Die Zerstörung der Götter
Predigt am 5. Juli 2020 zu Psalm 82,1-8
Gott steht da in der Gottesversammlung, *
inmitten der Götter hält er Gericht:
2 »Wie lange noch wollt ihr ungerechte Urteile fällen *
und die gottlosen Verbrecher begünstigen?
3 Schafft Recht den Schutzlosen und Waisen; *
sorgt dafür, dass den Unterdrückten und Armen
Gerechtigkeit zuteil wird!
4 Befreit die Schutzlosen und Bedürftigen, *
entreißt sie der Gewalt der gottlosen Verbrecher!
5 Aber es fehlt ihnen an Einsicht und Erkenntnis, /
in Finsternis gehen sie ihren Weg. *
Da geraten sogar die Fundamente der Erde ins Wanken!
6 Ich selbst hatte zwar gesagt: Ihr seid Götter, *
Söhne des Höchsten seid ihr alle.
7 Aber ihr werdet sterben wie ganz gewöhnliche Menschen, *
und ihr werdet stürzen wie irgendein Machthaber!«
8 Mache dich auf, Gott! Halte Gericht über die Welt! *
Denn alle Völker gehören dir als Erbbesitz.
Dieser Psalm ist so etwas wie eine prophetische Vision aus dem Himmel. Das gibt es ja auch an einigen anderen Stellen der Bibel, dass ein Prophet in wichtigen Momenten im Himmel Mäuschen sein darf. Das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung, besteht sogar zum großen Teil aus solchen Einblicken. In der Lesung vorhin (Lukas 10,17-21) haben wir von so einer Vision gehört, die Jesus hatte: er sah, wie der Satan aus dem Himmel verbannt wurde, genau in dem Moment, als die Jünger hier auf der Erde die Dämonen in Angst und Schrecken versetzten.
Was hinter den Kulissen abläuft, im Himmel, im verborgenen Teil der Welt, das hängt zusammen mit dem, was auf der Erde geschieht. Und umgekehrt. Wir sollen davon wissen, damit wir uns darauf einstellen können. Auch in den Psalmen gibt es diesen Einblick in die verborgene Welt.
Die Götter versammeln sich
Die Situation hier ist eine Ratsversammlung im Himmel, so wie auch kluge Könige, Herrscher, Vorsitzende, Präsidenten und Chefs jeder Art auf der Erde ihre Ratsversammlung haben, wo sie sich Rat holen. Da sitzen also die Götter beieinander, wahrscheinlich die Götter und Mächte, die für die einzelnen Völker zuständig sind. Im Buch Daniel werden sie die »Engel der Völker« genannt. Jede größere Machtzusammenballung auf der Erde scheint so eine Art Vertretung im Himmel zu haben, eine Repräsentanz in der unsichtbaren Welt.
Für uns klingt das merkwürdig, aber damals war es selbstverständlich, dass jeder Staat irgendeine Art von Gott hatte, zu dem man betete und dem man Opfer brachte, damit die Ernte gut wurde und die Feinde Pech hatten. Ganz ohne solche Reste von quasi religiösen Symbolen sind Staaten ja bis heute nicht: es gibt Nationalhymnen, Nationalfeiertage und Nationalflaggen. Und jede größere Firma hat ihr Logo und vielleicht auch ein Motto, einen Leitsatz, in dem sich der Geist konzentriert, der dort herrscht oder herrschen soll. Denn wichtiger als die Fabriken und Maschinen ist der Geist, der in einer Firma oder eben in einem Staat herrscht. Jede menschliche Organisation oder Gruppierung hat so einen Geist, einen Spirit, den man nicht sehen oder anfassen kann, aber er entscheidet ganz wesentlich darüber, wie so eine Gruppierung funktioniert. Überall, wo Menschen sich miteinander verbinden, da entsteht etwas, was größer ist als jeder Einzelne, und worüber kein Einzelner mehr Kontrolle hat. Im Neuen Testament sind das die »Mächte und Gewalten«, über die Jesus Herr geworden ist.
Die Mächte müssen sich verantworten
Und nun schildert unser Psalm so eine Art himmlische Konferenz dieser Mächte. Sie wird von einem obersten Gott geleitet, und dieser höchste Gott ist ausgerechnet – der Gott Israels. Das war Israels zentrale Erkenntnis: es gibt viele Götter und geistig-geistliche Mächte, aber unser Gott hat die ganze Welt geschaffen, die sichtbare und die unsichtbare Welt. Seine Schöpfung sollte durch solche geistigen Mächte geordnet und verwaltet werden. Sie sind nicht grundsätzlich böse, aber sie haben sich von ihrer Aufgabe entfernt, so wie die Menschen auch.
Und hier in dieser Ratsversammlung zieht Gott sie dafür zur Rechenschaft. Die Götter müssen sich eine Standpauke anhören, sie kriegen einen Einlauf verpasst, sie kriegen den Kopf gewaschen, wie man das eben so nennt, wenn der Chef jemandem darlegt, wo er versagt hat. Und am Ende heißt es: das wird Konsequenzen haben, meine Herren!
Gottes spezielle Option für die Armen
Nun ist natürlich die Frage: was haben die Götter falsch gemacht? Und die Antwort ist, wie so oft in der Bibel: sie haben mit den Mächtigen paktiert gegen die Schwachen und Armen. »Wie lange wollt ihr noch die Gangster hofieren?« fragt Gott. »Euer Job wäre es gewesen, die Armen zu beschützen. Stattdessen seid ihr zu Komplizen der Ausbeuter geworden.« Das ist der Maßstab, an dem die Mächte in der Bibel gemessen werden. Das Gesundheitssystem z.B. ist für die da, die körperlich oder seelisch angeschlagen sind. Ein Gesundheitssystem, in dem sich nur Reiche eine Behandlung leisten können, hat sein Ziel verfehlt. Eine Polizei, die die Reichen schützt und die Armen schikaniert, hat ihr Ziel verfehlt. Komplizierte Gesetze, die keiner versteht außer den teuren Fachleuten, haben ihr Ziel verfehlt. Und so weiter.
Warum ist Israels Gott so einzigartig? Nicht weil er der stärkste, größte oder lauteste von allen Göttern wäre, sondern weil er seinen Maßstab konsequent durchzieht: wo werden Menschen unterdrückt, ausgebeutet, oder entrechtet, wo wird Menschen Gewalt angetan, wo werden sie um ihre Lebenschancen gebracht? Wo wird Macht missbraucht?
Gerechtigkeit ist das Fundament der Welt
Der Gott Israels und Vater Jesu Christi ist der Schöpfer der Welt. Und er hat die Welt auf Gerechtigkeit gebaut. Gerechtigkeit ist nicht ein Maßstab, den sich irgendwann mal jemand ausgedacht hätte, und demnächst nehmen wir halt einen anderen, z.B. das Recht der Stärkeren oder das Wirtschaftswachstum. Gerechtigkeit ist eingeschrieben in die Fundamente der Welt. Ohne Gerechtigkeit wird diese Welt krank.
Deswegen geraten die Fundamente der Welt ins Wanken, wenn die Götter sich nicht um Gerechtigkeit kümmern. Wenn die Mächte und Gewalten nicht auf dieser Grundlage der Gerechtigkeit handeln, dann geht die Welt kaputt. Das ist es, was wir im Augenblick erleben: die großen Mächte fahren die Welt gegen die Wand, weil sie sich nicht an Gerechtigkeit orientieren. Und die biblische Gerechtigkeit, auf die die Welt gegründet ist, gilt natürlich nicht nur für Menschen, sondern für alle Geschöpfe, auch für den Regenwald und die Korallenriffe und die Mastschweine und die Schoßhündchen. Gerechtigkeit ist kein Luxus für gute Zeiten, sondern überlebensrelevant. Gerechtigkeit ist überlebensrelevant!
Blind vor Gier
Gott gibt den Göttern noch eine letzte Chance: »Befreit die Schutzlosen und Bedürftigen, entreißt sie der Gewalt der Gangster!«. Aber die Mächte lassen sich nichts sagen. Sie denken nur an ihre eigene Macht, an ihre Selbsterhaltung. Deswegen sind sie blind für die Realität. Sie stolpern durch die Welt wie der Elefant durch den Porzellanladen. Vor lauter Gier können und wollen sie nicht sehen, dass sie sich selbst und uns alle in den Abgrund stürzen.
Deswegen spricht Gott ihnen das Urteil: ich nehme euch euren übermenschlichen Glanz, ich entziehe euch den Status, den ich euch verliehen habe. So wie die Menschen sterblich wurden, als sie sündigten, so sollt ihr nun auch sterblich werden. Ihr hättet als meine Söhne diese Welt regieren können, aber damit wird es nichts.
Und man muss dazu im Hinterkopf haben eine Szene aus dem Buch Daniel, auch so eine prophetische Vision, wo die Großreiche der Antike als fressende Monster auftreten, die alles platt machen. Aber dann werden sie getötet, und die Macht wird einem Menschen, dem »Menschensohn«, gegeben. Und diese Bezeichnung »Menschensohn« hat Jesus oft benutzt, wenn er von sich selbst sprach.
Eine neue Menschheit
Wenn man das zusammennimmt, dann heißt das: Gott hat ursprünglich die übermenschlichen Mächte zur Verwaltung der Welt bestellt. Aber die haben es genauso versiebt wie die Menschen. Und deshalb schuf Gott eine neue Menschheit. Er schuf sie in Jesus, der diesen neuen Weg begonnen hat; und alle, die ihm auf diesem Weg nachfolgen, gehören dazu. Die Welt wird regiert durch Menschen, die vom Geist Jesu bewegt sind.
Liebe Freunde, wir dürfen nicht vergessen: das ist eine Vision. Das ist noch nicht die für uns sichtbare Wirklichkeit. Es sind Entscheidungen im Hintergrund der Welt. Wir sehen und erleben das noch nicht in allen Konsequenzen. Aber die ersten Konsequenzen gibt es schon: Wenn heute die Staaten nicht mehr wie Götter verehrt werden, sondern vergleichsweise zurückhaltend, dann hat das mit dieser Entmächtigung der Mächte zu tun. Wenn Staatenlenker heute nicht mehr in Protz und Prunk auftreten, sondern bloß im schwarzen Anzug oder Kostüm, dann ist das ein Zeichen dafür, dass den Mächten ihr Glanz genommen ist. Und wenn ein Potentat sich zu viele Orden an die Brust heftet oder vor zu viel Fahnen posiert, dann wirkt das lächerlich.
Visionen gegen die Todesmächte
Aber Macht haben die Mächte noch, auch wenn die göttliche Aura schon ziemlich futsch ist. Im Grunde wissen alle Gutwilligen, dass der Kapitalismus dabei ist, unsere Lebensgrundlagen flächendeckend zu zerstören. Aber alle fragen ratlos: wie können wir das ändern? Eher geht die Welt kaputt als das Kapital!
Deswegen brauchen wir solche Visionen wie den 82. Psalm und die Offenbarung und das Buch Daniel und die Visionen Jesu und all das andere aus der Bibel. Je klarer das uns und vielen anderen in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass Gott die Mächte zur Rede gestellt und verurteilt hat, um so deutlicher werden diese Mächte auch überwunden werden.
Im Schutz guter Visionen lebt man besser
Man kann auch das an manchen Punkten schon sehen: wieso kommen wir denn im Vergleich so viel besser durch die Erschütterungen der Gegenwart als z.B. das Amerika Donald Trumps? Weil es bei uns weniger Menschen gibt, die auf solche Machtsprüche reinfallen wie »Macht Amerika wieder groß!« Da, wo die sogenannte Größe nicht mehr so angebetet wird, da lebt man in der Regel besser. Wo Gerechtigkeit mehr ins Zentrum rückt, da ist man weniger der Willkür korrupter Machthaber ausgeliefert. Da herrscht weniger Gewalt. Da sorgt man mehr für einander.
Natürlich müsste auch bei uns noch vieles besser sein, aber an solchen Vergleichen kann man sehen: es ist nicht bedeutungslos, was Menschen glauben und wie sie ticken. Es macht einen Unterschied, wenn Menschen biblisch denken und bei »Sünde« nicht immer bloß Sex im Kopf haben, sondern zuerst an Machtmissbrauch, Blindheit und fehlende Gerechtigkeit denken. Es hilft, wenn Menschen einen kritischen Abstand zu den gottlosen Mächten haben. Es lebt sich besser, wenn Menschen sich am Vater Jesu Christi orientieren: weil dann die Mächte und die Mächtigen darauf Rücksicht nehmen müssen.
Die Bitte der Gemeinde
Deswegen endet dieser Psalm mit einer Antwort der Gemeinde: Gott, halte Gericht über die Welt. Dir gehören doch alle Völker! Du bist kein Nationalgott, der nur für einen Staat zuständig wäre. Du hast die ganze Schöpfung im Blick, wenn du richtest. Und Gericht bedeutet: Gerechtigkeit herstellen.
Deswegen läuft der ganze Psalm auf diese Bitte zu: Gott, halte Gericht! Erneuere die Gerechtigkeit auf der Erde! Und wie es so häufig in der Bibel ist: diejenigen, die etwas von Gott erbitten, sind dann auch die, in deren Umfeld es anfängt zu geschehen. Vielleicht sind sie es sogar, durch die es geschieht. Irgendwie kann Gott dort leichter etwas bewirken. Und es geschieht in einem undurchschaubaren Zusammenspiel von Gott und Menschen, wo man nicht genau trennen kann, was Gott tut und was Menschen tun. Aber die, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, sollen satt werden. Wir wissen nicht genau, wie das geht, aber wir wissen, dass Gott diesen Hunger nach Gerechtigkeit teilt. Und dass er nicht aufgibt. Aber dann sollten wir es auch nicht tun.