Die erste Begegnung mit dem Monster
Predigt am 12. April 2015 zu Offenbarung 11,1-14 (Predigtreihe Offenbarung 18)
1 Nun wurde mir ein Stab aus Schilfrohr gegeben, wie man ihn zum Messen verwendet. »Geh und miss den Tempel Gottes aus, auch den Altar«, sagte ´eine Stimme` zu mir, »und ´zähl` die Menschen, die im Tempel anbeten! 2 Aber lass beim Vermessen den äußeren Vorhof des Tempels aus, denn er ist den heidnischen Völkern preisgegeben worden, und sie werden die heilige Stadt unterwerfen und zweiundvierzig Monate lang besetzt halten.«
3 »Doch werde ich«, ´fuhr die Stimme fort,` »meine beiden Zeugen zu ihnen schicken, und sie werden ´während dieser ganzen Zeit` – tausendzweihundertsechzig Tage lang –, in Sacktuch gehüllt, als Propheten ´unter ihnen` auftreten.« 4 Diese beiden Zeugen sind die zwei Ölbäume und die zwei Leuchter, ´von denen es in der Schrift heißt, dass` sie vor dem Herrn stehen, dem Herrscher über die ganze Erde. 5 Wenn jemand versucht, ihnen etwas anzutun, wird Feuer aus ihrem Mund kommen und ihn vernichten. So wird es allen ihren Feinden ergehen; jeder, der ihnen etwas antun will, wird auf diese Weise umkommen. 6 Sie haben die Macht, den Himmel zu verschließen, sodass während der Zeit, in der sie als Propheten auftreten, kein Regen fällt. Sie haben auch die Macht, die Gewässer in Blut zu verwandeln. Sooft sie es wollen, können sie jedes nur erdenkliche Unheil über die Erde hereinbrechen lassen.
7 Wenn sie ihren Auftrag als Zeugen ´Gottes` erfüllt haben, wird das Tier, das aus dem Abgrund heraufsteigt, gegen sie kämpfen. Es wird sie besiegen und umbringen. 8 Ihre Leichen ´wird man` in der großen Stadt auf offener Straße ´liegen lassen`, in derselben Stadt, in der schon ihr Herr gekreuzigt wurde und die – was symbolisch zu verstehen ist – Sodom oder auch Ägypten heißt. 9 Während dreieinhalb Tagen werden sich Menschen aus den verschiedensten Völkern und Stämmen, Menschen unterschiedlichster Sprache und Kultur am Anblick der beiden Toten weiden, und man wird es niemand erlauben, sie zu bestatten. 10 Überall auf der Welt werden die Menschen jubeln und Freudenfeste feiern und sich gegenseitig Geschenke senden, denn diese beiden Propheten hatten ihnen das Leben zur Qual gemacht. 11 Doch nach den dreieinhalb Tagen wird der Lebenshauch Gottes in sie zurückkehren, und zum größten Entsetzen aller, die das miterleben, werden sie ´plötzlich wieder lebendig werden und` aufstehen. 12 Aus dem Himmel werden sie eine mächtige Stimme hören, die ihnen zuruft: »Kommt hier herauf!« Daraufhin werden sie vor den Augen ihrer Feinde in einer Wolke in den Himmel emporgehoben werden.
13 Im selben Augenblick wird ein heftiges Erdbeben ´die Stadt` erschüttern. Ein Zehntel der Gebäude wird einstürzen, und siebentausend Menschen werden den Tod finden. Zutiefst erschrocken werden dann die Überlebenden dem Gott, der im Himmel thront, die Ehre erweisen, ´die ihm gebührt`.
14 Das zweite Unheil, das der Wehruf angekündigt hat, ist vorüber; doch das dritte steht unmittelbar bevor.
Wir sind im 11. Kapitel von insgesamt 22 Kapiteln der Offenbarung, aber es sieht immer noch aus, als wären wir schon auf der Zielgeraden. Das Lamm – also Jesus – hat das siebte Siegel vom Buch geöffnet, in dem Gottes geheimer Plan für seine Schöpfung verzeichnet ist. Sechs von sieben letzten Posaunen sind erklungen, schreckliche Plagen waren die Folge; und trotzdem haben sich die Menschen nicht abgewandt von ihrem zerstörerischen und selbstzerstörerischen Tun. Ein gewaltiger Engel hat im Namen Gottes versichert, dass es nun keinen Aufschub mehr geben wird.
Aber ganz am Ende hat Johannes gesagt bekommen, dass er noch einmal prophetische Worte aussprechen soll – und zwar Worte zur politisch-kulturellen globalen Situation. Jetzt ist es nicht nur eine Drama, das vor Johannes Augen abläuft, sondern jetzt ist er Beteiligter. Und mit ihm die Christen überhaupt. So wie schon einmal in Kapitel 8 die Gebete der Christen ins Spiel kamen, so ist jetzt das Thema die christliche Prophetie und ihre Rolle in dem weltgeschichtlichen Drama, das sich in der Offenbarung enthüllt. Das war der Doppelpunkt vom letzten Mal.
Die Rolle der Prophetie
Und jetzt geht es mit diesem Thema weiter, und deshalb ist das 11. Kapitel voll mit Erinnerungen an prophetische Menschen des Alten Testaments. Am Anfang bekommt Johannes einen Zollstock, mit dem er den Tempel ausmessen soll, und das erinnert an den Propheten Hesekiel, der ein Modell des künftigen Tempels ausmisst (Hesekiel 40-48). Der innere Tempelbereich, den Johannes ausmisst, der bleibt unzerstört, aber die äußeren Teile des Tempels werden von Feinden erobert.
Man merkt aber, dass es bei Johannes nicht so sehr um ein Gebäude geht, sondern um die Menschen, die dort sind. Die soll er zählen. Die erste Christenheit hat sich ja im Bild des Tempels wiedergefunden, als der lebendige Tempel Gottes. Johannes soll also nicht das Tempelgebäude in Jerusalem ausmessen. Das war vermutlich in dieser Zeit schon zerstört. Im jüdischen Aufstand der Jahre 66 – 70 hatten sich die Aufständischen im Tempel verschanzt, und die Römer hatten ihn nur in einem blutigen Kampf nach und nach erobern können. Am Ende hatten sie es geschafft, und der Tempel wurde zerstört.
Bei Johannes geht es um die Nachfolger Jesu. Die sind jetzt das lebendige Heiligtum, und auch darum wird gekämpft. Die Feinde dringen ziemlich weit ein, aber sie werden es nicht schaffen, dieses lebendige Heiligtum zu zerstören. Immerhin 42 Monate lang wird es sehr gefährlich aussehen.
42 gefährliche Monate
42 Monate sind dreieinhalb Jahre oder 1260 Tage. Auch diese Zahl hat eine besondere Bedeutung. 200 Jahre vorher hielt der syrische König Antiochus, einer der Nachfolger Alexanders des Großen, Jerusalem dreieinhalb Jahre lang besetzt und versuchte, mit einer Schreckensherrschaft den Glauben an Israels Gott auszurotten. Nach dreieinhalb Jahren wurde der Tyrann vertrieben.
Wenn Johannes sagt, dass die Christen dreieinhalb Jahre in Gefahr sein werden, dann heißt das: diese Gefahrenzeit ist begrenzt; sie hat ein Ende. Gott hat die Kontrolle. Das spiegelt wider, wie im Römischen Reich die Christen immer wieder verfolgt, aber nie vernichtet worden sind. Immer stoppte die Verfolgung noch rechtzeitig.
Muster mit langer Vorgeschichte
Es geht hier also nicht um konkrete 42 Monate, die man irgendwo im Kalender eintragen könnte. Es geht um typische Muster, die immer wieder auftauchen. Und so geht das Kapitel weiter. In dieser Zeit der Gefahr gibt es zwei Zeugen, die die ganze Zeit über prophetisch reden. Die beiden sind gemalt in Farben, die an Mose und Elia erinnern, diese beiden großen Gestalten des Alten Testaments. Elia sorgte für Dürre und setzte damit den König Ahas unter Druck, dessen Reiterarmee auf Gras für die Pferde angewiesen war (1. Könige 17,1; 18,5). Als sein Nachfolger Ahasja ihn durch eine Abteilung Soldaten verhaften wollte, fiel Feuer vom Himmel und vernichtete sie (2. Könige 1,9-15). Und sie können Plagen über die Welt kommen lassen – das erinnert an Mose und die ägyptischen Plagen (2. Mose 7-12).
Dass die beiden als Ölbäume bezeichnet werden, ist wiederum eine Erinnerung an den Propheten Sacharja (4,3.11-14). Und alles zusammen bedeutet, dass auch in der ganzen Zeit der Gefahr die Stimme der Prophetie nicht verstummen wird. Gott schützt die Propheten. Es sieht aus, als müssten sie und die Gemeinde nur lange genug durchhalten, und am Ende wird alles gut.
Aber dann tritt eine unheimliche Gestalt auf, von der wir bisher noch gar nichts gehört haben: das Tier aus dem Abgrund. Nur kurz gab es schon in Kapitel 9 einen Hinweis darauf, dass im Untergrund der Welt ein Horror schlummert, der zum Glück noch irgendwie zurückgehalten wird. Aber jetzt kommt da etwas in Bewegung. Die beiden Propheten scheinen ein Monster geweckt zu haben. Es ist bisher noch nicht deutlich, worum es geht, aber wir haben doch schon einen Hinweis darauf, dass es alles in Wirklichkeit noch verzwickter und bedrohlicher ist, als es bisher schon aussah.
Die dunklen Mächte geben nicht auf
In dem Moment, wo die Stimme Gottes sich deutlich meldet, läuft auch der Widerstand dagegen zur Höchstform auf. Wenn die Herrschaft der zerstörerischen Mächte über die Welt ernsthaft in Frage gestellt wird, dann wehren sie sich mit aller Kraft dagegen. Dann werden sie richtig brutal.
Wir müssen nur mal zurückdenken an den arabischen Frühling von 2011. Die Macht der ganzen Potentaten und ihrer Terrorregimes war ernsthaft in Frage gestellt. Die Menschen erlebten Befreiung von der jahrhundertealten Unterdrückung. Staat und Familie hatten sie klein gehalten, aber jetzt merkten sie auch über das Internet, wie viele es waren, die das nicht mehr wollten. Ein paar Monate lang konnte man sich vorstellen, wie rund um das Mittelmeer neue blühende Länder entstehen könnten, demokratisch, solidarisch und fantasievoll. Eine neue, bessere Welt schien dort greifbar nahe. Aber genau diese Möglichkeit hat alle die auf den Plan gerufen, die dabei ihre Macht verloren hätten, und die Demokratiebewegungen sind kaputt gemacht worden im Zusammenspiel von modernen Islamisten und alten Machthabern. Und der Westen hat beinahe nichts getan, um sie zu unterstützen. In Syrien sehen wir wie in einem Vergrößerungsglas die ganze Grausamkeit, die im Untergrund der Welt verborgen ist, und die geweckt wird, sobald ihre Macht ernsthaft in Frage gestellt wird.
Auch diese beiden Prophetengestalten sind also keine historischen Figuren, die man in einer Zeittafel fixieren könnte, sondern sie verkörpern die Christenheit in ihrer prophetischen Rolle, sie stehen für den prophetischen Impuls, der aus Israel kommt und sich durch Jesus und seine Nachfolger weltweit ausgebreitet hat.
Das Böse demaskiert sich
Dieser prophetische Impuls ist nicht tot zu kriegen, aber er sorgt dafür, dass das Böse immer böser wird. Es verliert immer mehr seine glänzende Maske und wird bis zur Kenntlichkeit verändert. Es fühlt sich zu Recht herausgefordert von der Stimme Gottes, die durch den Mund von Menschen hindurch die Macht der Herrscher in Frage stellt. Es zeigt sich in seiner wahren Gestalt, als Monster, es schlägt zurück, und es hat Erfolg: am Ende sind die beiden Zeugen tot. Die Stimme der Prophetie scheint verstummt, die Demokratiebewegung ist zerschlagen, Dietrich Bonhoeffer – auch einer, der solch einen prophetischen Auftrag wahrgenommen hat –, wurde umgebracht, vor 70 Jahren, in den letzten Wochen des 2. Weltkriegs.
Der Ort, wo das geschieht, wird Sodom genannt, und Ägypten, und dort, heißt es, ist auch Jesus gekreuzigt worden – also Jerusalem. Aber Johannes sagt selbst, dass man das symbolisch verstehen muss. Gemeint ist kein Ort, den man auf einer Landkarte finden könnte, sondern die universale Hauptstadt der Gewalt und der Unterdrückung. Damals war das konkret Rom, aber das ändert sich immer wieder.
Prophetie nervt die Leute
Das Böse scheint gesiegt zu haben, und alle Leute freuen sich, dass sie nicht mehr die prophetische Stimme hören müssen, die so viel Unruhe in die Welt gebracht hat, und die sie immer wieder daran erinnert hat, dass da noch Leichen im Keller sind, Leid und Unheil und Bedrohung im Untergrund der Welt. Wer will das schon hören! Der Gott Israels und Vater Jesu Christi ist ein Fremdkörper in der Welt, die er geschaffen hat, und seine Leute stören nur.
Prophetie macht sich genau so beliebt, wie der Arzt, der beharrlich sagt: sie sollten aufhören zu rauchen! Das tut Ihnen nicht gut! Mein Zahnarzt sagte mir vorgestern noch: ich muss Sie jetzt ein bisschen quälen, und er fügte hinzu: ich wundere mich darüber, dass mir noch keiner irgendwo aufgelauert hat, um sich an mir zu rächen. Ich konnte gerade nicht reden, der Mund war voller Geräte, sonst hätte ich ihm versichert, dass er vor mir keine Angst haben muss. Aber es ist nun mal so, dass Menschen manchmal wütender auf den sind, der das Problem beim Namen nennt und sagt: da müsst ihr euch drum kümmern!, als auf den, der das Problem verursacht.
Und deswegen feiern die Leute ein Freudenfest, als sie endlich die Stimme der Propheten nicht mehr hören müssen. Endlich ist Ruhe! Endlich sind sie nicht mehr mit diesem Konflikt konfrontiert. Und das erinnert daran, wie die Leute in Jerusalem bei Jesu Hinrichtung froh waren, dass dieser Störenfried sie jetzt endlich nicht mehr belästigt.
Ein unerwartetes Ergebnis
Aber wie bei Jesu Tod dauert die Freude nicht lange. Jesus ist nach drei Tagen auferstanden, die Propheten brauchen dreieinhalb Tage dafür. Dann holt Gott sie ins Leben zurück und bestätigt ihre Worte, indem er sie in den Himmel heraufholt. Das erschüttert die Erde, ein Zehntel der Unrechtshauptstadt stürzt ein (immerhin nur ein Zehntel – bei den früheren Katastrophen wurde meistens ein Drittel der Menschen getötet), aber dann geschieht das eigentliche Wunder: die Menschen wenden sich Gott zu. Das ist neu. Das haben wir in allen Kapiteln vorher nicht gehört. Was die ganzen Plagen und Katastrophen nicht geschafft haben, das geschieht hier durch Leben und Tod christlicher Märtyrer: das Böse wird in seiner ganzen Bosheit erkennbar, und die Menschen wenden sich in großer Zahl Gott zu.
Auch da wissen wir aus der Geschichte, dass Menschen oft gerade dadurch für den Glauben gewonnen worden sind, dass sie die öffentliche Hinrichtung christlicher Märtyrer im Stadion gesehen haben, beeindruckt waren von der Haltung, mit der die in den Tod gingen, und dann abgestoßen waren von der ganzen Grausamkeit des Imperiums.
Was in den ganzen Kapiteln vorher nicht passiert ist, das geschieht jetzt durch die Geduld und das Leiden der vielen Menschen, die in ihrem Leben, aber auch in ihrem Sterben Gott treu geblieben sind. Zur Zeit von Elia sind es nur 7000 Leute gewesen, die nicht den Götzen Baal angebetet hatten. Hier sind es nur 7000, die umkommen – die anderen werden gerettet. Da hat sich etwas gedreht.
Wir bekommen eine erste Antwort auf die Frage, wie Gott seine Welt zurück gewinnen wird. Die Gemeinde Jesu spielt da eine wichtigere Rolle, als bisher sichtbar geworden ist. Aber auch von dem Tier werden wir noch hören. Wir sind noch nicht am Ziel, und in der zweiten Hälfte der Offenbarung gibt es noch einige Überraschungen.