Gott kriegt es hin – trotz allem
Predigt am 4. November 2012 zu Römer 11,25-36 (Predigtreihe Römerbrief 34)
25 Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; 26 und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. 27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.«
28 Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. 29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. 30 Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, 31 so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. 32 Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.
33 O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! 34 Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? (Jesaja 40,13) 35 Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste«? (Hiob 41,3) 36 Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.
Unter Geschwistern ist es nicht immer einfach. Die können sich ganz schön in die Wolle kriegen. Wenn die Kinder im Vorkonfirmandenunterricht oder beim Kinder-Bibel-Morgen Zettel aufschreiben mit den Dingen, um die sie Gott bitten, dann steht da öfter mal so etwas wie »mach, dass mein Bruder mich nicht immer ärgert« oder so etwas. Zum Glück wird das meist anders, wenn wir älter werden. Wenn Geschwister erwachsen geworden sind, dann merken sie meistens auch, wieviel sie gemeinsam haben und wie sehr sie sich unterstützen können. Aber wenn man jüngeren Kindern sagt: pass auf, du und deine Schwester, ihr werdet noch einmal froh sein, dass ihr euch habt! dann gucken sie einen ungläubig an, als ob man behauptet hätte, im nächsten Winter würde grüner Schnee fallen. Viel zu heftig erleben sie die Unterschiede zu den anderen Geschwistern, zwischen Jungen und Mädchen, zwischen älteren und jüngeren, zwischen den Stars und denen, die es schwerer haben. Und noch schlimmer ist es, wenn einer das Gefühl hat, dass die Eltern den anderen vorziehen. Erst später fallen ihnen dann irgendwann auch die Gemeinsamkeiten auf.
Noch schwieriger kann es werden, wenn ein Kind erst später dazukommt, weil es als Pflegekind oder als Adoptivkind Familienmitglied wird und oder weil aus der ursprünglichen Familie eine Patchworkfamilie wird.
Von so einem schwierigen Verhältnis unter Geschwistern redet Paulus in diesem Abschnitt des Römerbriefes. Aber es geht nicht um eine Kleinfamilie, sondern es geht um die verschiedenen Teile der Familie Gottes, vor allem um Juden und Heiden. Die Juden, die schon immer dazugehört haben, seit Abraham, und die Heidenchristen, also die Menschen aus den anderen Völkern, die erst durch Jesus in die Familie Gottes aufgenommen worden sind.
Und da gibt es schon in der Zeit von Paulus heftige Konflikte. Die einen sagen: die Neuen benehmen sich nicht richtig! Denen fehlt der Stallgeruch! Und die Neuen sagen: glaubt nur nicht, dass wir Familienmitglieder zweiter Wahl sind. Wir kennen Jesus, und deshalb verstehen wir Gott besser als ihr Traditionalisten.
So ist das, wenn Gott seine Welt zurückholen will, die sich von ihm abgewandt hat, und er muss dazu mit Menschen arbeiten, die sich auch immer wieder von Gott abwenden, sich streiten und rumzicken. Gott bleibt trotzdem der Erde treu, er bleibt den Menschen treu, aber er kann sich nicht mit zuverlässigen Verbündeten dem Problem widmen, sondern sein Volk ist selbst ein Teil des Problems.
Natürlich könnte Gott einmal kräftig dazwischen hauen, so wie Eltern das manchmal tun, wenn sie genervt sind von der ewigen Streiterei im Kinderzimmer. Aber Gott will ja seine Familie nicht beschädigen. Und deshalb macht er es anders.
Gott setzt genau den Streit und den Zank in seinem Volk so ein, dass er seinen Zwecken dient. Als die Christen in Jerusalem von ihren nichtchristlichen Mitjuden verfolgt wurden und fliehen mussten, da sorgte Gott dafür, dass sie auf der Flucht überall Gemeinden unter den Heiden gründeten. Und während sich das ursprüngliche Gottesvolk für Jesus verschließt, entsteht Zeit, in der Gott abwartet und die Christenheit wächst. Wenn Geschwister miteinander rivalisieren, dann wird jedes zu Höchstleistungen angespornt. Ja, Polarisierungen sind eigentlich nicht gut, es wäre besser, sie würden zusammenarbeiten, aber zur Not kann Gott seine Leute auch durch ihre Rivalität voran bringen. Konkurrenz hebt das Geschäft, auch wenn sich keiner über Konkurrenz freut.
Wenn man sich mit dieser Brille mal die Kirchengeschichte anschaut, dann kommt man zu erstaunlichen Perspektiven. Es hat ja im Volk Gottes nicht nur die Spaltung zwischen Judenchristen und Heidenchristen gegeben. Später haben sich die Ost- und die Westkirche voneinander getrennt, die Evangelischen haben sich von den Katholiken getrennt, und heute gibt es eine riesige Bandbreite von allen möglichen christlichen Konfessionen und Denominationen, die keiner mehr wirklich übersehen kann. Normalerweise denkt man: können die nicht zusammenarbeiten?
Aber vielleicht macht es ja auch einen Sinn, dass die Christenheit so eine bunte Truppe ist. Die einen erreichen die Konservativen, die anderen die Chaoten, die einen sind erfolgreicher in Afrika, Asien und Südamerika, die anderen konzentrieren sich auf Europa und Amerika. Die Orthodoxen kultivieren die Liturgie und die Liberalen kümmern sich um Kunst und Kultur und soziales Engagement. Ich möchte nicht wissen, wie viele Missionsanstrengungen tatsächlich von der Angst motiviert waren, dass die Konkurrenz die Nase vorn haben könnte. Aber sei’s drum, Hauptsache, das Evangelium wird verbreitet! Natürlich wäre es besser, man würde zusammenarbeiten, aber zur Not bewirkt auch die Rivalität einiges.
Paulus sieht noch einen weiteren positiven Effekt: In dieser ganzen verkorksten Lage behält keiner saubere Hände. Alle Fraktionen im Gottesvolk haben irgendwann großen Murks gemacht und haben ihre Leichen im Keller. Und so kann keiner sagen: wir haben alles richtig gemacht. Keiner kann heute noch sagen: wir haben das einzig wahre Evangelium! Und wer versucht, sich selbst als unfehlbar darzustellen, der macht sich im Grunde nur noch lächerlich. Alle werden früher oder später merken, dass wir ausnahmslos auf Gottes Gnade angewiesen sind, der uns auch in unseren Irrtümern nicht allein lässt und uns in seiner Güte meist vor den schlimmsten Konsequenzen unserer Entscheidungen bewahrt.
Wenn sich diese bescheidene Haltung herumspricht, dann kann die ganze Vielfalt der Strömungen im Volk Gottes zum Reichtum werden. Die Christenheit wäre sehr viel ärmer, wenn wir nur eine einheitliche Kirche hätten. Und die Vielfalt ist nur ein Problem, wenn daraus Feindschaft entsteht. Das ist übrigens in der ganzen Schöpfung so: Gott liebt die Vielfalt, er schuf Männer und Frauen, er schuf Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, er schuf die Wüsten und die Eisberge, und er freut sich an den Unterschieden. Und so sollten auch wir die Unterschiede willkommen heißen und die Freude teilen, die entsteht, wenn ursprünglich Fremde zusammenfinden.
In der Evangelienlesung vorhin (Lukas 7,2-10) sind wir einem Beispiel dafür begegnet, wie das aussehen kann. In Kapernaum lebt ein Zenturio, ein nichtjüdischer Offizier, ein Grieche oder Römer wohl, und er ist fasziniert von der Art zu leben und zu denken, die ihm in Israel begegnet. Nicht eine Vielzahl von Göttern, die untereinander rivalisieren und konkurrieren und sich die Frauen ausspannen, sondern ein unsichtbarer Gott, der die ganze Welt aus Liebe geschaffen hat und seiner Schöpfung treu bleibt. Und der Offizier akzeptiert demütig, dass er anscheinend nicht zu diesem Volk dazugehören kann. Er protestiert nicht, er sagt nicht: das ist ungerecht!, sondern er baut in Kapernaum eine Synagoge, er stiftet ihnen ein Gotteshaus, in das er selbst nie hineingehen darf. Das ist echt großzügig. Der Zenturio hat sicher nicht damit gerechnet, dass er dafür etwas zurückbekommt. Aber Gott hat es nicht vergessen, und so sorgt er dafür, dass der Diener des Mannes durch Jesus geheilt wird. So arbeiten Menschen in ihrer großen Unterschiedlichkeit zusammen, über alle Trennungslinien hinweg schätzen sie sich und helfen sich, und allen geht es gut damit.
Und wie es hier im Kleinen war, so werden sich all die Gegensätze in der Welt eines Tages zu einer großen Symphonie zusammenfinden. Diese Einheit der Gegensätze ist ja schon Realität, nämlich in Jesus. An ihm sieht man, wie diese Vielfalt wirklich zum Reichtum wird und nicht Anlass zum Streit bleibt. Bei ihm war das Realität. Und am Ende dieses großen Prozesses wird die Menschheit im Namen Jesu zusammenkommen, sie werden an einem Tisch beieinander sitzen und ein Fest feiern mit fetten Speisen und alten Weinen, und alle Schmerzen aus der Zeit der Trennung werden vergangen sein. Und dann wird auch das skeptische Israel überzeugt sein. So wie Paulus am Ende von Kapitel 8 die endgültige Erlösung der ganzen Schöpfung voraussieht, so hier am Ende der Kapitel 9-11 die endgültige Versöhnung des Gottesvolkes.
Wenn Paulus diese große Sicht auf Gottes Weg durch die Welt betrachtet, dann bleibt er sozusagen stehen und schaut einfach. Es ist wie wenn man stundenlang durch den Wald gewandert ist, und auf einmal biegt man um die Ecke und die ganze Landschaft liegt vor einem. Die grünen Hügel, das weite Meer, die gewaltigen Berge, was auch immer. Und du stehst da und schaust und staunst und glaubst nicht, dass es so etwas Schönes geben kann.
So steht Paulus vor diesem Panorama der Geschichte Gottes mit seiner Welt, und er schaut und staunt und lobt Gott. Wer wäre auf die Idee gekommen, dass Gott gerade die Auflehnung der Menschheit nutzt, um seine Welt wieder zurückzuholen und zu heilen? Welcher Mensch hätte diesen Plan ersinnen können? Wer von uns hätte die Geduld, sich auf diesen langen Weg einzulassen und ihn mitzugehen? Wer hätte ein Anrecht auf diesen Beweis der Treue Gottes? Wer außer Gott hätte sich eine Schöpfung ausdenken können, die trotz aller Misshandlung durch die Menschen zu ihrer ursprünglichen Güte zurückfindet?
Im nächsten Kapitel wird sich Paulus den ganz alltäglichen Mühen der Ebene und des Alltags zuwenden, dem Zusammenleben unterschiedlicher Menschen mit all ihren Macken in der Gemeinde. Aber er behält diese große Sicht in Erinnerung. Bei allem was wir in der Sache Jesu tun, wenn wir Streithähne beruhigen und Traurige begleiten, wenn wir Aufgeblasenen vorsichtig Luft rauslassen und Depressiven Lebenskraft schenken, im Beten und Reden und Lernen, es geht immer um diese große Perspektive: Gottes langer Weg durch seine Welt, auf dem er uns dabei haben will. In all diesen Höhen und Tiefen des Alltags behalten wir das große Bild in Erinnerung, das großartige Panorama, die große Geschichte der Welt, die trotzdem ohne dich und mich nicht vollständig wäre. Gott hat sie sich ausgedacht, wir stehen staunend und voll Ehrfurcht davor und danken Gott, dass wir dabei sein dürfen.