»Was ist wirklich wichtig?« – eine Frage und die Folgen
Predigt am 9. Juni 2013 zu Römer 14,12-23 (Predigtreihe Römerbrief 42)
14 Durch den Herrn Jesus habe ich die volle Gewissheit, dass es nichts gibt, was von Natur aus unrein wäre. Für den allerdings, der etwas als unrein ansieht, ist es dann auch unrein. 15 Wenn du dich daher in einer Frage, die das Essen betrifft, so verhältst, dass dein Bruder oder deine Schwester in innere Not gerät, dann ist dein Verhalten nicht mehr von der Liebe bestimmt. Christus ist doch ´auch` für ihn gestorben. Stürze ihn nicht durch das, was du isst, ins Verderben! 16 Das Gute, das euch geschenkt wurde, darf nicht in Verruf kommen.
17 Denn im Reich Gottes geht es nicht um Fragen des Essens und Trinkens, sondern um das, was der Heilige Geist bewirkt: Gerechtigkeit, Frieden und Freude. 18 Wer Christus auf diese Weise dient, an dem hat Gott Freude, und er ist auch in den Augen der Menschen glaubwürdig. 19 Darum wollen wir uns mit allen Kräften um das bemühen, was zum Frieden beiträgt und wodurch wir uns gegenseitig ´im Glauben` fördern. 20 Zerstöre nicht das Werk Gottes wegen einer Frage, die das Essen betrifft! Zwar ist ´vor Gott` alles rein; verwerflich ist es jedoch, wenn jemand durch das, was er isst, einen anderen zu Fall bringt. 21 Deshalb ist es am besten, du isst kein Fleisch und trinkst keinen Wein und vermeidest auch sonst alles, was deinen Bruder oder deine Schwester zu Fall bringen könnte.
22 Behandle deine Überzeugung in diesen Dingen als eine Angelegenheit zwischen dir und Gott. Glücklich zu nennen ist der, der sich in Fragen der persönlichen Überzeugung so verhält, dass er sich nicht selbst anzuklagen braucht. 23 Wer jedoch etwas isst, obwohl er Bedenken hat, ob er es überhaupt essen darf, der ist damit verurteilt, denn er handelt nicht aus Glauben. Und alles, was nicht aus dem Glauben kommt, ist Sünde.
Die ganz wichtigen Sachen sagt man in einem Brief am Ende. Und hier, schon in der Zielgeraden des ganzen Briefes, schreibt Paulus 1½ Kapitel lang über eine heiße Frage, deren Bedeutung wir heute überhaupt nicht mehr nachvollziehen können: Darf man Fleisch essen und Wein trinken? Ein bisschen wirkt es so, als ob Paulus den langen Römerbrief nur geschrieben hat, um der Gemeinde in Rom zu sagen: nehmt beim Essen Rücksicht aufeinander!
Warum ist ihm das so wichtig? Weil es um die Frage geht, wie Menschen mit ganz unterschiedlichen Wegen und Traditionen gemeinsam das Volk Gottes bilden können. Das funktioniert nur, wenn man den anderen ihre Schwächen zugesteht und sie ihnen nicht genüsslich unter die Nase reibt.
Die Freiheit Jesu
Das Problem ist tatsächlich die Freiheit, die Jesus gebracht hat. Vorhin in der Lesung (Markus 7,14-23) haben wir die Stelle gehört, wo Jesus sagt: Es kommt nicht darauf an, was in den Menschen reingeht, sondern auf das, was aus ihm raus kommt. Nicht das falsche Essen ist das Problem, sondern die falschen Gedanken. Damit war Jesus so erfolgreich, dass heute bei uns kein Mensch mehr darüber nachdenkt, ob man bestimmte Speisen aus religiösen Gründen essen darf oder nicht. Pferdefleisch in der Lasagne lehnen wir jedenfalls nicht aus religiösen Gründen ab, und wenn einer Regenwurmpizza haben möchte, würden wir sagen: wenn es dir schmeckt, bitte, greif zu!
Die Freiheit Jesu besteht darin, dass man sich auf die richtigen Themen konzentriert und die unwichtigen beiseite lässt. Um das am Thema Essen mal zu aktualisieren – im Geiste Jesu würde man sagen: macht euch nicht so viel Sorgen darum, ob die Gabel auch wirklich auf der richtigen Seite liegt und der Wein die richtige Temperatur hat – es kommt schließlich darauf an, dass ihr gut miteinander auskommt, dass Menschen integriert werden, die sonst Außenseiter sind und die Stimmung gut ist. Was ist dagegen schon eine schief liegende Gabel?
Was ist wirklich wichtig?
»Das Reich Gottes ist doch nicht Essen und Trinken« sagt Paulus, »sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist«. Also: was ist wirklich wichtig? Das ist die revolutionäre Frage, die eine enorme Freiheit gibt. Und es war mal eine richtige Revolution, dass Menschen den Willen Gottes von innen verstehen, anstatt einfach Rituale zu vollziehen und heilige Gebote zu halten. Ich versuche es mit einem anderen Beispiel von heute, an dem wir die Brisanz ein bisschen besser nachvollziehen können:
Freie Fahrt für freie Bürger?
Wer mit dem Auto über Land fährt, kommt an unzähligen Geschwindigkeitsbeschränkungen vorbei. Und mir jedenfalls geht es häufig so, dass ich denke: hey, ich sehe doch selber, dass hier eine Kurve kommt, ich pass schon auf, aber deswegen muss man doch nicht gleich im Schritttempo fahren. Kommt es drauf an, dass man alle Geschwindigkeitsbeschränkungen einhält? Nein, es kommt darauf an, so zu fahren, dass man heil ankommt. Und wenn ich meine Fähigkeiten und meinen Wagen gut kenne und die Strecke es hergibt, dann kann ich ruhig 20 km schneller fahren.
Das Problem ist nur der superkorrekte Typ vor mir, der schon bremst, wenn er so ein Schild nur von Weitem sieht. Was ist schrecklicher, als hinter so jemandem zu hängen? Und da würde Paulus sagen: ja, das ist das Problem! Wie kriegt man es hin, dass zwei Leute mit so ganz unterschiedlichen Einstellungen nicht nur auf der gleichen Landstraße unfallfrei miteinander unterwegs sein können, sondern sogar in der gleichen Kirchengemeinde?
Vielleicht ist der andere ja noch ganz jung und gerade erst der Fahrschule entronnen. Oder er ist ganz alt und fühlt sich unsicher hinterm Steuer. Oder er ist eben einfach so ein korrekter und ängstlicher Mensch. Und die Schilder stehen auch nicht für die 1000 Autofahrer, die ohne Schilder heil um die Kurve kommen würden, sondern für den einen, der seine Fahrkünste chronisch überschätzt und nur mit der Drohung von Tempokontrollen einigermaßen zivilisiert werden kann.
Auf der Straße ist das ja noch relativ klar und übersichtlich. In einer christlichen Gemeinde ist es viel komplizierter, vor allem, wenn die auch noch alle völlig unterschiedliche Hintergründe haben, kulturell, religiös, wirtschaftlich, politisch, familiär – die Palette möglicher Konflikte ist unbegrenzt.
Wenn Kulturen aufeinander prallen
Bis heute geht eine Standardsituation so: jemand ist gewohnt, dass man sich zu feierlichen Anlässen auch besonders anzieht, das ist einfach so in seiner Kultur und Tradition, und dann macht er eine Reise auf einen anderen Kontinent, z.B. nach Europa, und alles ist ungewohnt, und er denkt: wenigstens in einem christlichen Gottesdienst werde ich mich heimisch fühlen! Und am Sonntag macht er sich fein und geht in eine Kirche und ist geschockt, dass die da alle in Freizeitklamotten sitzen und ein paar sogar bauchnabelfrei. Und er fragt sich: nehmen die eigentlich ihren Glauben nicht ernst? Ist ihnen der Gottesdienst so wenig wert, das die sich dafür nicht mal ordentlich anziehen?
Er ist zu höflich, um das laut zu sagen, aber wenn er es tun würde, dann würde er vielleicht als Antwort bekommen: besteht denn das Reich Gottes aus Klamotten? Ist es nicht viel wichtiger, dass wir geistlich eine Einheit sind, dass Gott uns wichtig ist, dass wir zusammenhalten? Das kann man doch in jeder Kleidung tun.
Und Paulus würde sagen: ja, so ist es. Im Sinne der Jesusfrage (»was ist wirklich wichtig?«) kommt es tatsächlich nicht darauf an, wie einer sich anzieht. Es geht um Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist, nicht um Klamotten. Da habt ihr völlig Recht. Aber, fährt Paulus fort, es geht gar nicht darum, Recht zu haben. Es geht um die Frage, wie all diese unterschiedlichen Leute zum Volk Gottes gehören können. Und dann kann es vorkommen, dass man zwar weiß, dass man Recht hat, aber man muss es deswegen noch längst nicht dauernd raushängen lassen. Manchmal muss man auch zu Gott sagen: ja wir beide, wir verstehen uns schon, aber wir nehmen jetzt mal Rücksicht auf all diese Leute, die noch glauben, es käme auf die Klamotten an.
Auf der anderen Seite heißt das aber nicht, dass automatisch immer der Konservativste und Ängstlichste Recht hat. Im Galaterbrief kann man lesen, wie Paulus auch heftig die Freiheit verteidigen kann, die Jesus gebracht hat. Und so eine Kultur der Rücksichtnahme kann natürlich auch dazu führen, dass sich immer der durchsetzt, der sich als der Allerschwächste von allen verkaufen kann, auf den alle immer Rücksicht nehmen müssen. Und das kann es auch nicht sein. Die Sache ist kompliziert.
Das Problem benennen
Paulus geht das Problem an, indem er es öffentlich macht. Immerhin sollte der Römerbrief ja in der Gemeinde vorgelesen werden. Und da hören sie dann die Aufforderung zur Rücksicht, aber gleichzeitig ist auch deutlich: wenn jemand besonders strikt und unbeweglich ist, das ist kein Zeichen von Glaubensstärke, sondern im Gegenteil: der gehört zu den Schwachen im Glauben. Man soll freundlich mit ihm umgehen, man soll ihn nicht auslachen, aber ein Vorbild ist er eher nicht.
Wir sollen alle wachsen in der Freiheit, die Jesus bringt. Wir alle sollen lernen, was wichtig ist und was nicht. Aber wir treten unsere Reise von unterschiedlichen Stationen aus an, und mit unterschiedlichem Reisegepäck. Es gibt z.B. christliche Traditionen, in denen ist Alkohol streng verboten. Und wir hätten den Eindruck: das ist ja schrecklich gesetzlich und starr, was schadet denn ein Gläschen Wein, auch Jesu hat Wein getrunken, und so weiter. Aber wenn man berücksichtigt, dass es Gegenden gibt, in denen der Alkohol die Menschen früher flächendeckend ins Elend gebracht hat, bis sie durch das Evangelium davon befreit wurden, dann versteht man, weshalb die dort bis heute so strikt sind.
Damals in Rom scheint das Problem gewesen zu sein, dass die Gemeinde aus Juden und Heiden bestand. Dann hatte der Kaiser Claudius einige Jahre zuvor alle Juden aus Rom verbannt, und erst als der tot war, konnten sie wieder zurückkommen. Und da stießen sie unvermittelt aufeinander: christliche Juden mit ihrer alten Kultur des Sabbats und der Speisevorschriften, und Heiden, die zum Glauben an Jesus gekommen waren, aber diese ganze Tradition kaum kannten. Die verstanden nicht, dass es diese Gebote waren, durch die Israel über Jahrhunderte der Unterdrückung seine Identität bewahrt hatte. Märtyrer waren gestorben für den Sabbat und für die Speisevorschriften. Kann man das jetzt einfach über Bord werfen?
Stark wird man durch Verstehen
Paulus, der ja auch Jude war, war der Meinung: ja, das kann man jetzt und das darf man auch. Aber er wollte nicht, dass Menschen verlorengehen, die noch nicht so weit sind, dass sie ohne diese Regeln auskommen, und deshalb dreht er die Jesusfrage um: was ist wirklich wichtig? Dass du Recht behältst, oder dass Menschen auf einem Weg bleiben, der sie hoffentlich immer stärker in die Freiheit Jesu hineinführen wird – bis sie am Ende vielleicht sogar wirklich verstehen, dass du Recht hattest?
Paulus redet offen über das Problem, weil er möchte, dass alle miteinander wachsen in ihrer christlichen Reife, in ihrem Verständnis der ganzen Situation. Schwach ist man immer dann, wenn man gerade mal einen einzigen Zusammenhang verstanden hat und berücksichtigen kann. Je mehr man den Überblick bekommt und das Thema umfassend verstehen kann, um so stärker wird man. Je umfassender man die Welt aus der Perspektive Jesu sieht, um so mehr von der Souveränität Jesu zeigt sich an uns. Damit wird die Sicht auf die Welt nicht beliebig, aber sie wird den komplizierten Zusammenhängen besser gerecht. Und dafür muss man erst mal alles Werten und Beurteilen beiseite lassen und sich anschauen: wie ist der ganze Zusammenhang?
Nichts ist eindeutig, sagt Paulus. Keine Sache ist so, dass du schnell ein Etikett dran heften kannst, das immer stimmt. Es kommt immer auf die Beziehungen an, in denen etwas passiert. Du musst die Geschichte der Menschen berücksichtigen. Du musst verstanden haben, was sie wirklich bewegt, bevor du zu einem Urteil kommst. Dieselbe Sache kann einmal ok sein, und ein andermal muss man klar »Stopp!« sagen.
Mit Paulus wird man entdecken, dass Menschen zur Ehre Gottes manchmal sehr merkwürdige Dinge tun, aber man kann sich mit Paulus auch freuen, dass sie es zur Ehre Gottes tun. Und das ist das umfassendere Bild.
Den Druck rausnehmen
So gesehen sind die Unterschiede zwischen den Menschen Herausforderungen zur Reife, die Gott uns stellt. Wir müssen abwägen: ist jetzt freundliches Ertragen dran, oder muss auch mal ausgesprochen werden, was gilt, nämlich die Freiheit? Da gibt es keine eindeutigen Antworten, sondern 80%ige oder auch mal nur 60%ige. Aber all diese ganzen Sachen, um die Menschen erbittert kämpfen: Musikstile, Höflichkeitsformen, Gestaltung von Räumen, auch all die ganzen persönlichen Verletzlichkeiten und Empfindlichkeiten, kulturelle Eigenheiten, Familienehre und was es noch so gibt: aus der Sicht des Reiches Gottes ist das alles gar nicht so wichtig. Die Jesusfrage »Worauf kommt es wirklich an?«, die nimmt da im Prinzip ganz viel Dampf raus. Man müsst eigentlich jetzt noch überlegen, ob Paulus hier nicht ein Konzept vorträgt, das eine hilfreiche Ausstrahlung entwickelt bis in die die multikulturelle Welt unserer Tage hinein.
Aber dahin muss man erst mal kommen. Diese Souveränität muss man erst mal haben. Beim Essen hat es in unserem Kulturkreis ja schon ganz gut geklappt. Regenwurmpizza wäre kein Skandal mehr. Aber bei den anderen Themen ist immer noch Sensibilität gefragt, Reife, und dass wir das Thema im Ganzen sehen und nicht nur den isolierten Zusammenhang, den wir meinen, verstanden zu haben. Wir kommen von unterschiedlichen Ausgangspunkten, aber wir sind immer noch unterwegs.
Und hoffentlich miteinander.