Wovon sich keiner zu reden getraut hat
Predigt am 14. Januar 2018 zu 1. Korinther 2,1-10
Als ich zu euch kam, Geschwister, um euch das Geheimnis zu verkünden, das Gott uns enthüllt hat, versuchte ich nicht, euch mit geschliffener Rhetorik und scharfsinnigen Argumenten zu beeindrucken. 2 Nein, ich hatte mir vorgenommen, eure Aufmerksamkeit einzig und allein auf Jesus Christus zu lenken – auf Jesus Christus, den Gekreuzigten. 3 Außerdem fühlte ich mich schwach; ich war ängstlich und sehr unsicher, als ich zu euch sprach. 4 Was meine Verkündigung kennzeichnete, waren nicht Überredungskunst und kluge Worte; es war das machtvolle Wirken von Gottes Geist. 5 Denn euer Glaube sollte sich nicht auf Menschenweisheit gründen, sondern auf Gottes Kraft.
6 Und doch ist unsere Botschaft eine Botschaft voller Weisheit. Verstanden wird diese Weisheit allerdings nur von denen, die der Glaube an Christus zu geistlich reifen Menschen gemacht hat. Denn sie hat nichts zu tun mit der Weisheit dieser Welt und mit der Klugheit ihrer Herrscher, deren Macht schon bald vergeht. 7 Nein, was wir verkünden, ist Gottes Weisheit. Wir verkünden ein Geheimnis: den Plan, den Gott schon vor der Erschaffung der Welt gefasst hat und nach dem er uns Anteil an seiner Herrlichkeit geben will. Dieser Plan ist bisher verborgen gewesen. 8 Keiner von den Machthabern dieser Welt hat etwas von dem Plan gewusst; keiner von ihnen hat Gottes Weisheit erkannt. Sonst hätten sie den Herrn, dem alle ´Macht und` Herrlichkeit gehört, nicht kreuzigen lassen. 9 Es heißt ja in der Schrift: »Kein Auge hat je gesehen, kein Ohr hat je gehört, und kein Mensch konnte sich jemals auch nur vorstellen, was Gott für die bereithält, die ihn lieben.« 10 Uns aber hat Gott dieses Geheimnis durch seinen Geist enthüllt – durch den Geist, der alles erforscht, auch die verborgensten Gedanken Gottes. [NGÜ]
Um Paulus hier zu verstehen, sollte man seine Geschichte mit der Gemeinde in Korinth kennen. In der Apostelgeschichte wird davon erzählt, dass er aus Athen nach Korinth kam. Athen pflegte damals seinen Ruf als Hauptstadt der griechischen Philosophie. Sokrates, Plato und Aristoteles hatten dort gewirkt, die ganz großen Philosophen des Altertums. Das war zu Paulus‘ Zeiten zwar schon einige Jahrhunderte her, aber in Athen bildeten sie sich immer noch viel ein auf ihre Tradition der Weisheit.
Und Paulus hat dort auch eine eindrucksvolle Rede gehalten, mit der er den athenischen Intellektuellen einen eleganten Zugang zum Christentum öffnete. Bis heute ist man beeindruckt, wenn man das in der Apostelgeschichte liest. Aber der Effekt war so gut wie Null. Die Athener wussten nicht so recht, was sie mit einer Argumentation machen sollten, die wie ein richtiger philosophischer Vortrag begann und mit der Auferstehung Jesu endete. Sie hatten keine Schublade, in die das passte. Und deshalb ignorierten sie Paulus einfach. Sie sagten: da werden wir noch mal drüber diskutieren, aber nicht heute. Sie argumentierten nicht gegen ihn, sie gaben seinen Gedanken einfach kein Forum. Sie ignorierten ihn.
Ein drohender Fehlschlag
Damit war Athen die letzte in einer Reihe von Enttäuschungen, die Paulus auf seiner Griechenlandreise erlebte. Eigentlich war er durch einen Traum ausdrücklich dorthin geholt worden, es war ein klarer Ruf Gottes nach Griechenland gewesen, aber dann ging alles schief: Paulus kam in eine Stadt, fand Menschen, die das Evangelium hören wollten, aber dann gab es Ärger, er wurde denunziert und angegriffen und musste die Stadt fluchtartig verlassen. Manchmal sind ihm Leute sogar hinterher gereist, um seine Arbeit auch in der nächsten Stadt noch kaputt zu machen. Und dann schließlich das Desinteresse, auf das er in Athen stieß – man kann nachvollziehen, dass Pauls entmutigt war, als er es in Korinth noch einmal versuchte. Er war verunsichert, und vor allem wollte er es nicht noch einmal so machen wie in Athen.
In Athen, so dachte Paulus anscheinend, da war ich nicht klar genug. Ich habe von der Auferstehung gesprochen, aber nicht vom Kreuz. Ich habe mich zu sehr auf meine Hörer und ihren Denkrahmen eingelassen. Das hat nichts gebracht. Das Kreuz muss von Anfang an dabei sein.
Es geht dabei nicht um theologische Spitzfindigkeiten. Im Kreuz konzentrierten sich die Probleme und Widersprüche der ganzen Gesellschaft. Das römische Imperium beruhte ja auf Sklaverei und Eroberung. Es war ein großes Geschäft: Erst plünderte man die Städte und verkaufte die Bewohner in die Sklaverei, und die, die dann noch übrig blieben, waren so traumatisiert, dass sie sich nicht wehrten, wenn sie ins Reich eingegliedert wurden und hohe Steuern zahlen sollten.
Das Kreuz: geheimes Zentrum des Imperiums
Für alle, die sich dann immer noch nicht fügten, gab es das Kreuz: entlaufene Sklaven und Aufständische gegen die römische Herrschaft wurden ausgepeitscht und gekreuzigt. Das war so schrecklich grausam, dass die Menschen in der Regel keinen mehr Widerstand wagten. Die Römer selber sprachen nicht gern darüber, obwohl das Kreuz eigentlich das Fundament ihrer ganzen Herrschaft war. Die ganze Kultiviertheit der römischen Oberschichten, ihr Wohlstand und ihr angenehmes Leben beruhte auf dieser schrecklichen, brutalen Drohung mit Peitsche und Kreuz. Und auch die einfachen Leute in Rom ernährten sich vom billigen Getreide, das die unterworfenen Ägypter liefern mussten.
Und so wie heute unser Wohlstand von billigem Öl aus dem Orient gespeist wird, von billigem Gas aus Russland und von billigen Arbeitskräften aus China und anderen Ländern, so brauchte das römische Imperium billiges Getreide aus Ägypten, Zölle und Steuern aus allen Provinzen und Sklaven von der Barbarengrenze. Und dieses ganze System beruhte auf der Drohung mit dem Kreuz. Das sorgte für stabile Verhältnisse, so wie wir heute davon profitieren, dass Diktatoren ihre Völker zur Not auch mit brutaler Gewalt in Schach halten, mit Foltergefängnissen, Giftgas und Fassbomben.
Aber davon spricht man nicht, weder damals noch heute. Der berühmte römische Redner Cicero hat mal gesagt: das Wort »Kreuz« nimmt man vor den Ohren römischer Bürger am besten noch nicht mal in den Mund. Davon wollen wir nichts wissen. So eine brutale, grausame Prozedur, da denken wir noch nicht mal dran.
Der Schlüssel zur Welt am unerwarteten Ort für unerwartete Menschen
Und dann kommt Paulus nach Korinth und stellt genau das in den Mittelpunkt seiner Botschaft. Und jetzt nicht im Sinn einer empörten Anklage, sondern so, dass er sagt: dort am Kreuz, im Zentrum der Dunklen Macht, hat Gott durch Jesus einen neuen Anfang gemacht. Genau da, wo die Gebildeten und Mächtigen lieber nicht so genau hingeschaut haben, hat Gott den Schlüssel zum Geheimnis der Welt verborgen. In der tiefsten Finsternis dieser Welt hat Gott für den Sieg des neuen Lebens gesorgt, das mit Jesus gekommen ist. Jesus ist dort nicht gebrochen und vernichtet worden, sondern er ist auferstanden.
Um das so sagen zu können, mussten Paulus wohl erst alle anderen Auswege versperrt sein, er musste erst enttäuscht, frustriert und vom völligen Scheitern bedroht sein, bevor er alles auf diese Karte gesetzt hat und das große Tabu des Kreuzes angegangen ist. Erst als er keine Chance mehr sah, den Gebildeten das Evangelium auf zivilisierte Weise zugänglich zu machen, da entschloss er sich, die Überwindung des schreckenerregenden Kreuzes ins Zentrum seiner Verkündigung zu stellen. Und damit hat er Menschen gewonnen, nicht unbedingt die Honoratioren und das kultivierte Bürgertum, sondern vor allem die Hafenarbeiter und die anderen Malocher von Korinth, die Billiglöhner und die billigen Frauen aus den Love-Mobils, und auch ein paar ehrliche Leute aus der Oberschicht wie Erastus, den Stadtkämmerer von Korinth, der sich vielleicht berufsbedingt keine Illusionen über die Machtverhältnisse und Geldströme im Reich machte.
All diese Menschen, die sehr viel näher an den Schattenseiten des Imperiums dran waren als die Intellektuellen von Athen, die konnten etwas anfangen mit der Botschaft von Gottes Neuanfang am Kreuz, dort, wo die Welt am finstersten ist. Es waren immer noch nicht riesige Zahlen, aber doch mehr als bisher, und vor allem hatten dort die Zerstörer keine Chancen, die Leute, die sonst immer alles kaputt machten, was Paulus aufgebaut hatte. In einer Handelsstadt wie Korinth, wo Leute aus aller Herren Länder ein und aus gingen, da hatten auch die römischen Aufseher Wichtigeres zu tun, als sich um Konflikte zu kümmern, die gerade mal 50 oder 100 Leute aus dem Hafenmilieu betrafen. So blieb Paulus jahrelang unbehelligt und konnte in Ruhe eine starke Gemeinde aufbauen.
Auch ganz unten kann man das Kreuz vergessen
Und im Rückblick sagt er: Macht euch klar, dass das nur funktioniert hat, weil ich mich dem dunklen Tabu des Kreuzes gestellt habe: weil ich es nicht nur angedeutet habe, sondern weil ich offensiv von Gottes Weg durch die tiefste Dunkelheit unserer Gesellschaft geredet habe, von dem, was keiner sonst sich zu sagen traute. Aber so ist erst eine Situation entstanden, in der Gottes Geist sein Werk tun und Menschen herausbrechen konnte aus dem System des Raubens und Ausplünderns, das die Basis dieser ganzen Gesellschaft bildet. Ich musste erst lernen, Gottes Geist zuzutrauen, dass er Menschen auch gegen alle Wahrscheinlichkeit auf Gottes Seite ziehen kann – aber dazu musste ich erst keine andere Wahl haben als das Evangelium selbst wirken zu lassen, ohne die ganzen kulturellen Ausschmückungen, ohne die Krücken, mit denen ich es stützen wollte. Dass Gott ausgerechnet da sein neues Leben versteckt hat, wo keiner hin will und alle schnell weg wollen, das ist so schwer zu glauben, dafür habe auch ich lange gebraucht.
Das Ganze war so abseitig, dass ich auch unter dem Radar der politischen Polizei durchgeflogen bin. Keiner von den Herren dieser Welt hätte da Gefahr gewittert, keiner hat das ernst genommen. Aber ihr, meine Jesusleute von Korinth, ihr sollt das wissen und nie vergessen!
Paulus betont das so, weil inzwischen auch der Gemeinde nicht mehr klar war, dass ihre Basis die Botschaft vom Weg Gottes ans Kreuz war, an den dunkelsten Ort der Welt. In der Gemeinde hatte sich inzwischen eine Art Promikult unter christlichem Vorzeichen eingeschlichen. Die waren zwar gesamtgesellschaftlich immer noch ziemlich weit unten, aber untereinander konkurrierten sie trotzdem darum, wer der Größte und die beeindruckendste Persönlichkeit war. Wer der Größte ist, darüber kann man sich ganz oben in der Gesellschaft ebenso streiten wie ganz unten in der Kreisklasse. Wer vorne stehen darf, darum rangeln sie in Berlin genauso wie in Kleinkleckersdorf. Aber Paulus sagt ihnen: dass das bei euch so ist, daran merkt man, dass ihr noch ganz am Anfang seid.
Alternative Weisheit
Wer verstanden hat, dass Gott aus dem Gerangel um Ansehen und Mitspracherechte ausgestiegen ist, der wird dann hoffentlich auf jeder Ebene aufhören, seinen Selbstwert aus seiner Position zu beziehen. Das zu verstehen ist der Einstieg in eine andere Sicht auf die Welt. Paulus nennt das die »Weisheit der Vollkommenen«, die Weisheit derer, die die Welt vom Kreuz her ansehen und durchdenken. Du wirst die Welt erst verstehen, wenn du auf die Energieflüsse schaust, durch die die Mächtigen den Armen die Kraft abziehen. Du durchschaust die Welt erst wirklich, wenn du von den Opfern her denkst. So lange du die ausblendest, weißt du gar nicht, wie alles wirklich zusammenhängt, und erst recht nicht, wieso das Kreuz Gottes Lösung ist.
Bonhoeffer hat mal sinngemäß gesagt: wir müssen die Menschen nicht so sehr von dem her verstehen, was sie tun, sondern vor allem von dem her, was ihnen angetan worden ist, was sie erlitten haben. Erst so begreifen wir sie. Und es ist kein Zufall, dass er das auch erst verstanden hat, als er ganz unten angekommen war, im nationalsozialistischen Gefängnis. Echte Weisheit denkt von den Schattenseiten her und von denen her, die den Preis dafür bezahlen, dass die anderen es gut und komfortabel haben. Deshalb kann diese Weisheit nicht attraktiv sein, sondern sie wirkt als Störfaktor, sie scheint den Kulturträgern unsinnig und nicht fein genug. Sie befassen sich lieber gar nicht damit wie die Philosophen von Athen. Diese Art von Weisheit wird nur dann Anhänger finden, wenn Gottes Geist sich einmischt.
Fragen, die offen bleiben
Damit ist diese Predigt fast zu Ende, aber die eigentlichen Fragen fangen jetzt erst an: was entspricht eigentlich bei uns dieser dunklen Bedrohung des Kreuzes, das damals die ganze Gesellschaft in all ihrer Ungerechtigkeit stabilisiert hat? Wie sieht heute Gottes Weg des Lebens mitten in all den Dunkelheiten aus, von denen wir wissen, aber auch nicht gern reden? Was würde es jeden von uns kosten, diesen Weg zu suchen und dann auch zu gehen? Da nützt es nichts, theologische Richtigkeiten zu zitieren. Man muss sich auf den Weg machen wie Paulus, der sich von Gott in Unsicherheit und Frustration bringen ließ, bis er lernte, wie das Evangelium wirklich wirkt. Nicht nur in Korinth ist diese Weisheit schnell wieder verloren gegangen. Der Brief von Paulus ist wie eine Flaschenpost, die zu uns kommt und sagt: es gibt sie wirklich! Es ist keine hoffnungslose Suche. Mach dich auf den Weg, dieses unbekannte Land zu finden!