Es geht in die Verlängerung
Predigt am 18. Januar 2015 zu Offenbarung 8,1-13 (Predigtreihe Offenbarung 15)
1 Als das Lamm das siebte Siegel öffnete, trat im Himmel Stille ein, etwa eine halbe Stunde lang. 2 Und ich sah: Sieben Engel standen vor Gott; ihnen wurden sieben Posaunen gegeben. 3 Und ein anderer Engel kam und trat mit einer goldenen Räucherpfanne an den Altar; ihm wurde viel Weihrauch gegeben, den er auf dem goldenen Altar vor dem Thron verbrennen sollte, um so die Gebete aller Heiligen vor Gott zu bringen. 4 Aus der Hand des Engels stieg der Weihrauch mit den Gebeten der Heiligen zu Gott empor. 5 Dann nahm der Engel die Räucherpfanne, füllte sie mit glühenden Kohlen, die er vom Altar nahm, und warf sie auf die Erde; da begann es zu donnern und zu dröhnen, zu blitzen und zu beben. 6 Dann machten sich die sieben Engel bereit, die sieben Posaunen zu blasen.
7 Der erste Engel blies seine Posaune. Da fielen Hagel und Feuer, die mit Blut vermischt waren, auf das Land. Es verbrannte ein Drittel des Landes, ein Drittel der Bäume und alles grüne Gras.
8 Der zweite Engel blies seine Posaune. Da wurde etwas, das einem großen brennenden Berg glich, ins Meer geworfen. Ein Drittel des Meeres wurde zu Blut. 9 Und ein Drittel der Geschöpfe, die im Meer leben, kam um und ein Drittel der Schiffe wurde vernichtet.
10 Der dritte Engel blies seine Posaune. Da fiel ein großer Stern vom Himmel; er loderte wie eine Fackel und fiel auf ein Drittel der Flüsse und auf die Quellen. 11 Der Name des Sterns ist «Wermut». Ein Drittel des Wassers wurde bitter und viele Menschen starben durch das Wasser, weil es bitter geworden war.
12 Der vierte Engel blies seine Posaune. Da wurde ein Drittel der Sonne und ein Drittel des Mondes und ein Drittel der Sterne getroffen, sodass sie ein Drittel ihrer Leuchtkraft verloren und der Tag um ein Drittel dunkler wurde und ebenso die Nacht. 13 Und ich sah und hörte: Ein Adler flog hoch am Himmel und rief mit lauter Stimme: Wehe! Wehe! Wehe den Bewohnern der Erde! Noch drei Engel werden ihre Posaunen blasen.
Es gibt manchmal diese Momente, wo alles den Atem anhält. Wenn das Gericht nach der Beratungspause in den Gerichtssaal kommt und der Vorsitzende gleich das Urteil verkünden wird. Oder wenn im Film jemand über einer tiefen Schlucht hängt und man sieht, wie das dünne Seil, das ihn hält, zu reißen beginnt.
Das siebente Siegel
Hier halten alle im himmlischen Thronsaal den Atem an, als sich das Lamm daran macht, das siebte Siegel an der Schriftrolle zu öffnen, in der Gottes geheimer Plan für die Erde aufgeschrieben ist. Sechs Siegel sind schon geöffnet, und jedes Mal bedeutete das ein neues Kapitel in der großen Geschichte Gottes mit der Welt und seinem Volk. Was wird jetzt passieren, wenn das entscheidende siebente, das letzte Siegel geöffnet wird?
Aber alle, die gedacht haben, dass jetzt das Geheimnis enthüllt wird, haben sich getäuscht. Mit der Öffnung des siebenten Siegels beginnt eine neue Siebenerreihe. Sieben Engel bekommen jeweils eine Posaune. Es ist, als ob man einen hohen Berg besteigt, und man denkt: »Hinter der nächsten Ecke kann ich endlich den Gipfel sehen«, und dann kommt man um die Ecke, nur um zu sehen, dass dahinter eine weitere Steilwand wartet, und man weiß immer noch nicht, ob dahinter nun endlich der Gipfel sein wird.
Der Weg wird länger als gedacht
Dieses Muster, dass am Ende der einen Reihe die nächste Reihe anfängt, dass man nicht angekommen ist, sondern dass sich der Blick weitet und der Weg wieder ein Stück länger wird als gedacht, das wird uns in der Offenbarung wiederholt begegnen. Und es entspricht ja tatsächlich der Art, wie Gottes langer Weg durch seine Schöpfung sich anfühlt: es dauert länger als gedacht. Paulus hatte noch das Gefühl: wenn ich im ganzen römischen Reich bis nach Spanien Gemeinden gegründet habe, dann ist die Arbeit eigentlich getan. Aber es hat drei Jahrhunderte gedauert, bis das Imperium so einigermaßen mit dem Evangelium durchdrungen war.
Und als das geschehen war, weitete sich der Horizont, weil die wilden Barbaren von jenseits der Reichsgrenzen die römische Zivilisation überfluteten, und die mussten auch irgendwie erreicht werden. Nach einigen Jahrhunderten voller Kämpfen und Zerstörungen waren die dann wenigstens dem Namen nach Christen geworden, und dann kamen einerseits die noch wilderen Wikinger, und andererseits wurde deutlich, dass all diese Menschen auch noch innerlich erreicht werden mussten. Es reichte nicht, dass sie einfach nur getauft wurden und sich Sonntags einen lateinischen Gottesdienst anhörten, den sie nicht wirklich verstanden.
Der Horizont weitet sich immer mehr
Und dann entdeckte man, dass die Welt noch viel größer ist als angenommen, dass es Amerika gibt, und etwas später merkte man, dass alle Menschen ein gewaltiges inneres Potential haben, zum Nachdenken und Lernen, dass wir alle viel mehr können als bloß Graben und Holzhacken und Kartoffelschälen. Im Augenblick habe ich das Gefühl, wir halten den Atem an bei der Betrachtung der ganzen neuen Horizonte, die sich vor uns auftun: dass man vielleicht den Mars besiedeln kann und vielleicht irgendwann sogar fremde Sternensysteme; aber auch, dass man dieses unglaublich komplexe Wesen namens Mensch immer weiter erforscht, oder dass man in die Geheimnisse der Materie eindringt und überall, im Großen und im Kleinen, immer kompliziertere Strukturen entdeckt. Überall haben die Wissenschaftler dieses Gipfel-Erlebnis, dass man glaubt: gleich haben wir es!, und dann dehnt sich der Weg nimmer weiter. Eine Frage hat man geklärt, aber dadurch stellen sich zehn neue.
Genau dieses Erlebnis nimmt die Offenbarung vorweg mit ihren immer neuen Siebenerreihen, von denen wir noch nicht die letzte erreicht haben: unterwegs weitet sich der Horizont in ungeahnter Weise, und vielleicht werden ja eines Tages Menschen auf uns so zurückschauen wie wir heute beispielsweise zurückschauen auf die Zeit, als Amerika entdeckt wurde. Und sie sagen dann genauso über uns: wenn die gewusst hätten, was alles noch kommt!
Die Offenbarung sagt aber: das ist kein Prozess, der in alle Ewigkeit so weitergeht. Er hat ein Ziel. Es ist der Weg, auf dem Gott sich seine Welt zurückholt aus der Gefangenschaft unter den zerstörerischen Mächten, die sie im Griff haben. Und dabei entwickelt er gleichzeitig das ganze Potential, das er in die Welt hineingelegt hat.
Der Beitrag des Volkes Gottes
Vor allem aber ist das keine Automatik, die von vornherein sozusagen generalstabsmäßig geplant wäre. Am Anfang der Reihe mit den sieben Posaunen bringt ein Engel die Gebete der Christen vermischt mit Weihrauch vor Gott. Und anschließend wirft er Glut vom Altar auf die Erde. D.h., dieser ganze Prozess wird angetrieben von den Gebeten von Gottes Volk. Gott arbeitet mit uns zusammen, und das gibt dem Ganzen eine Unberechenbarkeit. Wir durchschauen das Ganze nicht, wir können nicht übersehen, was unsere Gebete auslösen, aber im Himmel ist sichtbar, dass wir mit unseren Gebeten eine wichtige Rolle spielen. Auch die beschränkten Gebete, die egoistischen Gebete, die gedankenlosen Gebete, die mechanisch heruntergeleierten Gebete, irgendwie haben sie alle doch ihre Funktion. Irgendwie öffnen sie alle eine Tür, durch die Gottes Plan wieder ein Stückchen weiter voran gehen kann.
Vielleicht kann man es so sagen: Gott hat uns ja zu Repräsentanten der ganzen Welt berufen. Ohne uns läuft hier nichts, im Guten wie im Bösen. Und sogar Gott kann nicht mehr an uns vorbei etwas bewirken. Er braucht Menschen, die ihm die Tür öffnen. Im Entscheidenden hat das Jesus gemacht, aber irgendwie müssen wir das auch noch einmal tun für den kleinen oder großen Teil der Welt, für den wir verantwortlich sind. Und wenn Menschen beten, dann erlauben sie Gott, sich in die Geschäfte der Welt einzumischen.
Unerwartete Folgen
Wir verstehen dabei nicht, was unsere Gebete genau bewirken und wie es alles zusammenhängt. Wir kennen vom ganzen Gewebe der Welt nur einen kleinen Ausschnitt, aber wir vertrauen Gott, dass er weiß, was er tut, und öffnen ihm die Tür.
Und wenn man sich anschaut, was die Reaktion auf die Gebete der Christen ist, dann braucht man tatsächlich den Glauben, dass Gott weiß, was er da tut. Denn die Engel mit den Trompeten lösen eine Katastrophe nach der anderen aus. Die ersten drei kommen von oben, Hagel mit Feuer und Blut vermischt, ein brennender Berg, ein Stern vom Himmel stürzen auf die Erde, und bei der vierten Posaune gibt es eine Finsternis, die ein Drittel des Tages- und Nachtlichts schluckt. Wir denken dabei heute spontan an Kometen, die mit der Erde zusammenprallen. Vielleicht kann man aber auch einfach sagen: das sind Bilder der damaligen Zeit, die gewaltige Erschütterungen beschreiben. Sie erinnern an alle möglichen Stellen des Alten Testaments: z.B. an die Plagen, mit denen Gott den ägyptischen Pharao zwang, sein Volk Israel aus der Sklaverei los zu geben. Der Stern, der ins Meer stürzt, erinnert an den Oberengel, der sich gegen Gott empörte und aus dem Himmel geworfen wurde.
Die Ambivalenz des Fortschritts
Vielleicht ist die Befreiung Israels aus Ägypten der Schlüssel zu diesem ganzen Abschnitt der Offenbarung: so wie Gott damals die sklavenhaltenden Ägypter mit den Plagen unter Druck setzte und bestrafte, so macht er es jetzt weltweit. Wir dürfen nicht vergessen, dass die ganze Welt in den Händen todbringender Mächte ist. All die atemberaubenden Entwicklungen von Wissenschaft und Gesellschaft sind nicht nur Fortschritte, sondern auch enorme Gefahren. Wer die Strukturen der Materie erforscht, kann auch Atombomben bauen. Wer die inneren Strukturen des Menschen kennt, kann an unserer Seele und unserem Erbgut herum pfuschen. Wenn sich durch die Gebete der Christen das Potential entfaltet, das Gott in die Schöpfung hineingelegt hat, dann kommt die Menschheit immer mehr in ihre Berufung hinein, aber sie kann damit auch immer mehr anrichten.
Man könnte jetzt sogar sagen: all die Leute, die den Christen Untaten vorwerfen wie die Kreuzzüge oder die Inquisition, die wissen gar nicht, was wir noch alles angeschoben haben. Zum Glück glauben sie nicht daran, dass Gebete etwas bewirken, sonst würden sie uns auch verantwortlich machen für die Atombombe, die Umweltverschmutzung und die Killerviren, die in geheimen Labors gezüchtet werden. Wenn die ahnten, was Gebete bewirken können, dann würden sie uns wahrscheinlich für alles und jedes verantwortlich machen.
Begrenzte Übersicht
Dabei gibt es einen wichtigen Vorbehalt: niemand durchschaut den genauen Zusammenhang zwischen unseren Gebeten und unseren Taten und dem, was Gott tut. Gott antwortet, aber wir kennen nicht seine ganze Antwort. Manchmal meinen wir, eine Antwort zu empfangen, aber ob das schon alles ist, und ob wir in Wahrheit nicht noch viel mehr angestoßen haben, das entzieht sich unserer Kenntnis.
Und das ist gut so. Es ist nicht unser Job, die Katastrophen herbeizuführen, von denen in der Offenbarung erzählt wird. Es ist nicht unser Job, sie zu verschlimmern, sondern wir sollen helfen, wo es geht. Es ist in der Regel auch nicht unser Job, zu sagen: seht ihr, ich habe es doch vorausgesagt! Wir wären völlig überfordert, wenn wir diese ganzen schrecklichen Ereignisse verantworten und steuern sollten. Und alle Menschen, die sich selbst als die Vollstrecker eines göttlichen Plans sehen, richten schlimme Verheerungen an, weil sie glauben, die normalen Gebote des menschlichen Zusammenlebens würden für sie nicht gelten.
Anscheinend lohnt es sich
Unser Job ist Beten und das Tun des Gerechten. Wenn das auf verborgenen Wegen dazu führt, dass es Konfrontationen und Erschütterungen gibt, weil sich die Mächte der Zerstörung wehren, dann ist es nicht unsere Verantwortung.
Jesus selbst hat tatsächlich vorausgesehen, dass er die Welt in Konflikte stürzen wird. Wir haben es vorhin in der Lesung gehört (Lukas 12,49): »Ich bin gekommen, um auf der Erde ein Feuer anzuzünden.« Er wusste, dass er eine Konfrontation zwischen Liebe und Tod anzetteln würde. Er wusste, dass die Todesmächte ihre Beute nicht freiwillig hergeben würden. Aber er war bereit, das erste Opfer in diesem Konflikt zu werden.
Er hat darauf vertraut, dass Gott weiß, was er tut. Gott ist anscheinend der Meinung, dass es sich sich lohnt, um diese Welt zu kämpfen. Und wir haben das letzte Mal schon gehört, dass er der Gott ist, der eines Tages alle Tränen abwischen wird. Er wird auch die Vergangenheit verändern. Er wird die Zerstörungen wieder gut machen, auch wenn wir nicht wissen, wie das gehen soll.
Es kann aber gut sein, dass wir es bis dahin noch öfter erleben, dass wir denken, wir wären kurz vor dem Ziel, um dann doch nur eine neue Steilwand vor uns zu sehen.