Urchristlicher Pluralismus und Krickelkrackel am Muttertagsmorgen
Predigt am 12. Mai 2013 zu Römer 14,1-11 (Predigtreihe Römerbrief 41)
1 Nehmt den an, der im Glauben schwach ist, ohne mit ihm über verschiedene Auffassungen zu streiten. 2 Der eine glaubt, alles essen zu dürfen, der Schwache aber isst kein Fleisch. 3 Wer Fleisch isst, verachte den nicht, der es nicht isst; wer kein Fleisch isst, richte den nicht, der es isst. Denn Gott hat ihn angenommen. 4 Wie kannst du den Diener eines anderen richten? Sein Herr entscheidet, ob er steht oder fällt. Er wird aber stehen; denn der Herr bewirkt, dass er steht.
5 Der eine bevorzugt bestimmte Tage, der andere macht keinen Unterschied zwischen den Tagen. Jeder soll aber von seiner Auffassung überzeugt sein. 6 Wer einen bestimmten Tag bevorzugt, tut es zur Ehre des Herrn. Wer Fleisch isst, tut es zur Ehre des Herrn; denn er dankt Gott dabei. Wer kein Fleisch isst, unterlässt es zur Ehre des Herrn, und auch er dankt Gott.
7 Keiner von uns lebt sich selber und keiner stirbt sich selber: 8 Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn. 9 Denn Christus ist gestorben und lebendig geworden, um Herr zu sein über Tote und Lebende.
10 Wie kannst also du deinen Bruder richten? Und du, wie kannst du deinen Bruder verachten? Wir werden doch alle vor dem Richterstuhl Gottes stehen. 11 Denn es heißt in der Schrift: So wahr ich lebe, spricht der Herr, vor mir wird jedes Knie sich beugen und jede Zunge wird Gott preisen.
Ich möchte das Denkmuster, um das es hier geht, illustrieren mit einer Muttertags-Geschichte. Zwei Geschwister hatten ihrer Mutter zum Muttertag ein Bild gemalt. Essen machen sollten sie eher nicht, die Mutter hatte Angst, dass sie sonst hinterher wieder die ganze Küche aufräumen müsste, aber pädagogisch, wie Mütter ja sind, hatte sie ihnen eine, wie sie glaubte, harmlosere Alternative aufgezeigt: »malt mir doch ein schönes Bild!« Gesagt, getan, beide holten ihre Stifte raus und kamen am Sonntag morgen um halb sieben, um die Mutter zu wecken und ihr ihre Werke zu präsentieren. Nachdem die sich gründlich die Augen gerieben hatte und sich langsam daran erinnerte, dass sie sich ja jetzt freuen musste, lobte sie die Werke der Kinder ausgiebig.
Aber das war dem älteren Kind gar nicht recht. Es schaute sich das Blatt des Nesthäkchens an und sagte: das ist doch bloß wieder Krickelkrackel. Naja, es ist nun mal so, mit vier Jahren kriegen nur besonders begabte Kinder mehr hin als Krickelkrackel. Das große Kind war schon beinahe 10, und da sieht ein schönes Bild natürlich schon ganz anders aus.
Pädagogik morgens um 7
Damit stand die Mutter zu dieser frühen Stunde vor der Aufgabe, dem älteren Kind auf pädagogisch wertvolle Weise nahezubringen, dass entscheidend nicht der künstlerische Wert der Bilder sei, sondern die menschliche Geste, die sich in diesen Bildern ausdrückte, also, wenn man es sehr hochtrabend sagen will: die Liebe, die in dem Bild drinsteckte. Aber sie musste es so sagen, dass auch das ältere Kind das Gefühl hatte, dass es mit seinem kreativen Potential wahrgenommen worden war. Und die Mutter musste gleichzeitig das ältere Kind an den größeren Überblick erinnern, den es mit seinen fast 10 Jahren hatte: mit 10 kann man ja nicht nur ein Bild umfassender komponieren, mit 10 ist man schon so weit, dass man die verschiedenen Entwicklungsstufen von Menschen wenigstens anfänglich begreifen und einordnen kann.
Und, um die Aufgabe vollends kompliziert zu machen, die Mutter musste das so sagen, dass nicht das jüngere Kind wiederum sich zurückgesetzt und abgewertet fühlte. Ja, der Muttertag ist besonders für Mütter keine einfache Angelegenheit.
Aber schon längst, bevor es den Muttertag gab, stand Paulus vor einer ganz ähnlichen Aufgabe. Er hatte es nicht mit Kindern unterschiedlichen Alters zu tun, sondern mit Christen, die in ihrer christlichen Reife unterschiedlich weit waren.
Pädagogik im antiken Rom
Da gab es in Rom einmal die Christen, die sich noch lebhaft an ihre heidnische Vergangenheit erinnern konnten. Vor noch gar nicht langer Zeit hatten sie in den römischen Tempeln Tiere geopfert und anschließend das Fleisch bei einem heiligen Essen verzehrt. Jetzt waren sie Christen und sagten: nie wieder! Damit will ich nichts mehr zu tun haben! Vielleicht erinnerten sie sich auch, dass es in ihrer Bibel, also im Alten Testament, viele Vorschriften gab, was man essen durfte und was nicht. Bloß wie konnten sie sich sicher sein, dass das Fleisch auf dem Markt auch wirklich kein Fleisch aus Götzentempeln war? Und war es auch richtig geschlachtet und behandelt worden? Wir wissen ja heute auch nicht wirklich, ob das Fleisch, das wir essen, Rind oder Pferd ist.
Also sagten sie: wir essen gar kein Fleisch, das ist das Sicherste: wir werden Vegetarier. Das war natürlich anders begründet als heute. Damals lebten die Menschen sehr eng mit Tieren zusammen, und erlebten es täglich, dass Tiere geschlachtet wurden – kaum jemand fand das grausam oder problematisch. Damals ging es nur um die Frage, ob das Fleisch womöglich – ich sage es mal so – religiös aufgeladen war.
Und dann geht jemand über den Markt, kauft sich seinen Salat und seine Möhren und sieht auf einmal, wie eine liebe Schwester aus der Gemeinde ein paar dicke Koteletts kauft, und das auch noch bei einem Schlachter, von dem bekannt ist, dass er fast all sein Fleisch aus den Tempeln bezieht. Und je nach Temperament stürzt er auf sie zu und schreit: »Stopp! Das ist Götzenfleisch!« oder er nimmt sie irgendwann nach dem Gottesdienst diskret beiseite und weist sie unter vier Augen eindringlich darauf hin, dass sie da dunklen Mächten Tür und Tor öffnet.
Die Christin ihrerseits ist peinlich berührt. Sie hat aus der Bibel und von Jesus gelernt, dass die ganze Welt von Gott gut geschaffen ist. Wir dürfen alles essen. Sie hat ihre heidnische Vergangenheit längst hinter sich gelassen und lacht nur noch über den Aberglauben mit dem Götzenfleisch. Sie weiß auch, dass Jesus selbst gesagt hat: »Nicht das, was in den Menschen hineingeht macht ihn unrein, sondern das, was aus ihm herauskommt: böse Gedanken, Worte und Taten.« Vielleicht hat sie sogar früher mal in Korinth gelebt und erinnert sich daran, dass Paulus gesagt hat: ihr dürft alles essen, Gott hat es gut geschaffen. Hühnerfabriken waren damals noch nicht das Problem.
Und nun stehen sich die beiden gegenüber wie die beiden Kinder um halb sieben morgens am Muttertag. Der eine sagt: du bist eine laue Christin, die sich auf Kompromisse mit der Welt einlässt. Und die andere sagt: du hast noch gar nicht verstanden, welche Freiheit wir durch Jesus haben. Und ganz außer Sicht gerät, dass sie es doch beide aus Liebe zu Gott getan haben, wie die Kinder aus Liebe zu ihrer Mutter den Krickelkrackel und das tolle Bild gemalt haben. Und Paulus steht dazwischen wie die Mutter zwischen ihren Kindern und muss ihnen das erklären.
Paulus wusste, was richtig war …
In der Sachfrage ist Paulus dabei ganz klar: natürlich darf man alles essen. Natürlich ist diese Welt von Gott geschaffen, und er hat nichts schlecht oder eklig gemacht, so dass man sich davon fernhalten müsste. Keine Menschen, keine Tiere sind so, dass man mit ihnen nichts zu tun haben darf. Die Welt ist enorm beschädigt, weil Menschen ihrer Berufung nicht treu geblieben sind. Aber es ist immer noch Gottes Welt, und es war ja gerade Jesus, der sich in der Kraft des Geiste den dunklen Zonen zugewandt hat, um sie zu heilen. Also: natürlich kann man alles essen, Fisch, Fleisch, Gemüse, egal, welche Voodoo – Zeremonien da irgendwelche heidnischen Komiker mit gemacht haben (noch einmal: wenn bei uns heute Menschen sagen “ich esse kein Fleisch aus Tierfabriken, weil ich die nicht unterstützen will”, das ist ein ganz anderer Zusammenhang).
Paulus gehört also nicht zu denen, die sagen: man kann so etwas ja nicht wissen, es kann richtig sein, aber auch das Gegenteil kann richtig sein, ich will mir kein Urteil erlauben. Paulus wusste, was richtig war. Und er sagt nicht: diejenigen, die lieber kein Fleisch essen oder ängstlich bemüht sind, bestimmte Feiertage genau einzuhalten, die haben sich eben für diese Art von Glauben entschieden, und wir haben kein Recht zu denken, dass das falsch ist. Paulus nennt diese Art von Glauben einen schwachen Glauben. Einen Glauben, der noch ganz am Anfang ist. Jesus hat gerade angefangen, in die Gedanken von Menschen hereinzukommen, und sie sind noch sehr in einer religiösen Denkwelt gefangen.
Es ist witzig, wie sich die Perspektive da inzwischen gedreht hat. Wir nennen solche Christen heute manchmal »strenggläubig« und dabei klingt mit: das sind Christen, denen es besonders ernst ist mit ihrem Glauben. Im Vergleich zu vielen Menschen, die sich überhaupt nicht um Gott kümmern, stimmt das ja sogar. Aber Paulus würde sagen: viele davon sind eigentlich die im Glauben Schwachen. Man merkt an ihrer Strenge, wie unsicher sie noch sind. Wir müssen sie uns nicht als Vorbilder für besonders ernsthaftes Christsein nehmen.
… aber darum geht es hier nicht
Aber das ist nicht der Punkt. Auch wenn Paulus eine klare Meinung hat: es geht ihm nicht ums Rechthaben. Es geht ihm darum, dass ganz unterschiedliche Christen in einer Gemeinde miteinander auskommen sollen. Christen, die mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen starten, eine bunte Truppe aus allen möglichen Kulturen, mit höchst unterschiedlicher Bildung, auf ganz verschiedenen Stationen ihrer Lebensreise, aus allen sozialen Schichten und alle zusammen in einer Gemeinde. Es kann schon schwer sein, am Muttertagsmorgen zwischen dem großen und dem kleinen Kind in einer Familie zu vermitteln. Aber so eine bunt zusammen gewürfelte Gemeinde zusammen zu halten, das ist eine noch ganz andere Herausforderung.
Und das kann nur funktionieren, wenn alle aufhören, sich dauernd Gedanken über die anderen zu machen. Wenn wir ehrlich sind, hat doch jeder mit sich selbst schon genug zu tun. Vielleicht ist der Andere zu lax, vielleicht ist er noch nicht sehr reif, aber erstmal reicht es völlig, zu wissen: Gott hat ihn angenommen. Merkwürdigerweise hat er in diesem merkwürdigen Menschen den Glauben an Jesus geweckt, und es ist Gottes Sache, wie er den jetzt voranbringen will. Er gehört dir nicht, Paulus sagt: »es ist der Knecht eines anderen«. Du bist nicht der, der ihn beurteilen muss. Wenn er aus Liebe zu Jesus nur Gemüse isst, dann ist das ein Zeichen seiner Liebe zu Jesus und damit in Ordnung, so wie das Krickelkrackel des Vierjährigen ein Zeichen seiner Liebe zur Mutter ist. Und eines Tages wird er ja vielleicht zurückschauen und sagen: jetzt kann ich meine Liebe zu Jesus und meinen Glauben besser ausdrücken als damals am Anfang.
Jeder soll in seiner Meinung sicher sein
Aber dahin kommt er in der Regel nicht dadurch, dass man sich mit ihm streitet oder ihn zu überzeugen versucht. Jesus muss einen Weg mit ihm gehen, und wir andern können das unter Umständen ein bisschen unterstützen, aber wir können nichts erzwingen. Jeder soll seinen Weg mit voller Überzeugung gehen, nach bestem Wissen und Gewissen, und auf diesem Weg wird er lernen. Er wird reifer und klarer werden, wenn er nur seinen Glauben und seine Liebe zu Jesus fest hält. Vielleicht kommt er irgendwann in eine Sackgasse und merkt, dass er sich verlaufen hat, vielleicht ist er irgendwann sogar so weise geworden, dass er andere um Rat fragt. Und die Gemeinde ist ein Schutzraum, wo Menschen ein bisschen behütet werden, bis sie selbst reifer geworden sind, und eines Tages können sie dann vielleicht auch anderen so einen Schutzraum geben, wo sie ihre ersten schwankenden Schritte im Glauben machen können, ohne all zu viel Schaden bei sich selbst und anderen anzurichten.
Damit so eine bunte Gemeinde funktioniert, ist es wichtig, dass alle wissen: der andere gehört seinem Herrn, Jesus, nicht mir. Man kann immer nur sehr begrenzt ahnen, was dieser Herr jetzt mit ihm vor hat. Deshalb gibt es nur sehr selten prinzipielle Lösungen oder klare Entscheidungen. Das meiste ist Durchwursteln, Improvisieren, pragmatische Zwischenlösungen schaffen. Die Engländer nennen so etwas: Katzen hüten (herding cats – mit Dank an Arne Bachmann, auf dessen Blog ich das Stichwort gerade zur rechten Zeit las; auch sein Papier zu Miroslav Volf hat mich bei dieser Predigt gedanklich begleitet.), also eine Herde von sehr eigenwilligen und unterschiedlichen Persönlichkeiten zusammenhalten. Wie Gott dieses ganze Durcheinander jemals auflösen wird, ist nicht unser Problem, sondern Gottes Sache.
Aber Gott ist da erstaunlicherweise zuversichtlich. Paulus endet mit einem Zitat aus Jesaja: »So wahr ich lebe, spricht der Herr, vor mir wird jedes Knie sich beugen und jede Zunge wird Gott preisen.« Gott ist sich ganz sicher, dass er diese Welt wieder zurückholen wird, dass ihn nichts von seinem Plan abbringen wird. Wie er das schaffen will, ist sein Geheimnis, aber schließlich ist er ja Gott.
Gottes Zuversicht ermöglicht uns das Durchwursteln
Es ist gut zu wissen, dass Gott sich ausdrücklich festgelegt hat, dass er seinen Job hinkriegen wird. So können wir uns auf unseren Job konzentrieren, und ihm das andere überlassen. Das ist beinahe schon ein kontemplativer Blick auf Menschen, mit Zuversicht und ohne dieses Gefühl: du musst ihn jetzt zu irgendetwas bringen. Und das ist die Basis, auf der eine quietschbunte Gemeinde funktionieren kann. Auch die Mutter am Muttertagsmorgen wird die Probleme zwischen ihren Kindern nicht grundsätzlich aus der Welt schaffen, sie kann sie nur managen und hoffen, dass die beiden es schaffen, ohne allzu große Verletzungen erwachsen und vernünftig zu werden.
So, eigentlich würde jetzt die Predigt erst anfangen: wie nämlich solche bunten Gemeinden es schaffen können, in der total pluralistischen, multikulturellen Welt, in der wir leben, einen Geist auszustrahlen, der es Menschen ermöglicht, in Gelassenheit miteinander umzugehen, sich ihre gegenseitigen Schwachstellen nicht unter die Nase zu reiben und am Ende sich über die zu freuen, die ganz anders sind. Wie man mit Reife und menschlicher Stärke Menschen zusammen hält und nicht mit Druck und Manipulation. Aber wenn ich jetzt auch noch darüber spreche, dann kriege ich wahrscheinlich ernsthafte Probleme.
Also denkt weiter drüber nach, allein, oder, besser, mit anderen zusammen: wie kann in der Gemeinde eine Kultur wachsen, wo der Andere, der Fremde angenommen wird, eine Kultur, die auch all den anderen helfen kann, die noch nichts wissen von der Liebe zu Gott und dem Glauben?