Der große positive Weg
Predigt am 10. März 2013 zu Römer 12,14-21 (Predigtreihe Römerbrief 38)
14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht. 15 Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden. 16 Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug.
17 Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. 18 Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. 19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«
20 Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). 21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.
Als am 11. September 2001 Terroristen das World Trade Center in New York zerstörten, gab der Pastor einer großen amerikanischen Kirchengemeinde für seine Leute die Losung aus: »Fordert jetzt kein Blut, sondern spendet Blut!«. Und er lag damit genau in der Linie dessen, was Paulus hier schreibt. Wer Vergeltung übt oder fordert, der leistet dem Bösen Vorschub. Er wird subtil unterwandert von den Gewalttätern, die er eigentlich bekämpfen will. Die wesentlich bessere Antwort ist es, freiwillig etwas zu geben, zu schenken und sich so im Guten zu verankern statt im Bösen.
Wir wissen alle, dass die USA unter Präsident Bush sich an diesen Rat nicht gehalten haben, sie haben sich stattdessen in Vergeltungskriege gestürzt, sie haben gefoltert und den niedrigsten Instinkten von Menschen Raum gegeben, sie haben es in Kauf genommen, dass viele Menschen sterben mussten, die mit Terroristen gar nichts zu tun hatten. Und das alles hat die Gewalt in der Welt enorm vermehrt.
Wer die Bibel kennt, muss sich darüber nicht wundern. Paulus sagt hier ja nur mit anderen Worten das, was Jesus schon in der Bergpredigt gesagt hat. »Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.« Dieser letzte Satz aus unserem Abschnitt ist das Zentrum der christlichen Sicht auf das Böse in der Welt. Ja, tatsächlich, es gibt richtig Böses in der Welt. Menschen, die ohne Rücksicht auf andere ihren Vorteil verfolgen. Systeme, die für ihre Selbsterhaltung bedenkenlos Menschen opfern. Menschen, die in zerstörerischen Gedanken so verwickelt sind, dass sie dauernd Unheil stiften. Das ist keine Einbildung. Im Großen und im Kleinen terrorisieren Menschen andere und richten Schlimmes an, manche mit böser Absicht, die meisten mit offiziell guten oder doch respektablen Absichten, und nur sehr verborgen spürt man noch, welche bösen Motive sich da auf verschlungenen Wegen ins Leben vorarbeiten.
Und man erkennt das Böse auch nicht daran, dass seine Vertreter schief gucken, Glatzen oder lange Bärte haben oder dreckige Klamotten tragen. Das Böse kann auftreten im Gewand der Menschenfreundlichkeit, als wissenschaftliches Gutachten, als scheinbar unausweichlicher Sachzwang, als demokratisch beschlossenes Gesetz genauso wie als Willkür eines Fanatikers.
Deswegen ist das Erste, was man über das Böse wissen muss: ja, es ist Realität. Du musst dich nicht wundern, wenn Menschen andern das Leben schwer machen, es manchmal zur Hölle machen und nicht selten anderen das Leben nehmen. Ja, so ist die Welt. Und wenn du gedacht hast: wir sind doch eigentlich alle ganz nett, nur manchmal ein bisschen ungeduldig oder schlecht gelaunt – dann wirst du irgendwann Erfahrungen machen, die dich verwirrt und bestürzt zurücklassen. Es gibt tatsächlich eine brutale, rücksichtslose Kraft in der Welt, die um sich herum tote, vergiftete Wüsten schafft – zwischen Menschen genauso wie in der äußeren Realität. Sie begegnet uns in vielen Gestalten, im Großen wie im Kleinen. Es geht um die Frage, wer die Welt gestaltet – diese Macht des Todes oder Gott. Und wenn du glaubst, du seist dieser Macht noch nicht begegnet, dann hast du nicht gut hingeguckt.
Denn das Zweite, was man über das Böse wissen muss, ist: es ist fast nie eindeutig erkennbar. Es hat genügend Menschen gegeben, die auch die Nazi-KZs gut oder wenigstens richtig fanden. Es ist gerade ein Zeichen des Bösen, dass es Menschen in seinen Bann zieht, so dass sie es nicht als schlimm oder böse empfinden. Es kann als richtig und sinnvoll dargestellt werden, Millionen Menschen in Unsicherheit und Armut zu stürzen – wir tun es ja nicht gern, sagen die Akteure, aber es ist nun einmal ökonomisch unausweichlich.
Als Jesus dem Versucher begegnete, da forderte der ihn nicht auf: überfall eine Bank, oder eine Frau! Um darin das Böse zu übersehen, muss man ihm schon ganz schön verfallen sein. Stattdessen forderte er ihn auf: mach Steine zu Brot! Profiliere dich als Tempel-Springer! Nimm die Weltherrschaft aus meiner Hand entgegen! All das klingt vielleicht irgendwie merkwürdig, aber nicht unbedingt böse. Selbst bei der Weltherrschaft könnte man ja sagen: es kommt darauf an, was man damit macht – man könnte sie doch auch zum Guten verwenden!
Deswegen fängt Paulus damit an, dass er sagt: lass dich nicht vom Bösen überwinden! Pass auf, dass du nicht erst unter seinen Einfluss gerätst und dann zu seinem Werkzeug wirst! Man sollte das Böse nicht unterschätzen. Es kann gerade die unterwandern, die ihm unbedingt entgegentreten wollen. Deswegen warnt Paulus vor allen Arten von Rache. Der berechtigte Wunsch, dass Unrecht nicht ungesühnt bleibt, kann uns schnell dazu bringen, selbst dem Bösen zu verfallen. Wir werden so wie unser Feind.
Manchmal muss man tatsächlich deutlich Nein sagen, man muss gegen Neonazis demonstrieren und keine Sachen kaufen, an denen die pure Ausbeutung von Menschen und Tieren klebt. Man muss Menschen entgegen treten, die mit in ihrer Umgebung Unheil stiften. Man muss sich vor Menschen stellen, die ungerecht behandelt werden.
Das alles ist wichtig, aber auf Dauer kann keiner eine reine Abwehrhaltung durchhalten. Wer nur gegen etwas ist, der fixiert sich damit auf seinen Gegner. Er gibt ihm viel zu viel Raum, er tut ihm zu viel Ehre an. Wenn du dem Bösen wirksam entgegentreten willst, musst du im Guten verankert sein, in Gottes guter, segensreicher Realität. Das Böse ist in ernsthafter Gefahr, wenn Menschen Gutes tun, nicht schon dann, wenn sie gegen das Böse sind.
Deswegen ist der zweite und entscheidende Satz von Paulus: Überwinde das Böse mit Gutem! Um ein Bild zu zeichnen, wie das aussieht, dafür wendet er seine ganze Fantasie auf.
Und er zeichnet Christen als Menschen, die dafür bekannt sind, dass sie segnen, dass sie Gottes Güte in ihre Umgebung ausstrahlen. Er zeichnet Christen als Menschen, die sich auf die Höhen und Tiefen der Menschen einlassen, denen sie begegnen. »Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden.« Gott kennt uns in unseren guten und schlechten Tagen und fühlt mit uns mit. Und so sollen wir es mit anderen machen. Richtig segnen kann nur, wer Menschen kennt in ihrer Freude und in ihrem Kampf. Wer mit ihnen verbunden bleibt auch auf allen problematischen Wegen, die sie gehen. Der Feind, den wir versorgen sollen, wenn er Hunger und Durst hat, ist sozusagen nur der äußerste Spezialfall. Wenn du gewöhnt bist, die Menschen auf ihr Leid, ihre Ängste und die verschlungenen Wege ihres Herzen hin anzusehen und mit ihnen mitzuleiden, dann hast du dir das irgendwann so angewöhnt, dass du auch an denen, die dir Schaden zufügen, die Ängste und Verwirrungen sehen kannst, ihre Unsicherheiten und Mängel, die sie dazu bringen, anderen Lebenskraft zu stehlen, weil sie selbst zu wenig haben oder zu haben glauben.
Und wenn Christen auch da ihre segnende und schenkende Grundhaltung beibehalten, dann können zwei sehr verschiedene Dinge passieren: entweder zieht das den Feinden irgendwann den Boden der Feindschaft unter den Füßen weg, so dass sie von der Liebe und Freundlichkeit überwunden werden. Oder es macht die Bahn frei dafür, dass sie in die Hände Gottes fallen und er ihrem Treiben ein Ende macht. Gott sorgt dafür, dass Menschen nicht endlos weiter Schaden anrichten können. Die Welt ist so eingerichtet, dass das Böse irgendwann seine eigenen Anhänger auffrisst.
Aber es ist nicht unsere Sache, dazu beizutragen. Wir sollen uns Gott in vielem als Vorbild nehmen, aber seinen Zorn hat er sich selbst vorbehalten. Der ist für uns eine Nummer zu groß. Im Gegenteil, wenn wir Gott da ins Handwerk pfuschen, dann machen wir es ihm viel schwerer, dem Bösen entgegenzutreten. Gott möchte nämlich nicht mit unseren oft ungeschickten Vergeltungsaktionen verwechselt werden. Gott möchte möglichst nicht mit Folter, Kommandoaktionen und Drohnen in Verbindung gebracht werden. Aber auch möglichst nicht mit Vorwürfen, Anklagen und Rechthabenwollen. Die inneren Zusammenhänge von Gottes Zorn und Vergeltung sind nicht für uns. Stattdessen ist es unsere Sache, Gottes Liebe und Anteilnahme zu verkörpern. Christen sollen die neue Schöpfung widerspiegeln, die in Jesus vom Himmel auf die Erde gekommen ist. Die Gemeinde ist deshalb nicht die Heilsanstalt, die ihre Mitglieder mit irdischen und himmlischen Segnungen jeder Art versorgt, sondern sie ist der Vortrupp des Lebens, das bei Jesus schon längst begonnen ist.
Im Evangelium haben wir vorhin das Geheimnis dieses Lebens gehört: das Weizenkorn muss in die Erde fallen und sterben. Nur so kann es neues Leben geben. Das ist das Muster, das in Jesu Kreuz sichtbar wird, und das ist das Muster, das sich zeigt, wenn Christen bereit sind, sich auf das Leben anderer einzulassen und mit ihnen die Ratlosigkeiten und Schönheiten des normalen Lebens anzunehmen. Nur wer schenkt und gibt, bleibt nicht allein. Durch dieses Muster wird Gott unter Menschen deutlich.
Die christliche Gemeinde ist am Anfang unter Menschen zu Hause gewesen, in den Häusern und am Esstisch normaler Menschen. Und das war keine provisorische Anfangsphase, sondern da gehört sie hin. Wir erleben im Augenblick, wie Druck und Hektik und Sorgen sich immer weiter hinein fressen in das ganz normale Leben. Wie aus immer mehr Lebensbereichen Geschäftsmodelle werden, die Straßen löcheriger und die Institutionen unübersichtlicher, komplizierter und weniger freundlich im Umgang mit ihren Menschen.
In dieser Umgebung ist die Gemeinde der Ort, von dem aus andere Signale ausgehen: Anteilnahme, kein Interesse am Rechthaben, dafür Hoffnung und anfassbare Ideen wie das Leben auch im schwierigen Umfeld gut und groß sein kann. Die feste Weigerung, sich zum Feind des anderen machen zu lassen.