Dies ist die zweite Folge von Gedanken aus meinem Psalmenworkshop beim Emergent Forum 2013. | Teil 1 | Teil 3 |
Wer die Psalmen einfach in der Reihenfolge liest, wie sie im Psalter angeordnet sind, macht einige Entdeckungen. Z.B. antworten benachbarte Psalmen aufeinander bzw. setzen den Gedankengang durch Einführung neuer Gesichtspunkte fort. Auf den äußerst selbstkritischen Rückblick auf die Geschichte des Gottesvolkes in Ps. 78 folgt Psalm 79, in dem es um die Feinde geht, die die Schwäche des Volkes brutal ausnutzen und das Land zerstört haben. Schließlich wird in Ps. 80 Gott an den Bund erinnert und um Wiederherstellung Israels gebeten.
Drei unterschiedliche Gesichtspunkte, die nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern jeder auf seine Art wahr sind. Die eigenen Irrwege und die Brutalität der Zerstörer können nicht irgendwie miteinander ausgeglichen werden. Es gibt weder ein schadenfrohes „selbst schuld“ noch ein entschuldigendes „die anderen sind viel schlimmer“. Was in diesen drei Psalmen steht, das muss alles gesagt und gehört werden, ohne dass es sich gegenseitig relativiert, ausbalanciert oder wegerklärt.
Keine große Koalition
Diese betrachtende Weise, die Welt wahrzunehmen, ohne sie schnell auf eine griffige Einheitsformel zu bringen, zeigt sich vor allem im Umgang mit der Herrlichkeit und der Zerrissenheit der Welt. Die Welt ist ein Ort voller Wunder und ein Ort voller Bedrückung. Sie ist ein Ort, wo Menschen und Gott ein nahes und inniges Verhältnis voller Vertrauen und Treue zueinander entwickeln, und sie ist ein Ort des verzweifelten Wartens auf irgendein Signal, das das Schweigen Gottes durchbricht. Sie ist ein Ort, wo Menschen sich rücksichtslos auf Kosten anderer Menschen profilieren, und sie ist ein Ort, an dem Menschen solidarisch und gemeinsam in Jubel über Gott ausbrechen. All das steckt in den Psalmen, und damit sind sie eine zutreffende Beschreibung der Realität, in der wir leben.
Aber die Psalmen gleichen das nicht aus, indem sie daraus irgendeinen Durchschnitt bilden, irgendeine Weltformel, irgendeine Mitte zwischen den Extremen. Das wäre Große Koalition, und von dieser mittelmäßigen Mitte sind unsere Politik und unsere Kultur, unsere Kirchen und unsere Gesellschaft schon viel zu lange geprägt. Die Psalmen halten die widersprüchlichen Erfahrungen in ihrer ganzen Spannweite aus und fest. Machmal ist das eine da und manchmal das andere – so wie es Kohelet sagt: Alles hat seine Zeit.
Aber es sind keine statischen, ewigen Widersprüche, denen wir nie entkommen werden, sondern sie sind umgriffen von Hoffnung. Und diese Hoffnung gründet in der Gewissheit, dass Gott gehandelt hat und wieder handeln wird. Wie kannst du in einer finsteren Zeit mutlos werden, wenn du die Psalmen betest und merkst, dass es vielen anderen lange vor dir ebenso gegangen ist?
Psalmen sind Radikale
So sind die Psalmen Worte, die bereitliegen, bis ihre Zeit gekommen ist. Und bis dahin liest, rezitiert, singt, studiert man sie, damit der Geist die richtigen Worte vorfindet, wenn er sie braucht. Als Jesus starb, zitierte er den Beginn des 22. Psalms: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«. Er tat das sicher nicht, um einen Schriftbeweis zu führen, sondern dieser Psalm, den er vermutlich schon unzählige Male gehört hatte, gab ihm die richtigen Worte für diesen Moment. Und gleichzeitig stellte er sich damit in den Hoffnungsrahmen, den der 22. Psalm auch hat. Denn im 25. Vers heißt es dort: »Er (Gott) hat sein Antlitz nicht vor ihm verborgen und hat gehört, als er zu ihm schrie.« Tod und Leben, Kreuz und Auferstehung – beides in einem Psalm. Und keine kuschelige Mitte dazwischen.
Paul Michael Zulehner hat gerade über den neuen Papst gesagt, der sei kein Rechter und kein Linker, sondern ein Radikaler. Vielleicht kann man so auch die Psalmen am besten kennzeichnen: sie sehen die Erde und die Menschen radikal bedroht, beschmutzt, ausgebeutet, zerrissen. Und gleichzeitig beschreiben sie den Himmel, der auf den unwahrscheinlichsten Wegen die Erde radikal segnet, heilt, ernährt und erneuert. Beide Male radikal, aber insgesamt in einer Perspektive der Hoffnung. Und vielleicht besteht der wahre Gegensatz zwischen den Radikalen der Hoffnung und den Wohltemperierten, die es weder mit dem Schrecken noch mit der Hoffnung übertreiben wollen.