»It works«: das gibt es wirklich!
Predigt am 28. Dezember 2014 mit 1. Johannes 1,1-4
1,1 Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens. 2 Denn das Leben wurde offenbart; wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde. 3 Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt. Wir aber haben Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. 4 Wir schreiben dies, damit unsere Freude vollkommen ist.
1919, kurz nach dem ersten Weltkrieg, besuchte ein amerikanischer Journalist die junge Sowjetunion. Die Revolution lag noch nicht lange zurück, alles war im Umbruch, es herrschte Bürgerkrieg, aber auch eine große Offenheit für soziale Experimente. Und der Journalist, Lincoln Steffens hieß er, schrieb: »Ich habe die Zukunft gesehen!« Und er meinte damit: hier gibt es eine Lösung für die ganzen alten Probleme, die gerade die Welt in einen fürchterlichen Krieg gestürzt haben. Hier wird eine neue Idee für das menschliche Zusammenleben tatsächlich in die Praxis umgesetzt. Und er fügte hinzu: »it works« – es funktioniert, es gibt tatsächlich diese neue Art zu leben, und eines Tages werden wir alle so leben. Und dort in der Sowjetunion konnte Lincoln Steffens schon mal einen Blick auf diese Zukunft werfen.
Nun, heute wissen wir, dass es nicht funktioniert hat. Dieses gesellschaftlichen Experiment war am Ende auch nicht besser als die vorherigen Regierungsformen, es hat Millionen Menschen das Leben gekostet und ist am Ende, 70 Jahre später, unter seinem eigenen Gewicht zusammengebrochen. Keine Utopie verkraftet es, wenn sie den Menschen gegen ihren Willen aufgezwungen wird. Keine Utopie funktioniert, wenn die Menschen nicht dafür bereit sind.
Das Muster hinter unserer Passage
Aber das Denkmuster, das in diesem Fall den amerikanischen Journalisten so tragisch auf einen Irrweg geführt hat, ist genau die Logik hinter diesen ersten Sätzen des ersten Johannesbriefes, auf die wir heute hören: »Wir haben die Zukunft gesehen«, schreibt Johannes, »und es gibt sie tatsächlich. Sie lebt. Man kann sie sehen, ja anfassen, es ist kein abstrakter Gedanke, sondern gelebte Wirklichkeit. Sie funktioniert.«
Johannes bewegt sich damit in einem Weltbild, das im Alten Testament verwurzelt ist und das er mit den allermeisten Juden seiner Zeit teilte. Der Gedanke ist: Die Weltgeschichte hat zwei große Abschnitte, zunächst das gegenwärtige Zeitalter, das von Gewalt und Unrecht geprägt ist, wo das Volk Gottes angegriffen und bedrängt wird. Aber diese Zeitspanne wird einmal zu Ende gehen, und dann bricht das kommende Zeitalter an, wo Gott alles wieder zurecht rücken und vor allem seine Leute endlich von aller Bedrückung befreien wird.
Bedeutungsverschiebungen bei der Übersetzung
Unglücklicherweise gibt es hier ein Problem mit der Übersetzung: das griechische Wort, das für diese Zeitalter verwendet wird, heißt αἰών. Man hat das Wort als »Äon« eingedeutscht, so kennen wir es vielleicht als etwas schwammiges Wort für Epoche oder Zeitalter. Wenn man nun von dem Leben sprach, das man in der Zukunft führen würde, also im kommenden Zeitalter, dann nannte man das das »äonische Leben«. Streng genommen müsste dann auch unser jetziges Leben im gegenwärtigen Äon, im gegenwärtigen Zeitalter so heißen, aber man sprach damals nur mit Bezug auf das kommende Zeitalter vom »äonischen Leben«. Sprache ist nicht immer konsequent.
Gemeint war jedenfalls das, was auch Lincoln Steffens im Sinn hatte, wenn er die junge Sowjetunion als die Lebensart darstellte, die in der neuen Epoche der Menschheitsgeschichte alle teilen würden. Ich weiß nicht, ob dem Journalisten diese Parallele bewusst war. Wenn ja, dann hatte er allerdings nicht bedacht, dass bei den alten Juden das neue Zeitalter, der neue Äon, nicht von Gott zu trennen war. Wie viele andere moderne Menschen benutzte Steffens biblische Denkformen, aus denen er Gott sozusagen herauspräpariert hatte.
Mitverantwortlich ist dafür aber die Übersetzung, die das »äonische Leben«, das Leben im kommenden, von Gott bestimmten Zeitalter, in unseren Bibeln hat. Bei uns wird »äonisches Leben« als »ewiges Leben« übersetzt, und wir verstehen spontan darunter ein endloses Leben im Himmel bei Gott, und das klingt sehr geistlich oder religiös, so als ob es wenig zu tun hätte mit unserer Welt aus Zeit, Raum und Materie. Biblisch gemeint ist aber ein Leben auf dieser Erde, und die Betonung liegt nicht auf der Endlosigkeit, sondern auf der Andersartigkeit dieses Lebens, obwohl in diesem neuen Leben tatsächlich der Tod keine Rolle mehr spielt.
Was ist »Ewiges Leben«?
Hier am Anfang des ersten Johannesbriefes kann man aber auch ohne diesen Ausflug in die griechische Sprachwelt merken, dass die Übersetzung »ewiges Leben« im traditionellen Sinn nicht passt. Denn im zweiten Vers heißt es:
Denn das Leben wurde offenbart; wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde.
Hier ist natürlich von Jesus die Rede, und Johannes sagt: wir haben mit ihm in dieser Welt zusammengelebt, wir konnten mit ihm reden, wir konnten ihn anfassen und mit ihm essen, in ihm hat uns Gott das Leben der kommenden Epoche sehen lassen. Es ist genau das, was Lincoln Steffens sagen wollte, und worin er sich so tragisch irrte: »Ich habe die Zukunft gesehen, es gibt sie wirklich, und sie funktioniert!«. Nicht zuletzt meinte Johannes damit die Auferstehung Jesu: das neue Leben, das ihnen in Jesus offenbart worden war, hatte tatsächlich den Tod besiegt.
Das war das entscheidend Neue, worin sich die Anhänger Jesu von ihren jüdischen Geschwistern unterschieden: sie warteten nicht nur auf das Leben des kommenden Zeitalters, das noch in der Zukunft lag (also das »ewige Leben« nach unseren Übersetzungen), sondern sie hatten dieses neue Leben schon an der Arbeit gesehen, nicht als Idee oder Plan, sondern in der Realität, hier auf unserer Erde. Und sie sagten mit gutem Grund: »it works« – es funktioniert, das gibt es wirklich.
Greifbare Wirklichkeit statt Gedanken
Jede realisierte Wirklichkeit, die man sehen und studieren kann, hat ja eine viel größere Energie und Überzeugungskraft als die beste Idee, die vielleicht nie verwirklicht wird. Gedanken sind gut und schön, ich liebe sie, ich arbeite damit, aber jeder Plan und jeder noch so gute Gedanke wird um Längen geschlagen von dem, was greifbare Wirklichkeit geworden ist. Auch wenn diese Wirklichkeit vielleicht gar nicht so gut ist. Deswegen betont Johannes das so stark:
Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben …
Mit einem Wort, Johannes verweist auf die Praxis. Es war die Stärke der jungen Christenheit, dass sie die reale Geschichte Jesu hier in dieser Welt fortgesetzt haben, und auch die Praxis der Nachfolger Jesu konnte man sehen und anfassen. So wie wir vorhin in der Lesung (Lukas 2,25-38) gehört haben, dass Hanna und Simeon das Kind Jesus sehen, segnen und auf den Arm nehmen konnten. Und es ist die Schwäche der heutigen Christenheit, dass das Muster, nach dem wir uns organisieren, es nicht begünstigt, dass Menschen sich in jesusgeprägten Lebensgemeinschaften zusammenschließen, die man sehen und erleben kann.
Das ist nicht unsere persönliche Schuld, sondern das ist eine Entwicklung, die vor vielen Jahrhunderten begonnen hat, z.B. eben durch das religiöse Missverständnis einer Wendung wie »ewiges Leben«. Wir haben das nicht zu verantworten, aber wir sind verantwortlich dafür, den Karren mit aller Energie, die wir haben, wieder auf die richtige Spur zu bringen.
Eine Verbindung über Zeit und Raum
Und dazu brauchen wir dann doch die Worte, die über die Distanz von fast zweitausend Jahren und über Barrieren von Übersetzung und Sinnverschiebung zu uns kommen. Wir hören über diese gewaltige Distanz doch die Stimme eines Menschen, der mit aller Bestimmtheit, die er aufbringen kann, betont: »Wir haben die Zukunft erlebt, und es gibt sie wirklich«. Johannes spricht wie ein Zeuge vor Gericht, den der Richter skeptisch fragt: »Haben Sie das tatsächlich selbst gesehen?« Und er antwortet: »Ja, wirklich, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. So wahr wie ich hier stehe, Sie können mir wirklich glauben!« Wenn die Zukunft so in die Zeit hineingebrochen ist, dann verändert das die Gegenwart für immer.
Denn unter denen, die einen Blick in die Zukunft getan haben, die mit Jesus real unter uns präsent war, unter denen, die davon geprägt sind, gibt es ein Band, das sie fester zusammenhält als alle anderen menschlichen Bindekräfte. Wer die Schönheit und die faszinierende Verheißung an sich heran gelassen hat, die im Leben Jesu liegt, der findet sich in einer Gemeinschaft mit all denen wieder, denen das auch so gegangen ist. Gott hat seine eigene Art zu leben in dieser Welt offenbart, er hat sie sichtbar und fühlbar gemacht. Vor allem aber hat er dafür gesorgt, dass man daran teilnehmen kann. Und wer daran auch nur einmal geschnuppert hat, der vergisst das nicht mehr. Sogar dann, wenn er anschließend davor zurückschreckt und sich nicht traut, das auch in seinem Leben gegen alle Widerstände wahr werden zu lassen.
Eine geöffnete Gemeinschaft
Johannes jedenfalls stellt das Leben der kommenden Welt, das sogenannte »ewige Leben«, hier dar als eine Gemeinschaft zwischen Gott und Jesus, die offen dafür ist, dass andere hineinkommen können. Die Jünger Jesu natürlich, aber auch diejenigen, die von den Jüngern die Geschichte hören und dann Feuer fangen. Johannes ist überzeugt, dass die Kommunikation der Geschichte Jesu dazu führt, dass die neue Lebenspraxis Menschen gewinnt.
Das ist der Unterschied zur Sowjetunion: die neue Lebensart, die man dort entwickelte, wurde Menschen am Ende aufgezwungen. Diesen Weg hat – etwa im Mittelalter – auch die Kirche versucht, und sie ist damit – genauso wie die Sowjetunion – grandios gescheitert. Das neue Zeitalter ist eben noch nicht da, und es lebt bisher erst in den Gemeinschaften derer, die von der Geschichte Jesu angezogen, verwandelt und beflügelt werden.
Jesus und seine Gemeinschaften sind die Worte, durch die Gott zu einer Welt spricht, die sich gegen ihn verschlossen hat. Er will sie nicht zwingen oder zerstören, sondern er will sie einladen und zurückholen. Und dafür ist nichts so überzeugend wie Praxis, die man sehen und anfassen kann, Praxis, an der man teilnehmen kann.