Die Lüge vom Mangel
Predigt am 15. Juli 2018 zu Lukas 9,10-17
10 Und die Apostel kamen zurück und erzählten Jesus, wie große Dinge sie getan hatten. Und er nahm sie zu sich und zog sich mit ihnen allein in eine Stadt zurück, die heißt Betsaida. 11 Als die Menge das merkte, zog sie ihm nach. Und er ließ sie zu sich und sprach zu ihnen vom Reich Gottes und machte gesund, die der Heilung bedurften. 12 Aber der Tag fing an, sich zu neigen. Da traten die Zwölf zu ihm und sprachen: Lass das Volk gehen, dass sie hingehen in die Dörfer und Höfe ringsum und Herberge und Essen finden; denn wir sind hier an einer einsamen Stätte. 13 Da sprach er zu ihnen: Gebt ihr ihnen zu essen. Sie aber sprachen: Wir haben nicht mehr als fünf Brote und zwei Fische, es sei denn, dass wir hingehen sollen und für dieses ganze Volk Essen kaufen. 14 Denn es waren etwa fünftausend Männer. Er sprach aber zu seinen Jüngern: Lasst sie sich lagern in Gruppen zu je fünfzig. 15 Und sie taten das und ließen alle sich lagern. 16 Da nahm er die fünf Brote und zwei Fische und sah auf zum Himmel und segnete sie, brach die Brote und gab sie den Jüngern, dass sie dem Volk austeilten. 17 Und sie aßen und wurden alle satt; und es wurde aufgesammelt, was ihnen an Brocken übrig blieb, zwölf Körbe voll.
Jesus ist dabei, seine Jünger zu trainieren, damit sie mit der Welt so umgehen können, wie er es tut. Kurz vor unserer Geschichte hat er sie ins ganze Land geschickt, damit sie selbst ausprobieren, wie es ist, wenn man das Evangelium verkündet und Menschen gesund macht. Und ganz besonders hatte er ihnen eingeschärft, dass sie nicht für ihren Lebensunterhalt vorsorgen sollten, weder Proviant noch Geld sollten sie dabei haben. Aus Gottes Hand kommt nicht nur Heilung, sondern auch Brot. Und so hatten sie immer genug zu essen, während sie den Menschen das Reich Gottes verkündeten.
Eine alte Erfahrung
Das ist eine Erfahrung, die das Volk Gottes von Anfang an immer wieder gemacht hat: die Welt ist von Segen erfüllt. Es ist genug für alle da. Das zeigt sich auf ganz unterschiedliche Weise, aber das Ergebnis ist immer: sie wurden alle satt. Das Volk Israel hat schon lange Zeit vorher bei seiner Flucht aus der ägyptischen Sklaverei erlebt, dass Gott sie versorgt. Wir haben das vorhin in der Lesung (2. Mose 16,2-18) gehört: auf ihrer Wüstenwanderung sandte Gott ihnen Wachteln und Manna. Selbst in der Wüste findet Gott Wege, damit seine Leute nicht hungern müssen.
Als die Jünger dann auf ihrer Tour durchs Land sind, da werden sie von den Menschen eingeladen, die sie mit ihrer Botschaft erreicht oder mit ihrem Gebet gesund gemacht haben. Was sie brauchen, das wird ihnen geschenkt. Das ist für unser Gefühl leichter erklärlich als wunderbares Brot, das vom Himmel fällt.
Später, in der ersten Gemeinde, wurden die Menschen alle satt, weil sie teilten. Es gab keine Armen unter ihnen. Auch das leuchtet uns einigermaßen ein, aber eigentlich ist das natürlich auch ein totales Wunder, wenn Menschen keine Angst mehr haben, dass es für sie selbst nicht reichen könnte. Es ist ein Wunder, wenn Menschen nicht meckern und murren wie das Volk Israel in der Wüste, wenn Menschen nicht um einen Platz in der Welt kämpfen, sondern darauf vertrauen, dass Gott ihnen den schon geben wird. Wer denkt, das wäre kein Wunder und das wäre leicht, der soll das erstmal probieren: Menschen von ihrer Angst vor dem zu-kurz-Kommen zu befreien.
Auch für große Menschenmengen
Und nun sorgt Jesus dafür, dass seine Jünger auf eine noch ganz andere, neue Weise Gott als Versorger kennenlernen. Sie haben gerade durch ihre Reisen dafür gesorgt, dass immer mehr Menschen zu Jesus kommen. Aber als sie dann das Ergebnis sehen, die riesige Menge von 5000 Menschen, da kommt es ihnen nicht in den Sinn, dass Gott auch für die sorgen könnte. Da denken sie eher an die praktische Lösung, die Menschen rechtzeitig wegzuschicken, damit sie sich noch etwas kaufen können. Selbst das wäre aber schwierig geworden, denn die Dörfer waren klein und so viel Vorräte wären da gar nicht gewesen. Wir wissen ja auch alle, wie schnell Aldi vor Weihnachten leergekauft ist. Aber vor allem hätten sie so dieses neue Beziehungsnetz, das da entstanden ist, gleich wieder zerrissen.
Deshalb geht Jesus einen anderen Weg. Er lässt sich bringen, was da ist, er dankt für das, was da ist, er segnet die Speise, er bricht das Brot, er lässt es austeilen – das erinnert alles schon irgendwie an das Abendmahl. Und tatsächlich geschieht das Wunder, dass sie alle satt werden. Am Ende ist noch viel übrig, und es wird sorgfältig in fünf Körben eingesammelt. Auch wenn genug für alle da ist, ist das kein Freibrief, Nahrung zu verschwenden.
Eine sehr besondere Erfahrung …
An dieser Stelle wäre es falsch, sich eine scheinbar vernünftige Erklärung zurecht zu legen, so auf die Art: das eigentliche Wunder bestand darin, dass sie alle angefangen haben zu teilen, und dann reichte das Mitgebrachte. Ja, so hat das in den ersten christlichen Gemeinden funktioniert. Aber hier passierte etwas anderes. Die Leute damals hatten zwar noch keine Computer, aber blöd waren sie nicht. Die konnten schon unterscheiden, ob da bloß einige ihre versteckten Butterbrote rausholten, oder ob – nun ja, ob das Brot sich auf eine Weise vermehrt hat, die sonst nicht die Regel ist. So etwas wird ja aus der Frühzeit des Christentums nicht wieder erzählt, das ist so nur bei Jesus passiert. So wie auch nur von Jesus erzählt wird, dass er auf dem Wasser gegangen ist oder einen Sturm zum Schweigen gebracht hat. Ich glaube, wir müssen damit rechnen, dass Gott manchmal unser normales Vorstellungsvermögen ein wenig durcheinander bringen will.
Aber Gott benutzt dabei nicht ein Schema F. Er macht es immer mal wieder anders. In diesem Fall vermehrt er Brot und Fische auf wunderbare Weise, ein andermal lässt er sein Volk durch die Natur mit Wachteln und Manna versorgen, dann wieder bewegt er die Herzen der Menschen, so dass sie die Jünger zum Abendessen einladen, und oft entfacht er die Solidarität der Christen, untereinander und mit anderen. Es sieht immer wieder anders aus, aber es bleibt dabei: Gott sorgt für seine Leute, und auch für viele andere.
… mit Gottes schöpferischer Kraft
Was sich durch all diese Geschichten ebenfalls hindurchzieht, das ist, dass er dabei auch immer Menschen zusammen bringt. In diesem Fall sammelt er sie in einer unbewohnten Gegend, irgendwo in der Nähe von Bethsaida, in einer Art Niemandsland. Da sind keine Kritiker, mit denen er sich herumstreiten muss. Da sind die Leute aus ihrem normalen Alltag herausgeholt, da ist das bis dahin Selbstverständliche nicht mehr selbstverständlich, da sind sie offen für ganz andere Lebensentwürfe. Und Jesus lässt sie die Erfahrung machen, wie Gottes schöpferische Kraft dafür sorgt, dass das Leben ganz anders funktioniert, als sie es bis dahin für selbstverständlich gehalten haben.
Bis dahin war es für sie selbstverständlich, dass Mangel herrscht, dass das Leben hart ist, dass man sein Brot im Schweiße seines Angesichts essen muss. Jetzt machen sie die Erfahrung, dass der Segen Gottes und seine Fülle nicht mehr verborgen sind, dass das Leben nicht mehr mühsam ist, dass Fülle da ist und nicht Mangel regiert.
Mangel ist nicht selbstverständlich
Wie gesagt, das hat es so nur bei Jesus gegeben, und auch da wohl nur zwei Mal. Aber es ist ein starkes Signal, dass wir uns den normalen Mustern für das, was wir vom Leben erwarten, nicht beugen sollten. Und wenn einer es nicht glauben mag, dass Gott wirklich so etwas tun kann und Menschen auf ganz wunderbare Weise versorgt, dann kann er sich ja auch an das halten, was eher der christliche Normalfall ist: dass Menschen miteinander teilen, dass Menschen die Angst verlieren, sie könnten zu kurz kommen. Das ist auch schon ganz schön wunderbar, und wenn das unter uns real wird, das ist doch auch schon etwas sehr Schönes.
Also, für alle, die sich nicht vorstellen können, dass sich Nahrung auf solche ganz wunderbare Weise vermehrt: dann seht die Geschichte jedenfalls als Hinweis darauf, dass die Welt ein reicher Ort wird, wenn Menschen teilen und nicht mehr denken, sie müssten um ihr Lebensrecht kämpfen.
Zerstörerische Überzeugungen
Es ist nämlich ein grundlegender Unterschied, ob man sich die Welt als einen Ort des Mangels vorstellt, wo Menschen um ihren Anteil kämpfen müssen, oder ob man vom Segen her denkt, der dafür sorgt, dass alle genug haben. Wer sich die Welt als eine Welt voller Mangel und Kampf vorstellt, der arbeitet daran, dass es auch so kommt. Wer den Menschen einredet, es sei nicht genug da, der produziert Angst und Gier. Wenn es nicht reicht, dann ist jeder sich selbst der Nächste. Dann heißt es: ich zuerst! Mein Land zuerst! Lasst uns kämpfen, dass wir uns ein großes Stück vom Kuchen sichern!
Wir erleben das ja im Augenblick an allen möglichen Fronten, wie Menschen ganz offen sagen: ich zuerst! Wir zuerst! Und dann gibt es Krieg: heiße Kriege, kalte Kriege, Handelskriege, Kulturkriege. Und gerade Kriege jeder Art sorgen für Not. Eigentlich ist genug für alle da, aber Angst, Gier und die Erbitterung, die daraus wächst, sorgen dafür, dass es trotzdem nicht reicht. Segen kann nur gedeihen, wenn Menschen miteinander verbunden sind und füreinander sorgen. Segen erschließt sich nur gemeinsam, wenn man anfängt, um ihn zu konkurrieren, dann verdirbt er.
Niemand muss glauben, dass Jesus einfach so auf wunderbare Weise Brot vermehrt hat. Es ist müßig, darüber große Debatten zu führen. Aber es wäre gut, wenn sich die Botschaft dieser Geschichte und vieler anderer ausbreiten würde: Unsere Welt ist reich und gesegnet, und die Fülle Gottes liegt für uns bereit. Niemand muss Angst haben, dass es für ihn nicht reicht. Aber die Voraussetzung dafür ist Verbundenheit, Barmherzigkeit, Solidarität, Freundlichkeit.
Harte Herzen sind schlimmer als harte Böden
Es gibt keinen Grund zur Sorge, denn Jesus steht in der Mitte der Menschen und segnet das Brot. Es gibt keinen Grund zum Kampf, denn Jesus teilt die Menschen in Tischgemeinschaften ein, sorgt dafür, dass jeder seinen Platz bekommt und alle miteinander Gottes Gaben empfangen. Und es gibt keinen Grund zur Verschwendung, denn er sorgt dafür, dass auch mit den Resten sorgfältig umgegangen wird – das ist überhaupt nicht banal, wenn man daran denkt, dass ein großer Teil unserer Lebensmittel auf dem Weg vom Feld auf den Teller verloren geht, verdorben, vernichtet, weggeworfen. Manche sagen, es wäre die Hälfte – ich weiß nicht, was stimmt, aber es ist auf jeden Fall zu viel.
Für uns heute ist das eine Herausforderung an unsere Art, die Welt zu sehen. Die Menschheit war noch nie so reich wie heute, niemand müsste hungern, wenn wir gleichmäßig teilen würden. Nicht harte, unfruchtbare Bösen sind das Problem, sondern harte, unfruchtbare Herzen. Und die Weltbilder, die harte Herzen zu ihrer Selbstrechtfertigung produzieren. Aber wir sind so gewöhnt an diese »Es reicht nicht für alle«-Parolen, dass es eine echte Herausforderung ist, anders zu denken. Wir sind ein bisschen in der Lage der Jünger, als Jesus sie ohne Geld und Proviant auf den Weg schickte: ein Weg ins Ungewisse und Unbekannte. Aber als sie sich auf den Weg machten, erlebten sie: es geht! Es funktioniert! Gottes Segen ist nicht kalkulierbar, aber er fließt wirklich!