Jesus und die Christen im Kontext des 1. Jahrhunderts

NT Wright: Das Neue Testament und das Volk Gottes (1)

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Im Februar war der englische Neutestamentler und ehemalige Bischof von Durham, Nicholas Thomas Wright, in Marburg. Bei diesem Anlass wurde die deutsche Übersetzung seines Buches „The New Testament and the People of God“ vorgestellt. Der Francke-Verlag hat sich verdienstvoller Weise vorgenommen, Bücher von Wright auch dem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Im englischsprachigen Raum ist NT Wright schon bisher einer der bekanntesten Neutestamentler, aber in Deutschland wurde er bisher vor allem in der emergenten Szene wahrgenommen. Das ist schade, denn Wright lässt sich nicht auf eine kirchliche Richtung festlegen.

Darüber hinaus gehört er zu den wenigen Wissenschaftlern, die bewusst auch für den Bedarf der Gemeinde anspruchsvolle, aber verständliche Schriften verfassen. Seine Reihe „… for everyone“ erläutert inzwischen das ganze Neue Testament auf hohem Niveau, aber in gut zugänglicher Darstellung; außerdem gehört auch eine zweite Reihe mit Material für die Arbeit in Kleingruppen dazu.

Sein Buch „Das Neue Testament und das Volk Gottes“ gehört auf die wissenschaftliche Seite seiner Arbeit. Dennoch bleibt es übersichtlicher und zugänglicher als viele andere vergleichbare Bücher. Es ist der Grundlagenband für eine auf sechs Bücher angelegte Reihe („Christian Origins and the Question of God“) über das Neue Testament, von denen bisher drei erschienen sind.

Dieses Buch gehört zu denen, über die ich denke: hätte es das doch nur schon gegeben, als ich studiert habe! Es beackert das Feld, das in der Theologie sonst unter Titeln wie „Einleitung in das Neue Testament“, „Umwelt des NT“, „Geschichte Israels in neutestamentlicher Zeit“, „Geschichte der neutestamentlichen Forschung“ und „Verstehen des NT“ (also Hermeneutik) verhandelt wird. Normalerweise ist das eine etwas dröge Sache: viele Details, die man wissen sollte, viele Hypothesen, deren Sinn und Tragweite man nicht wirklich versteht. Bei Wright wächst das alles zu einem sinnvollen Ganzen zusammen. Er beharrt darauf, dass die unzähligen Details ihren Platz in einer übergreifenden Sicht finden müssen, und das ist eine spannende Sache. Letzten Endes unternimmt er es mit der sechsbändigen Reihe, die Grundlagen seines Faches noch einmal neu zu legen. Eine Mammutaufgabe für einen Einzelnen. Durch seine kirchlichen Ämter ist er anscheinend in den letzten Jahren nicht mehr gut vorangekommen; jetzt, nach seiner Verabschiedung als Bischof von Durham, wird das Unternehmen hoffentlich wieder Fahrt aufnehmen.

Wright geht es darum, Jesus und die frühen Christen wieder in den Rahmen zu stellen, in dem sie gelebt haben: in den Kontext des Judentums des ersten Jahrhunderts. Sein Grundansatz ist die Rekonstruktion der geschichtlichen und symbolischen Welt, in der sich Jesus, Paulus und all die anderen selbstverständlich bewegt haben. Das sollte selbstverständlich sein, ist es aber in der neutestamentlichen Wissenschaft lange nicht gewesen. Oft genug wurden die neutestamentlichen Schriften in einen ihnen fremden weltanschaulichen Kontext gestellt (sei es die reformatorische Theologie, sei es der Idealismus oder der Existenzialismus) und interpretiert. Sie wurden aber ursprünglich geschrieben, um die Fragen des ersten Jahrhunderts zu beantworten, und nicht die des 16. oder 20. Jahrhunderts. Wenn man diese Ursprungssituation außer acht lässt, wird vieles unverständlich oder schief. Wright benutzt gern das Bild vom Puzzle, bei dem Teile übrig bleiben und dann wieder in die Kiste oder unter den Teppich getan werden.

Auch wenn die historische Quellenlage zum Judentum des ersten Jahrhunderts und besonders zur frühen Christenheit nicht gerade berauschend ist, ist Wright doch zuversichtlich, dass es gelingen kann, ein konsistentes Gesamtbild zu zeichnen, in dem dann auch die Details ihren sinnvollen Ort finden. Damit grenzt er sich einerseits von der Skepsis ab, die bezweifelt, dass man geschichtlich über Jesus überhaupt etwas Sinnvolles sagen kann. Andererseits besteht er darauf, dass sich alle Rekonstruktionen im Rahmen der Datenlage bewegen sollten. Zu viele Hypothesen sind eigentlich nicht gesicherte Tatsachen, sondern nur langjährige wissenschaftliche Konvention oder aber abenteuerliche Konstruktionen Einzelner.

Ich werde in der nächsten Zeit das Buch hier noch ausführlicher vorstellen. Eine Perspektive möchte ich aber schon vorwegnehmen: wenn Jesus und die frühen Christen in den Kontext des damaligen Judentums gestellt werden, dann verändern sich auch die Fragestellungen, mit denen wir das Neue Testament lesen. Wright legt überzeugend dar, dass die Frage nach der Befreiung Israels (und dann der ganzen Schöpfung) aus der Unterwerfung unter die Mächte der Welt für alle Juden der damaligen Zeit zentral war. Es gab darauf die unterschiedlichsten Antworten, aber die Frage verband alle, auch Jesus und die Christen. Diese Erlösung wurde hier auf dieser (wenn auch durchaus runderneuerten) Erde erwartet. Ein abstrakter Ort der Erlösung jenseits von Zeit und Raum war im Judentum so gut wie nicht denkbar.

Das wiederum bedeutet, dass die Frage nach der Veränderung der Welt nicht eine „uneigentliche“ Konsequenz aus dem „eigentlichen“ Kern des Evangeliums ist, sondern ins biblische Zentrum führt. Es gibt für diese Frage sicherlich viele denkbare christliche Antworten und Wege, aber die Frage selber gehört zum Zentrum und nicht an die Peripherie. Hier kann die Arbeit von NT Wright Entscheidendes dazu beitragen, dass die christliche Botschaft wieder vom Kopf auf die Füße gestellt wird.

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