Mehrere auf den ersten Blick widersprüchliche Gedanken nebeneinander stehen lassen zu können, ist der Kern einer kontemplativen Haltung gegenüber der Wirklichkeit. Es auszuhalten, dass die Dinge nicht einfach sind, dass manchmal das eine Prinzip richtig ist und manchmal das scheinbar gegensätzliche – das beansprucht unser Gehirn ziemlich stark. Vielleicht aber auch nur deshalb, weil wir gewohnt sind, uns in allen Gegensätzen schnell auf eine Seite zu schlagen?
Konservativ gegen liberal/progressiv, politisch oder fromm, Gottes Liebe oder Gottes Zorn, rational oder intuitiv, Bayern oder Dortmund – man könnte eine endlose Reihe von Gegensätzen nennen, mit denen wir uns in der Welt orientieren. Wer wollte behaupten, dass sie keinen Anhalt an der Realität haben? Das Problem beginnt, wenn unser Denken diese Spannung nicht aushält und sie möglichst bald auflösen möchte. Dann schlagen wir uns schnell auf eine Seite des Widerspruchs. Das gibt zwar eine gewisse Erleichterung – die „kognitive Dissonanz“ wird reduziert. Aber gleichzeitig wird der Realitätsgehalt unseres Denkens geringer. Denn in der Regel ist in beiden Seiten des sich aufdrängenden Widerspruchs mindestens ein Körnchen Realität und meistens auch ein Körnchen Wahrheit versteckt. Und wenn wir uns schnell auf eine Seite schlagen, dann kämpfen wir auch immer gegen einen Teil der Realität. Dieser Kampf ist verlustreich – und: wir können ihn nicht gewinnen.
Das Ganze kommt daher, dass Gott die Welt in einer großen Komplexität geschaffen hat. Das Geflecht des Lebens ist vielschichtiger als unser Denken. Wir übersehen immer nur einen Teil davon. Wenn wir uns dann den erstbesten Zipfel der Realität greifen und uns daran festhalten, ignorieren wir den Rest. Das macht die Orientierung leichter, aber nicht besser. Eine kontemplative Grundhaltung übt uns darin ein, zunächst einmal beides anzuschauen, zu betrachten, zu untersuchen, mit dem Widerspruch zu leben. Abzuwarten, was daraus wird. In der Regel entdecken wir dann eine Perspektive, die über den zuerst wahrgenommenen Widerspruch hinausführt.
Somit hat ein kontemplativer Weltzugang viel zu tun mit Vertrauen in den Schöpfer. Trauen wir Gott zu, dass er zusammenbringen kann, was aus unserer Sicht eine widersprüchliche Mischung aus Größe, Schmerz, Verrat, Begeisterung, Rationalität, Lust, Langeweile, Leid …. ist? Kontemplation ist (jedenfalls in christlicher Perspektive) nicht zuerst eine Reihe von mentalen Übungen, sondern eine Grundhaltung: ein Ja zur Welt Gottes in ihrer ganzen (aus unserer Sicht) Widersprüchlichkeit. Im Vertrauen darauf, dass die Widersprüche in Bewegung sind, und unsere Möglichkeiten, sie zu verstehen, ebenfalls.
Die Bibel ist immer eine der besten Gelegenheiten gewesen, um sich in kontemplativem Denken zu üben. Ihre ganze Buntheit aufzunehmen, sie nicht auf ein schnelles Prinzip zu reduzieren, neugierig zu bleiben und trotzdem, wenn es dran ist, entschieden zu handeln – das ist eine wunderbare Übung in Kontemplation. Dass viele auch hier lieber den einfachen Weg der Komplexitätsreduktion wählen – leider ist das so.
Übrigens, auch beim Widerspruch „kontemplativ oder aktivistisch“ ist es eine Sackgasse, sich für eine Seite zu entscheiden. Natürlich kann man nicht nur kontemplativ leben. Mit all unserem Tun (und, nicht zu vergessen: auch mit unserem Lassen) entscheiden wir uns immer schon für eine Weltsicht. Das geht nicht anders. Wir müssen handeln, obwohl wir die Sache noch nicht zu Ende gedacht haben. Obwohl wir die Bibel noch nicht endgültig verstanden haben. Obwohl wir die Kirchliche Dogmatik (oder das „Kapital“ oder Philosoph X oder oder oder) noch nicht ganz durchgelesen haben. Für manchen ein schrecklicher Gedanke. Aber auch das ist einer der Widersprüche, denen wir uns am besten in kontemplativem Geist (und das heißt auch: mit Humor) aussetzen sollten.
Danke für diesen sehr klaren und schönen Artikel… werde ich gleich mal auf twitter empfehlen… Richard Rohr gründete damals ja das Zentrum für „Aktion und Kontemplation“ – das Leben in Spannungsfeldern anstatt in dualistischen Eindeutigkeiten, darum geht es und das kommt dem jüdischen Denken sehr viel näher – und ist die Chance der Postmoderne. Also: Danke…
(eine Spiritualität der Spannungsfelder habe ich übrigens in meinem aktuellen Buch entworfen…;-). Aber das ist nur am Rande bemerkt…
Danke für den Text. Ich habe ihn als sehr hilfreich empfunden, für das, was wir hier zu tun versuchen