Eine Welt voller Mächte

Predigt im Besonderen Gottesdienst am 24. Februar 2013 mit Epheser 6,10-13

 

Vor der Predigt war eine Theaterszene nach dem Roman »Früchte des Zorns« des amerikanischen Schriftstellers John Steinbeck zu sehen. Steinbeck beschreibt das Elend der Farmer im mittleren Westen der USA während der Umwelt- und Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren. Viele Menschen wurden damals von Haus und Hof vertrieben, weil sie ihre Schulden nicht mehr bedienen konnten. In der Szene soll der Fahrer einer Planierraupe das Haus eines verschuldeten Farmers einreißen. Der Farmer bedroht ihn mit der Waffe, aber der Fahrer erwidert, dass er dabei sei, den Falschen zu erschießen. Auch sein Chef oder der Bankdirektor sei nicht das richtige Ziel dafür. Der Befehl dazu sei „von irgendwo aus dem Osten“ gekommen.

Wen soll man erschießen, wenn ganze Landstriche veröden und die kleinen Farmer reihenweise ihr Land verlieren? Wer ist schuld, wenn Wirtschaftskrisen ganze Nationen ins Elend stürzen oder Umweltkatastrophen weite Landstriche verwüsten? Wer wird schuld sein, wenn der Meeresspiegel steigt und ganze Küstenländer versinken? Es ist gar nicht so einfach, jemanden zu finden, den man bestrafen könnte. »Vielleicht ist das Ganze überhaupt nicht von Menschen gemacht« sagt der Mann auf der Planierraupe. Das ist gar nicht weit weg davon, wenn Paulus sagt: wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, wir streiten nicht gegen Menschen, sondern gegen die unsichtbaren Mächte, die größer sind als Menschen.

Wir sehen jetzt einen kurzen Videoclip, der das Ganze noch einmal auf eine künstlerisch verdichtete Weise darstellt: wie ganz normale Menschen zu Rädchen im Getriebe werden, und am Ende stehen Monster da, Mächte, die keiner mehr kontrollieren kann (Werbeeinblendung ggf. wegklicken):

Am Anfang sind es ganz normale Menschen, mit all den kleinen Dingen, die Menschen so alltäglich tun. Aber dann zeigt sie das Video immer mehr als Teile einer großen Maschinerie, die sich über die ganze Welt ausbreitet und überall Ableger pflanzt. Spätestens seit der Finanzkrise wissen wir, dass die Pleite von Häuslebauern irgendwo in den USA die Wirtschaft der ganzen Welt erschüttern kann, weil alles mit allem zusammenhängt. Ein großes System, das der Einzelne längst nicht mehr überschaut. Es verwüstet die Erde, es verwüstet Menschen, aber es scheint, als ob es alternativlos wäre. Menschen haben es aufgebaut, aber es entzieht sich der Kontrolle durch Menschen.

Auf der anderen Seite lebt es von unserer Zustimmung und unserem Mitmachen. Es würde nicht mehr funktionieren, wenn Menschen ihm nicht ihre Kraft, ihre Loyalität und ihre Kreativität geben würden. Es ist ein Glaubenssystem, das nur so lange funktioniert, wie Menschen glauben, dass es für sie sorgen wird und dass es keine Alternative dazu gibt.

In der Zeit, als das Neue Testament geschrieben wurde, war das römische Imperium solch eine Macht. Es dominierte die ganze bekannte Welt bis auf ein paar barbarische Völker am Rande. Das Netz seiner Verwaltungsstruktur reichte bis in die entlegensten Provinzen. Es organisierte die erste globalisierte Welt der Geschichte. Und auch damals war der Einzelne ein kleines Rädchen in einem unüberschaubaren System.

Als Jesus vor seiner Hinrichtung mit dem Gouverneur Pilatus diskutierte, da sagte er ihm: du hast nur deshalb Macht über mich, weil sie dir von oben gegeben wird. Und mit »oben« ist nicht Gott gemeint, sondern der römische Kaiser. Denn damals hatte das System noch eine erkennbare Spitze, auch wenn die Kaiser selbst in seinen Zwängen drinsteckten. Jesus sagt: auch du bist nur ein Rädchen im Getriebe, ein ausführendes Organ, und du bist noch nicht mal der Hauptschuldige an meinem Tod.

Wenn man erst einmal Augen dafür bekommen hat, dann merkt man, wie die Bibel sich dauernd mit der Machtfrage auseinander setzt. Überall begegnen wir den Spuren der Macht: den Amtsinhabern, Ämtern, Strukturen, Institutionen, Ideologien, Ritualen, Regeln und spirituellen Einflüssen, auf die Macht sich gründet und durch die sie ausgeübt wird. Die Sprache und Wirklichkeit der Macht zieht sich durch das Neue Testament, weil Macht eine der grundlegenden Weisen ist, wie unsere Welt organisiert ist und funktioniert.

Das ist erst einmal nichts Schlechtes: Gott hat die Welt so geschaffen, dass wir nicht als Einzelne unkoordiniert durch die Gegend laufen, sondern dass wir miteinander verbunden sind und in Kooperation miteinander Dinge tun, für die ein Einzelner zu schwach und zu klein wäre. Aber schon beim Turm zu Babel zeigte es sich, dass die menschliche Gesellschaft ebenso aus ihrer Bestimmung herausgefallen ist wie es die Einzelnen sind. Auch die großen Kooperationen verhärten sich gegen Gott. Und im Verlauf der Bibel nimmt dann die Macht dieser Organisationen immer mehr zu. Im Buch Daniel schließlich werden erstmals die Weltreiche ausdrücklich thematisiert, bis hin zum Römischen Reich, und sie werden dargestellt als Monster, als schreckliche Tiere, die dem Ozean entsteigen und um sich herum Zerstörung und Schrecken verbreiten. So gesehen sind die Riesen-Roboter aus dem Video vorhin in Wirklichkeit Aktualisierungen biblischer Bilder.

Und das Alte Testament endet im Grunde mit der Frage: wie kann man noch Volk Gottes sein in einer Welt, die von Monstern beherrscht ist? Darauf hat Jesus und seine Bewegung eine Antwort gegeben.

Und diese Antwort ist: entzieht den Mächten die Loyalität. Glaubt nicht mehr an sie. Vertraut auf Gott und seine Güte, aber nicht auf die angebliche Güte und Weisheit der Mächte. Die zerstören und saugen eure Lebenskraft auf. Gott dagegen beschenkt euch mit Leben und Segen.

Das klingt erst einmal ziemlich defensiv. Tut es denn den Mächten so weh, wenn ich kleiner Mensch mich verweigere? Die Antwort: Ja, das tut es. Wenn ich wirklich Nein sage, mit Entschiedenheit und Klarheit, mit der Bereitschaft zur Konsequenz, das tut den Mächten sehr weh. Sie leben davon, dass alle irgendwie glauben, man käme nicht an ihnen vorbei. Sie haben Angst vor realen Alternativen. Man kann über sie murren, das macht ihnen nichts. Man kann sie bekämpfen wie der Farmer, der den Bankdirektor erschießen wollte – darüber lachen sie. Man kann eine ironische Distanz zu ihnen aufbauen, deutlich machen, dass man weiß, was gespielt wird – das lässt sie kalt, so lange du weiter funktionierst. Aber sie fürchten Menschen, die sie nicht unter Kontrolle haben, die nicht an sie glauben, die etwas Besseres haben.

Das kann man sehen an der Versuchungsgeschichte Jesu: wie ihm der Versucher am Ende sogar die Weltherrschaft anbietet, nur um ihn beherrschen und kontrollieren zu können. Aber Jesus widersteht ihm. Und es ist kein Zufall, dass er von da an seine erstaunliche Macht ausübt. Der Mensch, der wirklich frei ist vom Beherrscher dieser Welt, der bringt das ganze System ins Wanken.

Ok, wir sind nicht Jesus, und wir sind nicht so unabhängig und frei wie er, aber etwas von ihm lebt auch in uns, und das reicht auch schon, um den Mächten Sorge zu bereiten. Wenn eine Alternative da ist, dann müssen sie mehr Rücksicht auf die Menschen nehmen. Sie können sie nicht mehr ganz hemmungslos ausbeuten, weil sie sonst noch mehr Loyalität verlieren würden.

Die Loyalität von Menschen – darum geht es in allem. Keiner herrscht hier auf der Welt ohne die Zustimmung der Beherrschten. Manchmal wird die mit Gewalt und Terror erzwungen, aber fast immer ist auch ein Stück echter Zustimmung dabei. Würden alle einen Tyrannen wirklich verabscheuen, dann könnte er sich nicht halten.

Deshalb haben alle Machtsysteme auch eine spirituelle Seite. Es gibt Rituale und Hymnen wie in einer Religion. Es gibt Glaubenssätze, die immer wiederholt werden. Es gibt Meetings und Dienstbesprechungen, bei denen man einfach dabei sein muss, auch wenn sie total langweilig sind. Mächte funktionieren nicht ohne solche religiösen, »geistlichen« Elemente, in denen Menschen ihre Loyalität zum Ausdruck bringen. Deswegen galten die ersten Christen als Atheisten, weil sie den Symbolen des Imperiums keine Beachtung schenkten – sie gingen nicht in die Tempel und opferten nicht, sie gingen nicht in den Zirkus zu den blutigen Spielen, mit denen das Imperium seine Bürger auf Gewalt trimmte. So führten sie anderen, aber vor allem sich selbst immer wieder vor Augen, dass sie damit nichts zu tun hatten. Und es gab schwierige Diskussionen um die Frage, was man noch mitmachen konnte und was nicht.

Das ist so ein bisschen vergleichbar mit den Fragen heute: kaufe ich Kleidung, die möglicherweise so günstig ist, weil sie in Indien oder anderswo von Kindern hergestellt worden ist? Welche Umweltschäden verursacht die Produktion meines Essens? Möchte ich mein Geld einer Bank anvertrauen, die mit Lebensmitteln spekuliert?

Die Bank wird nicht so schnell pleite gehen, wenn sie meine Spargroschen nicht mehr bekommt, die Lebensmittelfabriken werden weiter ihre unappetitlichen Geschäfte machen, aber viel wichtiger ist es, dass ich selbst vor mir deutlich mache: mit solchen Geschäften will ich nichts zu tun haben! Zuerst geht es immer um die Frage, wem meine Loyalität gilt, wem ich selbst vertraue. Aber ich werde nicht allein bleiben; Jesus hat nicht Einzelne berufen, sondern aus lauter Einzelnen eine Bewegung ins Leben gerufen. Wie groß die wird, das können wir ihm überlassen. Auch die ersten Christen haben als sehr kleine Gemeinschaft angefangen. Aber es ist immer sinnvoll, dazu zu gehören, egal, ob es wenige sind oder viele. Klar, auf ein paar Hundert Leute muss eine große Macht nicht Rücksicht nehmen, aber ein paar Tausend oder ein paar Millionen gar, das spürt sie schon!

Aber die Kernfrage ist immer die nach der Loyalität, danach, wem man vertraut. Da wird der entscheidende Kampf ausgefochten. Deshalb lesen wir bei Paulus (Epheser 6,10-13) folgendes:

10 Seid stark in dem Herrn und in der Macht seiner Stärke. 11 Zieht an die Waffenrüstung Gottes, damit ihr bestehen könnt gegen die listigen Anschläge des Teufels. 12 Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel. 13 Deshalb ergreift die Waffenrüstung Gottes, damit ihr an dem bösen Tag Widerstand leisten und alles überwinden und das Feld behalten könnt.

Der Kampf geht darum, wem Menschen vertrauen, worauf sie ihre Hoffnung setzen. Bei uns allen versuchen die Mächte, ein Bein in die Tür zu kriegen, und nicht selten auch zwei. Sie sind da ziemlich erfinderisch, und wir haben viele Schwachstellen. Um das zu verhindern, muss man fest mit Gott verbunden sein. Sonst gehst du den Monstern in die Falle. Wir kämpfen nicht gegen Menschen. Es hat keinen Zweck, Menschen zu erschießen oder Bomben zu werfen. Das trifft die falschen. Menschen sollen ja gerade befreit werden aus dem System, das ihnen ihre Kraft aussaugt. Es ist doch kein Wunder, dass wir alle immer wieder so erschöpft und gehetzt sind. Die Mächte leben von unserer Lebenskraft, auf unsere Kosten. Und sie geben so wenig wie möglich zurück. Sie drücken die Löhne und richten Billigjobs ein, damit für sie mehr übrig bleibt. Sie halten Menschen in Angst und Schrecken und bieten sich selbst an als Lösung für die Probleme, die sie verursacht haben.

Dagegen vertrauen wir in der Nachfolge Jesu auf Gott. Gott steht engagiert und mit seiner ganzen Energie an unserer Seite. Mit ihm gemeinsam gibt es ganz neue Möglichkeiten sich der Fremdbestimmung zu widersetzen. Wir müssen nicht einsam scheitern, sondern wir sind berufen, gemeinsam mit anderen zu einer Bewegung der Hoffnung zu gehören, die aus der Resignation herausführt.

Wenn wir uns noch einmal erinnern an die Evangelienlesung (Markus 4,23-41) vorhin: Jesus schläft mitten im Sturm. Alle Mächte der Zerstörung sind um ihn herum entfesselt. Aber er macht sich keine Sorgen, sondern schläft, tief und seelenruhig. Inmitten des Chaos ruht er in Gott. Und deshalb ist er es auch, der am Ende das Chaos zur Ruhe bringt.

Trotzdem wollte er nicht allein bleiben. Er hatte Jünger dabei, er hat eine Bewegung ins Leben gerufen, und wir sollen dazugehören. Damit den Mächten der Zerstörung ihre Grenzen gezeigt werden.

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