Ein Riss in der Welt
Predigt am 20. April 2014 (Ostersonntag) zu Markus 16,1-8
1 Als der Sabbat vorüber war, kauften Maria aus Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um damit zum Grab zu gehen und Jesus zu salben. 2 Am ersten Tag der Woche kamen sie in aller Frühe zum Grab, als eben die Sonne aufging. 3 Sie sagten zueinander: Wer könnte uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen? 4 Doch als sie hinblickten, sahen sie, dass der Stein schon weggewälzt war; er war sehr groß.
5 Sie gingen in das Grab hinein und sahen auf der rechten Seite einen jungen Mann sitzen, der mit einem weißen Gewand bekleidet war; da erschraken sie sehr.
6 Er aber sagte zu ihnen: Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus von Nazaret, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier. Seht, da ist die Stelle, wo man ihn hingelegt hatte. 7 Nun aber geht und sagt seinen Jüngern, vor allem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat.
8 Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemand etwas davon; denn sie fürchteten sich.
Kennen Sie den Trickfilm »Ice Age«? Ein Animationsfilm über Tiere in der Eiszeit, die vor den herankommenden Gletschern fliehen. Und als Running Gag ist Scrat dabei, eine Mischung aus Eichhörnchen und Ratte, der die ganze Zeit über versucht, eine gerettete Eichel aufzuknacken. Aber Scrat ist ein Unglücksrabe, nie gelingt es ihm, die Eichel zu öffnen, stattdessen richtet er damit immer Schaden an. Wenn er die Eichel irgendwo gegen haut, um sie zu öffnen, entsteht ein feiner Riss, der immer weiter läuft, weiter und weiter, am Ende spaltet das einen ganzen Gletscher, gewaltige Eismassen brechen ab und donnern zu Tal.
Jede Spalte beginnt mit einem feinen Riss
Den Beginn so eines feinen Risses können wir in der Geschichte von den Frauen am leeren Grab miterleben: damals sind die ersten feinen Risse im festen Gehäuse der Welt sichtbar geworden, und sie laufen weiter, bis sie am Ende den ganzen Rahmen der Welt, wie wir sie kennen, sprengen.
Die Welt, die wir kennen, ist aufgebaut auf der Tatsache, dass der Tod unvermeidbar ist. Wenn irgendetwas sicher ist, dann der. Und wer glaubwürdig mit dem Tod drohen kann, der beherrscht die Menschen. Aber auf einmal soll das nicht mehr stimmen. Die drei Frauen stoßen auf einen Riss in der Welt, auf eine Bruchstelle im scheinbar undurchdringlichen Gehäuse, in dem wir leben. Durch diesen Riss ist ja anscheinend schon der Leichnam von Jesus verschwunden. Was wird noch alles passieren, wenn dieser Riss sich erst ausdehnt und verbreitert?
Die ersten Zeuginnen der Auferstehung Jesu waren erschreckt und verstört von dem, was sie erlebten. Sie konnten sich keinen Reim darauf machen. Sie ahnten nur, dass sich die Fundamente der Welt verändert haben. Wenn noch nicht mal der Tod sicher ist, dann bleibt kein Stein auf dem anderen, dann steht diese ganze vom Tod geprägte Welt zur Diskussion. Und das kann einem wirklich Angst machen – denn diese Welt ist alles, was wir kennen, und auch wenn es in ihr so viel Zerstörung, Gewalt und Gefahr gibt, sie ist uns vertraut, und wir haben uns mit ihr arrangiert.
Ein Evangelium, dem der Schluss fehlt
Am Ende fliehen die drei Frauen, zitternd am ganzen Leibe. Kein Sterbenswörtchen erzählen sie den andern. Und damit hört das Evangelium auf. Es gibt zwar in unseren Bibeln noch einen Schluss mit 12 weiteren Versen, aber dem merkt man deutlich an, dass der viel später hinzugefügt worden ist. Wahrscheinlich hat da jemand gespürt, dass noch etwas fehlte und hat versucht, das zu ergänzen.
Warum ist das so? Es gibt mehrere Möglichkeiten. Entweder ist Markus nicht fertig geworden: er wollte vielleicht erst noch ein paar Leute interviewen, die Jesus nach der Auferstehung selbst gesehen haben, und das hat nicht geklappt, vielleicht hatte er einfach keine Zeit mehr zum Schreiben oder er ist gestorben oder irgendetwas anderes, bevor er fertig war.
Andere Möglichkeit: die Schriftrolle ist später beschädigt worden. Man hatte ja diese langen Papyrusstreifen, die zusammengerollt wurden, und da war natürlich die äußere Lage mit dem Ende des Buches besonders gefährdet, wenn es brannte oder auch die Rolle nass wurde.
Einige haben auch vermutet, Markus hätte mit Absicht so geendet. Mir leuchtet das nicht ein, weil es wirklich ein sehr abrupter Schluss wäre, wenn am Ende einfach nur ein paar erschreckte Frauen stehen würden. Aber wahrscheinlich ist diese Frage nach 2000 Jahren nicht mehr zu klären. Ich denke: egal, woran es liegt, dieser abrupte Schluss richtet unsere Aufmerksamkeit darauf, dass Auferstehung nichts ist, was die Anhänger Jesu erwartet hätten. Als er ihnen wieder begegnete, sagten sie nicht: ach, da bist du ja endlich, schön dass du zurück bist! Sondern sie waren zu Tode erschreckt wie die Frauen, oder sie haben ihn zuerst noch nicht einmal erkannt, weil sie ihn nicht erwarteten.
Völlig unerwartet
Niemand in der damaligen Zeit hätte mit der Auferstehung eines Gekreuzigten nach drei Tagen gerechnet. Viele Juden hofften auf die Auferstehung der Toten, aber erst am Ende der Welt, und die Heiden glaubten noch nicht einmal daran. Aber dass jemand jetzt schon mitten in dieser Welt auferstehen könnte, das war jenseits aller Erwartungen. Die Menschen damals haben sich ihre Welt zwar stärker aus Geschichten und Legenden konstruiert als wir heute. Aber dass Tote tot bleiben und nicht zurück kommen, das wussten sie natürlich auch damals, die waren ja nicht blöd. Um das zu wissen braucht man keine moderne Wissenschaft.
Dass sie schließlich verstanden, dass Jesus tatsächlich auferstanden war, auf diese Spur brachten sie zwei Erfahrungen: zum einen war das Grab leer, und dann gab es immer wieder Begegnungen mit Jesus. Und das passte zusammen. Nur eins davon hätte nicht ausgereicht. Das leere Grab allein lässt Menschen mit mehr Fragen als Antworten zurück, wir sehen das an den verwirrten Frauen. Es kann ja auch ein Fall von Grabraub vorliegen oder irgendeine andere Gemeinheit. Die Begegnungen mit dem auferstandenen Jesus allein hätten ja auch Halluzinationen sein können. Bis heute haben Menschen manchmal den Eindruck, dass ihnen eben erst Verstorbene noch eine Zeitlang begegnen und sie begleiten. Sie spüren das zwar, aber sie wissen: wir haben ihn zum Friedhof gebracht, und dort ist er jetzt.
Erst beides zusammen, die Begegnungen und das leere Grab, erst das überzeugte die Anhänger Jesu schließlich: er ist tatsächlich auferstanden. Es hätte damals viele gegeben, die gerne den Leichnam präsentiert hätten, um zu sagen: seht ihr, die Auferstehung ist Unsinn! Aber der tote Jesus blieb verschwunden, er ist nie wieder aufgetaucht, niemand ist jemals auf den Gedanken gekommen, ihm einen Grabstein zu setzen.
Ein Ereignis, das alles verändert
Und deshalb ist der erste Schreck bei den Jüngerinnen und Jüngern Jesu einer großen Freude und Hoffnung gewichen. Binnen weniger Woche veränderte sich ihr Lebensgefühl so grundlegend, dass sie im Rückblick dies als den endgültigen Wendepunkt ansahen, als den Tag, von dem an ihre Geschichte mit Jesus nie wieder bedroht oder in Frage gestellt war. Für sie und viele andere Christen hat von da ab Gefahr, Sorge, Bedrohung und Verfolgung zu den Wirklichkeiten zweiten Ranges gehört, die überstrahlt wurden von der Tatsache, dass Jesus auferstanden ist. Sie haben keine Angst mehr gehabt.
Das Christentum kommt von diesem Urknall her, und das ist ein Vorbote der großen Erschütterung, die am Ende die ganze Welt erfassen wird. Aber beim zweiten Hinsehen merkt man: das ist ja gar keine Katastrophe, das ist doch Jesus, den wir kennen, und dann ist es gut. Und so ist das bis heute, dass Menschen zuerst erschreckt und verwirrt sein können, wenn die Bebenwellen der Auferstehung bei ihnen ankommen. Es kann sein, dass die alte Welt sich mit aller Kraft wehrt gegen diese Freiheit, die ihr vorkommen muss wie der Untergang von allem, was bis dahin ehrwürdig und heilig war.
Langzeiteffekte der Auferstehung
Wir erleben das auch so deutlich in diesen Jahren, dass die Auferstehungsfreiheit jetzt ausstrahlt bis in ganz traditionelle Gesellschaften hinein, die bis gestern noch fest im Griff autoritärer Traditionen waren. Rund ums Mittelmeer ist das in den letzten Jahren passiert, in Tunesien, in Ägypten, in der Türkei, überall haben Menschen angefangen, die Morgenluft der Auferstehung zu wittern, auch wenn sie gar nicht wissen, wo die herkommt. Und wir erleben im Moment, wie die alte Ordnung zurück schlägt und ganz viel Gewalt und Terror aufbietet, um diesen Geist wieder zurück in die Flasche zu bekommen; oder um ihn wenigstens so zu verderben, dass man sagen kann: es ist doch nichts Neues.
Und dabei werden die Verteidiger der alten Ordnungen immer deutlicher erkennbar als Agenten einer Todesordnung, die immer offener nur noch mit Zerstörung und Gewalt arbeitet, mit Einschüchterung und Drohung. So viele Menschen werden da hineingezogen und sind am Ende nur noch Werkzeuge sinnloser Gewalt.
Und sie verstehen sehr gut, dass die Auferstehungshoffnung auf so vielen verschiedenen Wegen in die Welt einsickert, dass man gar nicht vorsichtig genug sein kann. Deswegen ist unsere Kultur mit all den merkwürdigen Dingen wie Coca Cola, Facebook, Mädchen, die zur Schule gehen und lesen lernen, Fernsehserien und westlicher Musik vielen Vertretern der alten Ordnung so verhasst. Wir wissen ja hoffentlich gut, wie problematisch viele Strömungen unserer modernen Kultur sind, wieviel Ungesundes und Rücksichtsloses da auch dabei ist. Aber viele Menschen in der Welt sind trotzdem fasziniert von diesem Aroma der Freiheit, das trotz allem damit verbunden ist. Und sie nehmen große Opfer in Kauf, um etwas von dieser Freiheit leben zu können. Und wir erkennen hoffentlich ein bisschen beschämt, wie erstrebenswert für andere etwas ist, das für uns fast selbstverständlich ist.
All das sind Wege, wie die Auferstehungshoffnung die Welt durchdringt. Vielleicht gäbe es bessere Wege, diese Hoffnung zu verbreiten, aber wenn wir die nicht finden, dann lässt Gott sich etwas anderes einfallen, um den Riss in der Welt zu breiter und tiefer zu machen.
Der Riss läuft immer weiter
Vielleicht war das ja schon damals so. Jesus lässt seinen Jüngern durch den Engel im Grab über die Frauen ausrichten: geht nach Galiläa, dort werdet ihr mir begegnen. Galiläa war der Randbezirk Israels, dort überschnitten sich die Kulturen. Die leckeren Fische vom See Genezareth wurden bis nach Rom exportiert, man lebte mehrsprachig, es gab große Theater, in denen man sich wahrscheinlich griechische Dramen und Komödien ansehen konnte. Genau in diesem multikulturellen Mischgebiet wollte Jesus auf seine Jünger warten. Und das wäre der Aufbruch in die große Welt gewesen. Aber vielleicht war es dann so: weil die Frauen vor lauter Angst die Botschaft nicht ausrichteten, blieben die meisten Christen in Jerusalem. Es dauerte noch Jahre bis zum Aufbruch der ersten Gemeinde von dort bis an die Enden der Erde.
Aber wenn Menschen Gottes Pläne nicht verstehen, dann findet Gott andere Wege. Es ist wie mit der Nuss des Ratteneichhörnchens in »Ice Age«: erst sorgt sie nur für einen feinen Riss, aber der läuft immer weiter, er wird tiefer und breiter, und am Ende spaltet er einen ganzen riesigen Eisblock. In einem Folgefilm spaltet der Tollpatsch dann sogar die eurasische Kontinentalscholle und setzt die Kontinentaldrift in Gang.
Und so ist das mit der Auferstehung: an einem winzigen Punkt der Welt ist sie geschehen, aber der Riss läuft weiter und wird tiefer und und öffnet immer neue Freiheitsräume. Die Welt, die im Griff von scheinbar unüberwindlichen Todesmächten war, schnuppert verwundert das Aroma des neuen Tages und beginnt, die Verheißung der Freiheit zu hören.