Kostbarkeiten in Zonen der Bedrückung
Predigt am 2. August 2015 zu Philipper 3,4b-11
Wenn ein anderer meint, er könne sich auf Fleisch verlassen, so könnte ich es viel mehr. 5 Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, lebte als Pharisäer nach dem Gesetz, 6 verfolgte voll Eifer die Gemeinde und war untadelig in der Gerechtigkeit, wie sie das Gesetz vorschreibt.
7 Doch was mir damals ein Gewinn war, das habe ich um Christi Willen als Verlust erkannt. 8 Ja noch mehr: ich sehe alles als Verlust an, weil die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, alles übertrifft. Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Mist, um Christus zu gewinnen 9 und in ihm zu sein. Nicht meine eigene Gerechtigkeit suche ich, die aus dem Gesetz hervorgeht, sondern jene, die durch den Glauben an Christus kommt, die Gerechtigkeit, die Gott aufgrund des Glaubens schenkt. 10 Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinen Leiden; sein Tod soll mich prägen. 11 So hoffe ich, auch zur Auferstehung von den Toten zu gelangen.
Wenn wir irgendwo in einer Kinoreklame das Wort »Fleisch« entdecken würden, also vielleicht »Begierden des Fleisches« oder so, dann wüssten wir so ungefähr, was uns in diesem Film erwartet, oder mindestens, womit wir da gelockt werden sollen: nackte Haut und schwüle, verklemmte Stimmung. Und das führt uns leider in die völlig falsche Richtung, wenn wir diese Passage aus dem Philipperbrief verstehen wollen. Was Paulus hier in erster Linie mit »Fleisch« meint, ist die Herkunft, die Abstammung von einer ehrwürdigen Traditionslinie.
In der alten Zeit war es für Menschen eine ganz wichtige Sache, dass sie ihre Herkunft durch möglichst viele Generationen zurückverfolgen konnten.
Die Bedeutung der Abstammung
In vielen Teilen der Welt ist das bis heute sehr wichtig, aus welchem Clan man kommt, und auch bei uns gibt es in vielen Wohnungen so eine Ecke, wo Bilder der Eltern und Großeltern hängen, und im Lauf der Zeit kommen dann die Bilder von der Hochzeit der Kinder und von den Enkeln und Urenkeln dazu. Und für viele Menschen, besonders, wenn sie dann schon Großeltern und Urgroßeltern geworden sind, ist das ein Ort, der ihnen am Herzen liegt, sie zeigen ihn Besuchern und können viele Geschichten dazu erzählen. Man merkt, wie wichtig ihnen das ist, dass die Kinder was Anständiges geworden sind und die Enkel gut heranwachsen. Bei uns heute sind es vielleicht stärker noch die folgenden Generationen, aus denen Menschen ein Gefühl von Bedeutung und Wert schöpfen, nicht so sehr die vorangegangenen.
Aber das alles ist kein Vergleich mit der Bedeutung, die die Abstammung damals in der Zeit des Paulus hatte. Unter seinen jüdischen Volksgenossen gab es viele, die ihre Familie bis zu den 12 Söhnen des Erzvaters Jakob zurückverfolgen konnten. Und da ging es ja nicht nur um eine Familientradition, sondern das war gleichzeitig religiös aufgeladen, weil Israel Gottes Volk war. Diesem Volk war die Überlieferung vom befreienden Gott anvertraut, der eine Alternative zu all den unterdrückerischen Systemen und Regimen schaffen wollte. Die ganze jüdische Kultur war von diesem Bewusstsein durchzogen, dass ihnen als Volk eine unglaublich wichtige Botschaft anvertraut ist. Das hat es den Juden nicht immer leicht gemacht, sie haben das oft als schwere Last empfunden, aber in allen Bedrückungen haben sie sich an diesem Auftrag festgehalten und tatsächlich ihre Identität bewahrt.
Auch Paulus konnte seine Herkunft zurückverfolgen bis zu Benjamin, einem der Lieblingssöhne des Erzvater Jakob. Und er hatte sich bewusst in diese Tradition gestellt, wie sie im Gesetz des Mose definiert war, er war nicht lax und lau, sondern als ehemaliger Pharisäer hatte er diese Tradition und diese Kultur in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit gestellt, hatte dafür gelebt und gekämpft.
Eine Umwertung aller Werte
Aber dann war ihm der auferstandene Jesus begegnet, und diese Erfahrung hatte die ganze altehrwürdige Familientradition weit übertroffen, und es war diese Begegnung, aus der er von da an seine Identität schöpfte. Wenn er jetzt seine Geschichte erzählte, dann war es die Geschichte seiner Begegnung mit Jesus, und nicht mehr die Familientradition. Und es war auch nicht mehr die Verwurzelung in der jüdischen Art zu leben, diese von Gottes Gesetz geregelte Lebensform, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen war.
Für Paulus war das eine totale Umwertung aller Werte, und deshalb redet er hier mit starken, heftigen Worten davon. Alles, was mir früher mal das Wichtigste im Leben war, habe ich hinter mir gelassen, weil mir etwas Besseres begegnet ist. Früher habe ich daraus meinen ganzen Selbstwert gezogen, aber jetzt habe ich etwas viel Besseres gefunden. Was mir früher so wichtig war, das ist für mich nur noch Schrott, ich habe etwas Besseres!
Ein unerwarteter Schatz …
Vielleicht merken Sie, dass das ganz nahe an der Geschichte von dem verborgenen Schatz liegt, die wir vorhin in der Lesung gehört haben (Matthäus 13,44-46).
Der Mann verkauft seine ganzen Habseligkeiten, die ihm bis dahin sicher viel bedeutet haben, weil er dafür etwas noch viel Kostbareres bekommen kann.
Das heißt, es geht auch bei Paulus nicht darum, dass seine Abstammung und seine Tradition in sich schlecht wären. Da hat sich nichts geändert, aber Paulus ist auf etwas viel Besseres gestoßen, und das hat alles, was ihm früher wichtig war, entwertet. Die Freiheit, die durch das jüdische Volk und seine Kultur in die Welt transportiert werden sollte, die ist in Jesus Mensch geworden, sie war nicht nur eine kostbare Sehnsucht, sondern sie wurde real, mitten im unterdrückerischen Imperium Romanum, ganz unten am Fuß der Herrschaftspyramide, bei einem der unterdrückten Völker, da erschien mit Jesus eine Freiheit, die man vorher nicht gekannt hatte. Sie zeigte sich im Leben und Sterben Jesu, aber auch Paulus lernte, so zu leben, und er lernte die Kraft kennen, die vom auferstandenen Jesus auch zu ihm kam. Die stellte alles andere in den Schatten, und er war angetrieben von diesem Wunsch: ich möchte so leben, dass diese Kraft so stark wie möglich in meinem Leben fließt.
… auch an ungewöhnlichen Orten
Und Paulus kam immer wieder in Situationen, wo er diese Kraft dringend brauchte. Der war so oft im Gefängnis, auch diesen Brief schreibt er aus einer Gefängniszelle. Aber dann floss die Kraft tatsächlich. Und irgendwie hat Paulus ganz oft solchen Eindruck auf seine Bewacher gemacht, dass die schließlich auch Christen wurden.
Das ist wirklich sehr bemerkenswert. Der harte Kern des römischen Imperiums war der Sicherheitsapparat – Militär, Polizei, Gefängnisse, Gerichte, Folter, Todesstrafe. Das ist bis heute so. Alle Herrschaftssysteme haben ihre KZs, ihren Gulag, ihr Guantanamo, ihre Geheimdienste und Sicherheitsdienste. Das ist ihr entscheidendes Zentrum, auch wenn der in ruhigen Zeiten nicht immer in Aktion tritt, oft noch nicht mal sichtbar wird.
Eine Kraft, die das Imperium durchdringt und verwandelt
Wenn es nun aber dem auferstandenen Jesus gelingt, mit seiner Kraft diesen innersten Kern des Imperiums zu erreichen und ihn mit Liebe zu unterwandern, wenn es Jesus und seiner Bewegung gelingt, dem Herrschaftssystem seine Funktionäre abspenstig zu machen und ihre Loyalität zu untergraben, dann kommen die Grundfesten aller Gewaltregimes ins Wanken.
Militärisch kannst du gegen ein einigermaßen stabiles Regime nichts erreichen. Wenn du ein Unterdrückungsregime mit seinen eigenen Waffen bekämpfst, wird alles nur noch schlimmer. Wir bekommen das seit Jahren in Syrien vorgeführt. Da geht ein ganzes Land durch so einen Konflikt zu Grunde. Auch Israel hat so einen Aufstand gegen die Römer probiert, etwa 20 Jahre nachdem Paulus diesen Brief schrieb. Die konnten zuerst die römischen Besatzungstruppen überrumpeln, aber dann haben die Römer ihr Interventionsheer geschickt, und das hat alles platt gemacht. Fürchterliche Massaker. Gegen ein Imperium auf der Höhe seiner Macht hast du militärisch keine Chance.
Und deshalb ist Paulus so begeistert von der Kraft des gekreuzigten und auferstandenen Jesus, durch die Gott die Welt von innen heraus verwandelt. Normalerweise hat ein armes, unterdrücktes Volk auf der untersten Ebene der globalen Hierarchie keine Chance, die Spitze zu beeinflussen. Die müssen schon froh sein, wenn sie überleben können. Aber in der Kraft Jesu haben die Christen zuerst geheime befreite Zonen geschaffen, wo die Wunden geheilt werden konnten, die die Gewalt des Imperiums den Menschen zugefügt hat, und am Ende haben sie das Imperium selbst unterwandert und überwunden. Das hat drei Jahrhunderte gedauert, es hat Opfer gekostet, aber längst nicht so viele Opfer, wie erfolglose Aufstände und Kriege gekostet haben.
Wer vertraut der Verheißung?
Paulus hat zu denen gehört, die diese Opfer gebracht haben. Seinen letzten Gefängnisaufenthalt hat er wahrscheinlich nicht überlebt. Er hat tatsächlich den Leidensweg Jesu bis in den Tod hinein geteilt, so wie er es sich gewünscht hat.
Kann man das ernsthaft, sich Leiden wünschen? Paulus war kein Masochist oder irgendwie in Selbsthass verstrickt. Aber er wusste, dass die volle Lebenskraft Gottes sich gerade in der größten Gefahr entfaltet. So wie Gott auf die Kreuzigung Jesu mit der Auferstehung antwortete. Gott braucht Menschen, die freiwillig Leiden auf sich nehmen, damit er durch sie seine Macht sichtbar machen kann. Wenn Gott das Personal eines Gefängnisses erreichen will, dann muss er dafür seine Leute ins Gefängnis schicken, und die müssen bereit dazu sein, auch wenn sie wissen, dass das überhaupt nichts Schönes ist. Die Kraft der Auferstehung entfaltet sich im Angesicht der Gefahr, ja im Angesicht des Todes.
Sehr ungewohnte Gedanken
Für uns sind das relativ ungewohnte Gedanken. Wir können morgens aufstehen ohne Angst, dass uns irgendjemand auf der Straße schnappt und verschleppt. Nebenan sind heute Nacht keine Bomben eingeschlagen. Wir haben genug zu essen und zu trinken. Wir können unsere Zukunft planen. Wir müssen niemanden bestechen, um einfach unserer Arbeit nachgehen zu können. Wir sind damit enorm privilegiert gegenüber vielen anderen Menschen auf der Welt. Deswegen ist es für uns auch ein noch größeres Geheimnis, wieso Gottes Kraft sich gerade im Angesicht der Bedrohung als so kräftig erweist, dass Paulus solche Situationen beinahe schon herbeisehnt. Auch für andere ist das ein Geheimnis, aber wir haben es wahrscheinlich noch schwerer als andere, es zu verstehen.
Verstehen können es wahrscheinlich noch am besten diejenigen unter uns, die irgendeinem Grund unter sehr speziellen Druck geraten. Die eine ganz besondere Last tragen, die gerade ihren ganz eigenen harten Kampf zu kämpfen haben. Um so aufmerksamer sollten wir alle auf diese Botschaft aus dem imperialen Kerker hören: Gottes Kraft der Liebe und des Lebens zeigt sich besonders dort, wo die Mächte des Todes ihre konzentrierte Macht entfalten. Aber dazu braucht es Menschen, die dieser Macht die Tür öffnen, die bereit sind, dort hinein zu gehen und dieser Macht Zugang zu verschaffen. Und dafür muss man in seiner Identität von Jesus Christus geprägt sein. Dafür muss man verstanden haben, dass es nichts Größeres und Schöneres und Wertvolleres gibt als an diesem Weg Gottes durch die Welt beteiligt zu sein, der in Jesus seine volle Gestalt angenommen hat. Auch die beste heilige Tradition ist im Vergleich dazu immer nur höchstens das Zweitbeste, und wenn sie unsere Aufmerksamkeit vom Besten ablenkt, ist sie ein Problem und ein Schaden.
Eine neue Identität
Deshalb sollen wir das ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit rücken: Menschen zu werden, durch die Jesus mit seiner Auferstehungskraft in der Welt wirkt. Zum Glück muss man dafür nicht immer gleich ins Gefängnis. Aber immer muss man etwas dafür einsetzen. Es kostet einen Preis. Aber die Botschaft aus der imperialen Zelle ist: dieser Preis ist es wert, gezahlt zu werden. Du bekommst viel mehr dafür zurück. Unter anderem eine neue Identität, die viel stärker und haltbarer ist als die alte, und sei sie noch so ehrwürdig.
Das ist der Schatz im Acker, das ist die kostbare Perle, die jeden Preis wert sind.