7 Seine Schulter hab ich von der Bürde befreit,*
seine Hände kamen los vom Lastkorb.
8 Du riefst in der Not und ich riss dich heraus;/
ich habe dich aus dem Versteck des Donners erhört,*
an den Wassern von Meríba geprüft. [Sela]
9 Höre, mein Volk, ich will dich mahnen!*
Israel, wolltest du doch auf mich hören!
10 Kein fremder Gott soll bei dir sein,*
du sollst dich nicht niederwerfen vor einem fremden Gott.
11 Ich bin der HERR, dein Gott,/
der dich heraufgeführt hat aus Ägypten.*
weit öffne deinen Mund! Ich will ihn füllen.
12 Doch mein Volk hat nicht auf meine Stimme gehört;*
Israel hat mich nicht gewollt.
13 Da überließ ich sie ihrem verstockten Herzen:*
Sollen sie gehen nach ihren eigenen Plänen.
14 Ach, dass mein Volk doch auf mich hörte,*
dass Israel gehen wollte auf meinen Wegen!
15 Wie bald würde ich seine Feinde beugen,*
meine Hand gegen seine Bedränger wenden.
16 Die den HERRN hassen, müssten ihm schmeicheln.*
Aber ihre Zeit soll zur Ewigkeit werden.
17 Ich würde es nähren mit bestem Weizen,
dich sättigen mit Honig aus dem Felsen.
Dieser Psalm fängt an als unüberhörbarer Auftakt zu einem großen Festgottesdienst, bei dem sich Israel an seine Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei erinnert. Vielleicht war es sogar eine zweiwöchige Festzeit im Herbst, zwischen Neumond und Vollmond, und die begann und beendete man mit möglichst lauten Tönen aus dem Schofar, einer Art Trompete, die aus dem Horn eines Widders gemacht ist. Damals war die Welt ja noch leiser als bei uns, es gab keine Motoren oder Maschinen, keinen Fluglärm, keine Lautsprecher, und wenn zu den Festtagen im Tempel der Schofar geblasen und viele andere Instrumente laut gespielt wurden, das muss für die Menschen damals eine beeindruckende Lautstärke gewesen sein, die es sonst nicht gab.
Ein Freiheitsfest
Und dann erinnert der Priester die Menschen jedes Mal wieder neu: ihr wart Sklaven in Ägypten, ihr musstet schwere Lasten schleppen und wurdet geschlagen, aber dann kam die Befreiung. Gott beendete die Sklaverei und führte euch heraus aus der Sklavenhaltergesellschaft Ägyptens. In der Wüste gab er euch das Gesetz, die Tora; und in all den vielen Regelungen dieses Gesetzes geht es eigentlich immer nur um das erste Gebot: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
Das ist das Anliegen des jüdischen Gesetzes: Du sollst nicht gedankenlos einfach so leben, wie es alle machen, sondern du sollst unterscheiden. Du sollst dich in deinen ganzen Lebensvollzügen von diesem Freiheitsgott her prägen lassen. Du sollst in jedem Moment darauf achten, dass du dich an ihm orientierst, und nicht an den Göttern und Götzen, denen sich die anderen Völker beugen. Denn die fremden Götter sind Geschöpfe des menschlichen Machtwillens. Sie bringen Ausbeutung und Unterdrückung und Gewalt mit sich. Mit Abscheu erinnerten sie sich in Israel daran, dass manche dieser Götter verlangten, dass man ihnen die erstgeborenen Kinder opfert.
Die alte Welt war voll von solchen Göttern. Alle Reiche hatten ihre National- oder Staatsgötter, in denen man die eigene Macht und Stärke anbetete. Von ihnen erwartete man den Sieg über die anderen Völker. Und natürlich standen sie immer auf der Seite der Könige und auf der Seite der Herren. Die meisten Herrscher stammten angeblich sogar von einem Gott ab. Und natürlich verkündeten ihre Priester es als göttliche Weltordnung, dass diese göttlichen Herrscher zu befehlen hatten. Alle anderen mussten ihnen mit Schweiß und Blut dienen, und manchmal auch mit dem Opfer ihres Lebens. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass Sklaverei etwas Falsches ist. Die Überwältigung und Ausbeutung Schwächerer war die normale Weltordnung, und wer Sklave war, hatte eben Pech gehabt.
Der Ruf der Freiheit
Aber mitten in dieser Welt voller Gewalt und Unterdrückung begegnet Israel dem Gott der Freiheit. Das Erstaunen darüber spiegelt sich noch in dem Psalm wider, wenn es heißt: ich hörte eine Stimme, die ich bis dahin nicht kannte. Ausweglos ausgeliefert waren sie an das Sklavensystem, aber mitten im Elend hörten sie den Ruf der Freiheit. Die fremde Stimme des fremden Gottes, die nicht hinein passte in das Konzert der unzähligen Götter, Halbgötter und Götzen. Sie hatten ihren sicheren Untergang als Volk vor Augen, sie erinnerten sich an den alten Gott ihrer Väter, sie schrien zu ihm um Hilfe, und sie erhielten Antwort. Eine bis dahin unbekannte Stimme erweckte in ihnen die Hoffnung auf Freiheit.
Der Befreiergott, der sich Israel als sein Volk ausgesucht hatte, war fundamental anders als die systemerhaltenden Herrschaftsgötzen der anderen Völker. Und er war dauerhaft an Israel interessiert. Er führte sie durch die Wüste, er versprach ihnen ein eigenes Land, er schloss einen ewigen Bund mit ihnen und gab ihnen am Sinai das Gesetz, durch das sie dauerhaft als freies Volk leben sollten. Von Gottes Seite aus war es der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Und die feierten sie jedes Jahr wieder, im Tempel, mit großer Lautstärke, mit reichlich Festessen und allgemeiner Ausgelassenheit. Alles war gut.
Sein wollen wie die anderen
Jedenfalls hätte jetzt alles gut sein müssen. Aber hier im Psalm mischt sich mitten in den Festbetrieb einmal mehr die fremde Stimme Gottes, der betrübt ist, weil Israel kein verlässlicher Bundespartner ist. Sie inszenieren Festgottesdienste, aber sie hören nicht auf mich!
Worum es da konkret geht, das wird in diesem Psalm nicht genau gesagt, aber die Klage über Israels Untreue zieht sich durch die ganze Bibel. Immer wieder war ihnen diese mühsame Unterscheidung zu lästig und störend. Immer wieder wollten sie einfach nur so sein wie die anderen Völker. Immer wieder wollten sie gern ihre Sonderrolle los sein. Und dann deuteten sie ihren fremden, sperrigen Gott um. Sie machten aus ihm einen Gott, der Gewalt und Unterdrückung absegnete wie die anderen Götter auch. Der Name blieb, aber die Substanz wurde ausgetauscht. Man klebte das alte rechtgläubige Etikett auf eine andere Schublade. Und manchmal machten sie sich noch nicht mal diese Mühe, sondern beteten gleich ganz offen zu einem importierten Gott wie Baal.
Der Gott Israels, der dann durch Jesus auch unser Gott geworden ist, ist ein Fremdling unter all den Mächten, die Menschen sonst verehren. Immer wieder versuchen Menschen, ihn auf das Format ihrer eigenen selbstgemachten Idole zurechtzustutzen, aber das hat glücklicherweise nie lange funktioniert. Er lässt sich das nie lange gefallen.
Ohne religiöses Gewand
Heute haben wir nicht mehr die religiösen Götter der alten Welt. Es gibt keine Tempel, wo Menschen vor einem dicken Geldsack auf die Knie gehen oder um einen goldenen Stier herumtanzen. Die Götzen sind nicht mehr scharf auf religiöse Zeremonien; es reicht ihnen, wenn wir uns ihnen in unserem praktischen Leben unterwerfen. All diese Machtidole, allen voran der Mammon, das Kapital, die wollen nur unser Leben, unsere Aufmerksamkeit, unsere Fantasie und unsere praktische Hingabe – Weihrauch brauchen sie da nicht noch zusätzlich. Sie brauchen auch kein Widderhorn – die ganze Welt ist inzwischen von ihrem Krach erfüllt. Dem Kapital reicht seine Einstufung als systemrelevant, dem Markt reicht es, wenn wir ihm de facto vertrauen, dem Geld reicht es, wenn wir von ihm nicht lassen mögen. Da müssen wir nicht noch niederknien.
Wenn wir das einmal verstanden haben, dass Götzen heute ganz gut ohne das religiöse Gewand auskommen, dann können wir schnell die Götter der modernen Welt erkennen. Schon vor 500 Jahren hat Luther den Mammon als den Zentralgott eingestuft, das Geld und die damals beginnende Geldwirtschaft. Und daran hat sich nichts geändert, außer, dass die Logik des Kapitals inzwischen die Welt komplett zerstört und vergiftet, und die Menschen von innen heraus auffrisst.
Der eigene Wille – bis zum bitteren Ende
Die ganze Welt ist inzwischen mit dem Gott Israels in Berührung gekommen, aber de facto hat sie sich überwiegend für die Götzen von Macht und Ausbeutung entschieden. Und immer noch kann jeder, der hören will, die fremde Stimme des Befreiergottes hören: meine Menschheit hat mich nicht gewollt. Lieber binden sie sich an die Götter des Wohlstandes und der Sicherheit, ja sogar an die Götzen von Nationalismus und Rassismus. Lieber gehen sie in die Sklaverei des Mammon, als den fremden Ruf der Freiheit zu hören.
Was tut Gott, wenn Menschen so sind? Was er immer getan hat: er gibt Menschen ihren Willen. Er lässt sie ihre Wege gehen bis zum bitteren Ende. Gott warnt uns, wie er Israel durch die Propheten gewarnt hat, aber es sind nur Minderheiten, die diese fremde Stimme hören.
Immerhin, 1945, nach dem katastrophalen Zweiten Weltkrieg mit den Millionen Toten und der schrecklichen Zerstörung unzähliger innerer und äußerer Werte, da haben viele in unserem Land verstanden, wie es ist, wenn Gott uns unsere Wege bis zum bitteren Ende gehen lässt. Danach hat er uns 70 Jahre gegeben: Zeit für Umkehr und Zeit, um die Wunden zu heilen. 70 Jahre, 40 Jahre – das sind bei Gott strategische Zeiten, immer wieder tauchen die in Gottes Geschichte auf. Es sind Wartezeiten, die er gibt, damit sich etwas entwickeln kann. Und nach 70 Jahren wollte er sehen, was wir gelernt hätte, und dann schickte er uns 2015, 70 Jahre nach dem Krieg, Menschen aus aller Welt, die vor Elend oder Gewalt oder Perspektivlosigkeit oder vor Krieg ins friedliche Europa geflohen sind. Und das deckte unsere besten Seiten auf: Hilfsbereitschaft, Gastfreundschaft, Solidarität, Hoffnung, Fantasie. Aber es deckte auch unsere schlimmsten Seiten auf: Egoismus, Arroganz, Dummheit, Angst, Bürokratie.
Gottes aktuelle Botschaften
Und jetzt, 5 Jahre später, schickt er uns eine Seuche, und es ist für uns bisher glimpflich abgegangen, weil wir immer noch viele verantwortliche, vernünftige Leute in den verantwortlichen Positionen haben, und weil viele im Land wirklich gelernt haben aus Nationalsozialismus und Krieg. Das wirkt sich immer noch segensreich aus. Aber diese Seuche deckt auch wieder die Schwachstellen auf: unsere Abhängigkeit vom Kapital, die Billigsektoren im Land, sei es die Fleischwirtschaft, sei es die Pflege, seien es soziale Brennpunkte in verkommenen Betonburgen. Der Antiautoritarismus von Leuten, die sinnvolle Vorsorgemaßnahmen als unterdrückerische Freiheitsbeschränkungen verleumden.
Und glauben wir doch nicht, das wäre schon die letzte Botschaft, mit der Gott uns auf den Leib rückt. Da wird noch mehr kommen, ebenso überraschend und unvorhersehbar wie die Corona-Pandemie, die keiner von uns vorher auf dem Zettel hatte. Der Klimawandel hält noch ganz andere Katastrophen bereit.
Aber wer, wenn nicht wir, sollte in der Lage sein, darin die besorgte Stimme Gottes zu hören: entscheidet euch, was für euch gelten soll: das Beste oder das Schlimmste? Je heftiger sich alles zuspitzt, um so klarer wird die Alternative. So viele glauben, man müsse die Stimme sogenannter »besorgter Bürger« ernst nehmen. Ich finde, viel wichtiger ist es, die besorgte Stimme Gottes ernst zu nehmen, wenn er fragt: meine lieben Menschen, wollt ihr denn wirklich schon wieder eure selbstgewählten Wege bis zum bitteren Ende gehen? Soll ich euch wirklich eurem verstockten Herzen und euren kurzfristigen Plänen überlassen?
Es wäre einfach
Ich bin eure Alternative, keiner sonst. Kehrt um, damit ihr lebt! Trennt euch von den falschen Göttern. Opfert nicht die Zukunft der kommenden Generationen auf dem Altar des Kapitals und des Mammons. Übt Solidarität mit denen, die es brauchen. Ich habe ein gutes Leben für euch, ohne Mangel, Not und Kärglichkeit. In die Steinzeit zurück bringt ihr euch selber, das ist nicht mein Weg. Aber ihr müsst auf mich hören, mit ganzem Herzen und all eurer Kraft.
Es wäre alles so einfach; nicht immer mühelos, nicht stets komfortabel, aber einfach. Eure Komfortzone wird auf jeden Fall schrumpfen, darauf stellt euch besser gleich ein. Aber ein gutes Leben habe ich immer noch für euch. Warum hört ihr denn nicht auf mich? Warum wollt ihr kein freies Volk sein? Warum wollt ihr unbedingt eure eigenen Wege gehen – bis zum bitteren Ende?